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Das Leben als Feinschmeckerin der Nation

Ruth Reichls Foto hing in jeder Restaurantküche in New York. Die ehemalige Restaurantkritikerin der "New York Times" und heutige Chefin der amerikanischen Zeitschrift "Gourmet" entschied über das Schicksal von New Yorks Stätten der Haute Cuisine. Traditionalisten hatten ihre Schwierigkeiten mit ihr, fing sie doch damit an, auch japanische, mexikanische oder spanische Restaurants zu besuchen.

Von Sacha Verna | 23.02.2007
    " What made me last lose my appetite ... uhh ... I can't remember losing my appetite. I really can't. Nothing makes me lose my appetite."

    Die Dame, die sich nicht daran erinnern kann, wann ihr zum letzten Mal etwas den Appetit verdorben hat, heißt Ruth Reichl. Unersättlichkeit gehört gewissermaßen zu den Grundvoraussetzungen ihres Berufes. Ruth Reichl ist heute Chefredakteurin der amerikanischen Zeitschrift "Gourmet” und war davor sechs Jahre lang die Restaurantkritikerin der New York Times.

    Wer nun denkt, ja und?, muss über die Bedeutung dieser Position aufgeklärt werden: In den Vereinigten Staaten, dem Land der Reichen und Mächtigen, hat der Restaurantkritiker der New York Times in der Hand, was eben diese Reichen und Mächtigen im Mund haben. Ob Staatssekretär, Oskar-Preisträger oder Wirtschaftshai, ob Bankett, tête-à-tête oder Tapas-Treffen: Die Prominenz hebt keine Gabel, ohne zuvor den Rat des Chef-Gourmets der New York Times eingeholt zu haben.

    "Der vermutlich mächtigste Restaurantkritiker, der je den Erdboden betreten hat, war Craig Claiborne, der erste Kritiker der New York Times, der in den fünfziger Jahren anfing, als noch niemand sonst Restaurants besprach. Was immer er schrieb, galt den Leuten als Evangelium."

    Die fünziger Jahre liegen zwar ein halbes Jahrhundert zurück. Doch die Einfluss der New York Times-Meisterkosters auf die Gemütslage der Alain Ducasses dieser Welt und darauf, wer, wann, wo und warum sechshundert Dollar für Sushi und Sashimi bezahlt, ist immer noch beträchtlich. In "Falscher Hase - Als Spionin bei den Spitzenköchen” beschreibt Ruth Reichl, wie es sich lebte als Richterin über sautierte Gänseleber mit weißen Pfirsichen und über gekühltes Hummer-Consommé, über Service, Sommeillers und Petits Fours. Und sie schildert, was das Bewusstsein in ihr auslöste, dass drei anstatt vier Sterne in einer ihrer wöchentlichen Kritiken selbst für scheinbar unantastbare Institutionen des Feinschmeckertums das Aus bedeuten konnten:

    "Für mich als Autorin war diese Art von Macht aufregend. Jede Menge Leute wollten lesen, was ich schrieb. Für jemanden, der ständig sein eigenes Urteil hinterfragt, war es jedoch beängstigend. Solche Macht bringt einen dazu, sich zu mäßigen. Man besucht ein Restaurant wieder und wieder, um so fair wie nur irgend möglich zu sein. Einerseits fair dem Restaurateur gegenüber, dem ich, wenn ich ein bisschen nett bin, durchaus einen Stern mehr geben könnte, andererseits fair gegenüber den Lesern, die vielleicht für ein einziges feines Essen pro Jahr sparen und aufgrund meiner Empfehlung ein bestimmtes Restaurant auswählen. Ich muss unbedingt die Wahrheit sagen."

    Um die Wahrheit zu sagen oder besser, zu schreiben, waren allerdings raffinierte Täuschungsmanöver nötig. Denn schon bevor Ruth Reichl ihre Stelle bei der New York Times antrat, hing ihr Foto in jeder Restaurantküche New Yorks. Bis zu fünfhundert Dollar waren Restaurantbesitzer jenem Angestellten zu zahlen bereit, der die Kritikerin rechtzeitig unter den Gästen erkannte.

    So wurde Ruth Reichl bei einem Besuch in einem der besten und teuersten Restaurants der Stadt von Köchen und Kellnern wie eine Göttin umtanzt, während der König von Spanien an der Bar darauf wartete, endlich einen Tisch zugewiesen zu bekommen. Seriöse Restaurantkritik konnte Ruth Reichl auf diese Weise natürlich nicht betreiben.

    Also kreierte sie mit Hilfe einer professionellen Maskenbildnerin eine Reihe von Alter Egos. Als sie in dem Etablissement, in dem sie noch wenige Tage zuvor den König von Spanien vom roten Teppich gedrängt hatte, als kleinbürgerliche Molly Hollis auftrat, begegnete man ihr mit schnöder Nichtbeachtung. Dieser Fehler kostete das Restaurant einen Stern und den Besitzer beinahe seine Gesundheit:

    "e got apoplectic every time my name was mentioned."

    Noch Jahre später, so Ruth Reichl, trieb besagten Besitzer allein die Nennung ihres Namens an den Rand eines Schlaganfalls.

    Ruth Reichl machte sich nicht nur bei gewissen Restaurantbesitzern unbeliebt. Auch Traditionalisten, in deren Augen einzig und allein die französische Küche Anspruch auf Superlative hatte, waren empört darüber, dass über das Schicksal von New Yorks Stätten der Haute Cuisine nun eine Frau entschied, die sich marinierte Seeigel mit ebensolcher Wonne im Mund zergehen lässt wie Entenschwimmhäute in Austernsauce.

    Unter Ruth Reichl wurde die Gastrokritik der New York Times international. Heute wäre die betreffende Rubrik ohne die regelmäßige Berücksichtigung von japanischen, mexikanischen oder spanischen Restaurants nicht mehr denkbar. Ist Ruth Reichl stolz auf diese diese Leistung?

    " Ich würde gerne sagen, ich hätte diese Revolution gestartet, aber ich glaube, es war unvermeidlich, dass die New York Times schließlich realisieren würde, dass sich der amerikanische Restaurantgast verändert hatte. Er hatte die Welt bereist und interessierte sich für allen möglichen ethnischen Küchen und schaute nicht mehr bloss nach Frankreich."

    "Falscher Hase” illustriert aufs appetitlichste die manchmal durchaus unappetitlichen Facetten eines Lebens als Feinschmecker der Nation in der Feinschmecker-Metropole der Welt. Die siebzehn Rezepte, die das Buch darüber hinaus enthält, bilden sozusagen das Sahnehäubchen auf dem Eis.

    Ruth Reichl: Falscher Hase. Als Spionin bei den Spitzenköchen. Aus dem Amerikanischen von Theda Krohm-Linke. Limes Verlag, München 2007. 380 Seiten. 18 Euro. 31.90 Franken.