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Das Werk des Übertreibungskünstlers

Nur wenige Tage nach Thomas Bernhards Tod, den er seinen Prosalehrer nannte, schied der Schweizer Germanist und Schriftsteller Herman Burger am 28. Februar 1989 im Alter von 46 Jahren durch eine Überdosis Schlaftabletten aus dem Leben. Burgers Wortkunststücke leuchten nach wie vor.

Von Katrin Hillgruber | 25.02.2009
    Die Stimme von Hermann Burger. "Kinstliche Mutter nix guter Titel, verrät alles." Das antwortete der rumänische Philosoph E.M. Cioran bei einem Treffen im Tessin auf Hermann Burgers Frage, wie er den Titel seines neuen Romans finde. Dann fragte er Cioran, wie der Titel überhaupt zu verstehen sei - ihm selbst sei das nämlich in dreijähriger Schreibarbeit noch nicht klargeworden. "Doch gutes Titel" habe der Philosoph eingelenkt, notiert Hermann Burger in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen über "Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben".

    "Die künstliche Mutter", das kühne, verführerische und vertrackte Meisterwerk aus dem Jahr 1982 ist mittlerweile leider vergriffen. Der Romantitel läst an künstliche Befruchtung, aber auch an Goethes Trauerspiel "Die natürliche Tochter" denken. In einem Gespräch mit dem Publizisten Klaus Colberg erklärte Hermann Burger im Herbst `82:

    "Die künstliche Mutter" ist eine Chiffre für eine Therapie. Diese Therapie wird im Bergesinneren, und zwar im Gotthard, durchgeführt von einer gewissen Auer-Aplanalp. Sie geht von der Erkenntnis aus, dass die natürliche Mutterliebe sehr oft psychosomatische Folgen haben kann, nämlich dann, wenn die Mutter bei der ersten Geburt sehr unsicher ist, wenn sie ihre Probleme auf das Kind überträgt, etcetera. Das ist so die Grundproblematik.
    Ich glaube, man hat einfach gemerkt, dass eine kaptative, also besitzergreifende Mutterliebe das Gegenteil dessen ist, was der Mensch braucht, um sich seinen eigenen Lebensweg zu finden."

    Natürlich, die Mütter sind an allem schuld. Hermann Burger kam 1942 in Aarau als Erstgeborener eines Versicherungsinspektors zur Welt. Stets behauptete er, seine Mutter und Schwester hätten sich gegen ihn verbündet. Mit 25 erfuhr er zum ersten Mal in aller Härte, was er im berühmten FAZ-Fragebogen als das größte Unglück bezeichnete: "Eine moderne Zeitkrankheit, die Depression". Das Alter Ego des habilitierten Germanisten Burger in der "Künstlichen Mutter" heißt Wolfram Schöllkopf. In einem "Brief an die Mutter" macht er diese für ein - wie es heißt - "gefrorenes Meer an entbehrten Gutenachtküssen" verantwortlich. Schöllkopf erleidet in der Alma Mater oder "Schreckensmutter" der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich einen tragikomischen psychosomatischen Zusammenbruch. Das lässt den Dozenten für Germanistik und Glaziologie, also Gletscherkunde, stante pede in die Tiefen des Gotthardtunnels flüchten.

    Dort, im Mutterschoß des Helvetismus, im Fort Réduit der wehrhaften Alpenrepublik, erhofft sich Schöllkopf durch eine erotische Tiefentherapie, durchgeführt von den Gotthardschwestern, die Erlösung von seiner sogenannten Unterleibsmigräne. Strahlende germanische Lieblingsschwester ist die blonde Dagmar Dom, eine heilende Helena des Nordens oder auch "Diseuse vom Gazellenkamp", wie es heißt. Unschwer lässt sich eine bekannte deutsche Nachrichtensprecherin in dieser Lichtgestalt erkennen.

    Für Hermann Burger waren Künstler nicht weniger als "Therapeuten der Wirklichkeit", wie er im FAZ-Fragebogen schrieb. Er erklärte:

    ""Ich drücke es so aus, dass ich einen Helden, der buchstäblich an seiner Männlichkeit leidet, an einer schmerzhaften Impotenz, diesen Verlauf von Norden nach Süden nimmt, also quasi eine kleine italienische Reise der Rekonvaleszenz, und diese Therapie erlebt, das heißt zum Teil selber erfindet. Und für den Leser ist dann wahrscheinlich die Erfahrung, dass er zum Arzt kommt, und der Arzt schubladisiert seinen Fall in eine schon bekannte Richtung. Und die Forderung würde eigentlich heißen: Jeder Mensch muss sein Krankheitsbild selber durchschauen lernen und dann selber zur Heilung so viel wie möglich beitragen."

    Ihm selbst half diese Erkenntnis tragischerweise nicht. Skeptisch blickt der Schriftsteller durch seine überdimensionale eckige Brille, als er im Heilstollen von Bad Gastein den gestreiften Bademantel ablegt. Die Fotografie aus einem Filmessay über "Die künstliche Mutter" ist in der Ausstellung "Hermann Burger: Nachlass zu Todeszeiten" im Zürcher Strauhofmuseum zu sehen. Der Autor und praktizierende Zauberer über die Verschränkung von Phantasie und Wirklichkeit:

    "Primär war es einfach die simple Idee, das Prinzip der Wärme im Bergesinneren, und das ist ja ein Bild für den Uterus, - wieder zurück in die Mutter Erde - also diesen Gehirnmenschen quasi durch terrestrische Strahlen heilen zu lassen. Und dann im Verlauf der Romanarbeit wurde das angereichert unter anderem mit den Erfahrungen, die ich als Kurgast in Bad Gastein gemacht habe, wo man ja wirklich in einem Bettenzug in diesen radonhaltigen und heißen Berg hineinfährt. Also meine Methode ist eigentlich immer die: Am Anfang ist nackt ein Einfall da, und dann wird das Terrain erobert, dass dieser Einfall zum Tragen kommt - fast eine journalistische Methode."

    Die wütende Lebensfeier des Wolfram Schöllkopf alias Armando findet in Lugano bei einer manischen Ferrarifahrt ihr tödliches Ende, so wie der Tod als Drohung und Verlockung das gesamte Werk des Übertreibungskünstlers grundiert. "Ferrari humanum est" lautet treffend ein Kapitel der Burger-Schau in Zürich. Hermann Burgers Stammgarage, die seine beiden Boliden wartete, steuerte einen strahlend roten Kotflügel für die Ausstellung bei. Angeblich hatte der Autor vom S. Fischer-Verlag vergeblich einen Ferrari als Dienstwagen verlangt. Dass er mit seinen letzten beiden Büchern, den "Brenner"-Romanen, unter lautem Getöse zu Suhrkamp wechselte, ist ebenfalls Teil jener grellen Selbstdarstellung, deren Opfer er am Schluss unter anderem auch wurde.

    Stellt "Die künstliche Mutter" Hermann Burgers Genesungsroman dar, so handelt es sich bei "Schilten" von 1976 um einen dezidierten Todesroman. Der "Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz" - so der Untertitel - machte ihn als einen der originellsten und wortmächtigsten Autoren deutscher Zunge bekannt. Marcel Reich-Ranicki, der ihm 1985 den Ingeborg-Bachmann-Preis für den Prosatext "Die Wasserfallfinsternis von Badgastein" überreichte, war von der Brillanz des Schweizer Egozentrikers zutiefst überzeugt. "Schilten" immerhin wurde jetzt zu Burgers 20. Todestag bei Nagel&Kimche neu aufgelegt. In einem abgelegenen Aargauer Tal schreibt der vereinsamte Scholar von Schilten seinen "Schulbericht". Darin teilt er der desinteressierten Inspektorenkonferenz mit, wie der Schulbetrieb vom benachbarten Friedhof usurpiert wurde. Nicht umsonst stammt das Motto des Romans von Franz Kafka: "Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit." Aus Schiltener Heimatkunde wird Todeskunde, der Appell verhallt ungehört. Hermann Burger:

    "Es ist, wenn man es genau analysiert, ja so, dass meine Protagonisten Unterlegene, im Leben unterlegene Figuren sind, die sich dann durch diese Sprachgewalt quasi rächen an den Instanzen, an die sie sich richten. Und Sprachgewalt heißt, dass man wie ein Vulkan aus verschiedenen Etymologien schöpft, Stein- und Wortgeröll emporschleudert und mit diesem Wortgeröll den anderen zudeckt. Da muss ich immer aufpassen, dass ich nicht auch den Leser zudecke, dass der Leser zwischen diesen Sätzen noch atmen kann."

    "Drei hohe Cs" hätten sein Leben bestimmt, schreibt der passionierte Raucher in seinem letzten Roman "Brunsleben" aus der unvollendeten "Brenner"-Tetralogie: das Cimiterische, das Cigarristische und das Circensische. Für die Erzählung "Diabelli" ging er bei namhaften Magiern in die Lehre. Anders als sein Landsmann Robert Walser, der seinen Helden Jakob von Gunten wünschen lässt, er möge eine "reizende, kugelrunde Null" werden, war Burger stets auf Bewunderung und Applaus bedacht. Er sagte:

    "Der Diabelli, der Magier, ist ein Künstler. Er ist bereits so virtuos auf dem Höhepunkt seiner Karriere, dass er dieses Virtuosengefühl nicht mehr erträgt. Er sagt: Ich ertrage den Blick hinter die eigenen Kulissen nicht mehr. Und deshalb tritt er zurück, und zwar Knall auf Fall. Er schreibt seinem Gönner, dem Baron Kesselring, dass er die Einladung, an dessen 60. Geburtstag aufzutreten und etwas vorzuzaubern, nicht annehmen könne und sofort zurücktrete."

    Hermann Burgers eigenem Rücktritt - von der Kunst und vom Leben - gingen zahlreiche Ankündigungen voraus, zuletzt sein verständnislos aufgenommener "Tractatus logico suizidalis. Über die Selbsttötung". "Habe illudiert und illudiert und dabei mein Selbst verjuxt", heißt es in "Diabelli". Seit 1982, dem Erscheinungsjahr der "Künstlichen Mutter", wohnte Burger im Pächterhaus von Schloss Brunegg, zunächst mit seiner Familie, dann allein.

    Nur wenige Tage nach Thomas Bernhards Tod, den er seinen "Prosalehrer" nannte, schied er am 28. Februar 1989 im Alter von 46 Jahren durch eine Überdosis Schlaftabletten aus dem Leben. Hermann Burgers Wortkunststücke leuchten nach wie vor hell wie Magnesiumblitze.