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Den Lesern verpflichtet

Seit fünf Jahren erscheint die unabhängige "Moi Raion" in St. Petersburg. Inzwischen ist sie die meist gelesene Zeitung der Stadt und bietet der Staatsmacht mutig die Stirn. Aus St. Petersburg berichtet Mareike Aden.

02.05.2008
    Am Platz der Tapferkeit, dem Ploschad Mujestwa, ist vom Glanz der Zarenstadt St. Petersburg nichts zu spüren. Trostlos sieht es aus hier. Zwischen grau-braunen Hochhausklötzen liegt der Billig-Supermarkt Pitjorotchka. Wer hier einkaufen geht, der sorgt sicht nicht um die Pressefreiheit, sondern um die wöchentlich steigenden Lebensmittelpreise im Land. Auf dem Parkplatz zwischen zerbeulten Ladas steht der blaue Wagen von Oleg, voll beladen mit Zeitungen. Seit vier Jahren arbeitet Oleg als Auslieferer für die kostenlose Wochenzeitung "Moi Raion".

    "All diese Zeitung muss ich jetzt hier im Geschäft abgegeben - also an die Arbeit."

    Im Supermarkteingang zieht Oleg den orangefarbenen 'Moi Raion'-Ständer aus der Ecke und sortiert die Zeitungen ein. Sofort sammeln sich ein paar Menschen um ihn.

    "Guten Tag Sie warten schon - hier haben sie eine Zeitung","

    sagt er zu einem Rentnerpaar.

    ""Wir wollen Neuigkeiten aus unserem Bezirk und der Stadt erfahren,"

    sagt diese Frau.

    "Sonst haben wir keine Zeitung im Abo, wir bekommen nur die kostenlose Regierungszeitung 'Rossija'. Aber 'Moi Raion' lieben wir, wir sind Stammleser und holen die Zeitung jede Woche."

    Diana Katschalowa ist die Chefredakteurin der unabhängigen Stadtzeitung "Moi Raion", die seit fünf Jahren mit verschiedenen Bezirksausgaben in Petersburg erscheint. Mittlerweile ist sie die meist gelesene Zeitung der Stadt. Seit vor zwei Jahren das norwegische Verlagshaus Schibstedt 67 Prozent der Zeitungsanteile gekauft hat, gibt es "Moi Raion" auch in Moskau. Während in den Supermärkten von Petersburg die aktuelle Ausgabe verteilt wird, plant Diana Katschalowa mit ihren 25 Redakteuren die nächste Woche.

    "Probleme des öffentlichen Schulsystems, der drohende Verkehrskollaps in der Innenstadt und die steigende Zahl von Skinhead-Überfällen - das sind einige der Themen heute. Was nach westlichen Maßstäben nach alltäglichem Lokaljournalismus klingt, ist in Russland außergewöhnlich", sagt Diana Katschalowa, die früher als politische Journalistin gearbeitet hat.

    "Leider denken viele russische Journalisten immer daran, was Vorgesetzte und die Obrigkeit zu ihren Berichten sagen werden. Und weil so viele Medien abhängig sind vom Staat oder der Stadtregierung, wollen die Journalisten vermeiden, dass sich wichtige Personen ärgern oder beschweren. Die Staatsmacht sitzt ihnen im Kopf. Bei uns dagegen ist die wichtigste Frage: Was denken unsere Leser?"

    Deshalb schreckt die Zeitung auch vor kritischen Berichten nicht zurück.

    Im Archiv sucht Diana Katschalowa ihre Lieblingsausgabe vom Oktober 2007, als sich Putin auf dem Parteitag von "Einiges Russland" zum Spitzenkandidaten für die Duma-Wahlen krönen ließ.

    ""Wir haben genauso über den Putin-Parteitag berichtet, wie es die Zeitung Prawda, das frühere Sprachrohr der kommunistischen Partei, damals bei Breschnew-Parteitagen gemacht hat. Das Layout, die Schrifttypen und der Seitenaufbau waren identisch, und wir hatten die gleichen Rubriken mit Zitaten über die Erfolge und Vorzüge des Parteiführers. Wir wollten zeigen, wie groß die Parallelen sind. Unsere Leser haben sich prächtig amüsiert."

    Die Petersburger Stadtregierung fand jene Seite allerdings nicht so amüsant und verbat der Partei "Einiges Russland" Wahlwerbung in "Moi Raion" zu schalten, obwohl sie das wie alle anderen Parteien geplant hatte. Finanziell ein großer Verlust für die Zeitung, die sich aus Werbeeinnahmen finanziert.

    "Aber sie können natürlich auch Feuerinspektionen machen oder das Gesundheitsamt senden. Wenn die Regierung oder sonst jemand uns wirklich schließen will, dann finden sie schon einen Grund. Aber darüber nachzudenken hat keinen Sinn. Darum arbeiten wir so, wie wir wollen. Erst wenn wirklich jemand kommt, werden wir uns damit auseinandersetzen."

    Ein paar 100 Meter entfernt von der Moi-Raion-Redaktion, an der Fakultät für Journalismus, diskutieren an diesem Nachmittag Journalistik-Studenten mit Korrespondenten über das Image Russlands in ausländischen Medien. Mangelnde Presse- und Meinungsfreiheit ist eines der Hauptthemen der Berichterstattung. Doch Dozentin Anja Litwinienko sieht gerade in kostenlosen und unabhängigen Zeitungen wie "Moi Raion" eine Chance für die russische Zivilgesellschaft, in der Zeitungen nie besonders beliebt waren.

    "Zu Sowjetzeiten war klar, dass alle Zeitungen die gleiche Propaganda von sich geben. Aber nun bringen 'Moi Raion' und andere unabhängige Publikationen die westliche Tradition des Zeitungslesens zu uns. Und sie geben dem Ausdruck der Medien als vierter Gewalt eine neue Bedeutung. Im russischen Verständnis heißt vierte Gewalt nämlich nicht die Kontrolle der anderen drei Gewalten durch die Medien, sondern deren Stabilisierung."