Montag, 13. Mai 2024

Archiv


Der Kulturprozess kulinarischen Genießens

Essen als Kultur, als Genuss oder als Völlerei und billige Show der Starköche: Die Autoren des Bandes "Essen als ob nicht" untersuchen Hintergründe der deutschen wie internationalen Esskultur.

Von Michael Wetzel | 29.03.2010
    Das Auge isst mit: Das weiß man nicht erst, seit es moderne Kochbücher gibt, sondern seitdem sich der rohe Einverleibungsvorgang in Namen der Selbsterhaltung zum Kulturprozess kulinarischen Genießens verfeinert hat.

    Mittlerweile ist bis in den letzten Fernsehkanal die Einsicht durchgedrungen, dass Kochen nichts mit Nahrungszubereitung zu tun hat, sondern eine hohe Kunst ist, die uns geniehafte Sterne-(Star-)köche vormachen und der wir wie Sonntagsmaler nacheifern. Auf der einen Seite häufen sich in den Medien die Informationssendungen über eine gesunde und auch geschmacksintensivere Ernährung, auf der anderen Seite jagen die Protagonisten der Kochshows von einem Höhepunkt innovativer Gerichte zum nächsten, kombinieren immer exotischere Zutaten und Materialien.

    Die Globalisierung findet längst auch in der Küche statt, und wer zu den Fortschrittlichen - auch was das Equipment anbelangt - gehört, versucht sich schon in den chemischen Experimenten der Molekularküche, die Parmesan zu Speiseeis und Vanillecreme zu Schaumeiern transformiert. Begleitet wird dieses Medienspektakel der Kochzirkusse aber auch von einer seit Jahrzehnten andauernden Aufarbeitung des Nahrungsthemas in den Kulturwissenschaften.

    In der Literatur, in der Kunst, in der Ethnologie und Soziologie vollzieht sich in einer Fülle von Tagungen und nachfolgenden Publikationen eine Neulektüre der Geschichte unter dem Gesichtspunkt des Essens: Was, wo, wie, wozu, warum unter Einbeziehung welcher Rahmenbedingungen konsumiert wurde, ergibt sensationell neue Einsichten in das innere Gefüge des Kulturprozesses. Neuerdings ist von einem "Gastrosophical Turn" die Rede, der zugleich auf vorbildliche Weise für das neue Ideal interdisziplinärer Forschung Natur- und Kulturwissenschaften an einen Tisch führt. Harald Lemke hat als Philosoph vor Kurzem erst zwei Bücher über Ethik und Ästhetik des Essens publiziert, in Düsseldorf läuft eine große Retrospektive zum Thema der Eat-Art.

    Auf dieser Welle schwimmt das von Daniele Dell'Agli herausgegebene Buch mit wie die Fettaugen auf der Suppe, und es macht den Leser umso gespannter, was an neuen Aspekten und Argumenten in dieses hochaktuelle Thema eingespeist werden kann. Es trifft einen empfindlichen Nerv der Zeit. Nicht nur zur Weihnachtszeit sind wir beherrscht von einer immer stärker anwachsenden Lust am Essen. Wer dann fastend einmal darüber nachdenken möchte, was an den überreichlich gefüllten Tafeln eigentlich an Befriedigung gesucht wurde, kann hier auf eine hintergründige Weise Anregung finden.

    Der spröde Titel "Essen als ob nicht" nimmt Bezug auf einen biblischen Kontext, nämlich den ersten Brief von Paulus an die Korinther, in dem dieser an die Vergänglichkeit der Welt erinnert, als ob nichts wirklich auf Erden gälte. Alles eitel Schall und Rauch, was da Auge und Zunge reizt! Diese Einsicht wird postmodern umformuliert in die zeichentheoretische Erkenntnis, dass wir nur schmecken, was uns als ausgewiesene Bedeutung begegnet. Der allerälteste Nahsinn von Geruch, Geschmack und Tasten ist zutiefst durchzogen und korrumpiert von kulturellen Codes der Geschmacksverfeinerung, der Semantisierung unserer Sinne.

    Zeit also für die Autoren des Bandes, über Geschmack zu streiten und eine Gastrosophie auszubilden, die ihres Namens würdig ist, das heißt diskursive und materielle Zusammenhänge des Genießens aufzeigt. Und dazu gehört zunächst einmal das Bekenntnis zum Genießen und zwar ohne Reue. Wie schwer es sich aber damit die philosophischen Weisen gemacht haben, zeigt Harald Lemke in seiner kleinen Geschichte des gastrosophischen Hedonismus. Ganz im Gegensatz zur landläufigen Vorstellung von Genussmenschen predigte etwa Epikur gerade nicht eine üppige Lebensweise der Völlerei und Schlemmsucht, sondern wies seine Schüler eher zu mäßiger, vor allem aber zu bewusster und überlegter Ernährung an. Denn auch das zählt zum Interesse an Lust, dass man auf ungesundes Essen und schlechte Ernährungsweise verzichtet, um die Folge, nämlich "unlustige" Krankheiten zu vermeiden.

    Der legendäre "Garten des Epikur" enthielt daher Dinge, die man heute auf dem Tische von Öko-Markt-Besuchern und Slow-Food-Fans findet:

    Worauf es in Epikurs Theorie der guten Lust ankommt, ist das Wissen, die richtigen Vergnügen zu wählen. Demnach versteht sich im gastrosophischen Wohlleben, wer den alltäglichen und notwendigen Lebensgenuss einer geschmackvollen Küche als ein Stück Glück begreift.

    Kein Wunder also, dass sich diese Tradition einer Ethik des guten Lebens mit einer Ästhetik der Küche in der modernen Kochakademie und ihrer Esskultur zusammentraf, also der Vorform dessen, was heute in Gestalt von Sterneköchen-Shows unser Fernsehprogramm mehr und mehr zu beherrschen beginnt. Lemke erinnert auch daran, dass es die philosophische Rede vom Geschmack war, die spätestens seit Kant die moderne Ästhetik begründete.

    Wie sehr es aber mit der Praxis in der Küche noch hapert, weiß am besten der Experte in Geschmacksschulung, Jürgen Dollase, der in seinen FAZ-Kolumnen dem Gast gehobener Gastronomie Orientierungshilfen in Geschmackssachen gibt und neuerdings sogar das komplette Lehrprogramm für eine von ihm geforderte "Deutsche Hochschule für Kochkunst" entwickelt hat. Die alles beherrschende Frage ist nicht, was schmeckt, sondern warum es schmeckt.

    Dollase gibt in seinem Beitrag zum Verhältnis von Kopf und Magen entscheidende Hinweise zur Beobachtung von "Geschmackskurven", die jedes Material aufweist und die sich in einer unterschiedlichen Intensität entwickeln. Entscheidend ist aber für den Geschmack die Differenzierung, die mit den Überlagerungen, Verstärkungen und Vermischungen der Aromen umzugehen weiß. Und hier entwickelt Dollase sein originelles Modell der Stufentheorie, das vor allem bei der zunehmenden Globalisierung der Kochstile deutliche Unterschiede zu markieren weiß.

    Die erste Stufe betrifft die Materialauswahl, wie sie zum Beispiel für die japanische Küche höchste Priorität hat, ebenso wie die zweite Stufe, die Materialvorbereitung. Die nächste Stufe, die Aromatisierung des Ausgangsmaterials, hat in den europäischen Küchen, auch der deutschen mit ihren Techniken des Räucherns und Beizens ihr angestammtes Zuhause, während die weiter gehende Variation der Aggregatzustände durch die Molekularküche des spanischen Avantgardisten Ferran Adrià berühmt geworden ist.

    Die letzte Stufe, die kulinarische Konstruktion, spielt in allen Küchen eine Rolle, kann aber auch - wie beim Beispiel McDonald - die anderen Aspekte zurückdrängen. Es muss aber nicht immer McDonald sein, wenn man die Verfallsgeschichte des kulinarischen Geschmacks schreiben will. Wie der Herausgeber Dell'Agli in seinem eigenen, zentralen Beitrag deutlich machen will, ist Deutschland die Heimat jeder Form von Geschmacklosigkeit, angefangen beim Unwort Frühstück mit feuchtem und fadem Brot über die Diffamierung der Käseprodukte als stinkende Cholesterinbombe bis hin zur Wurst als Objekt des sogenannten "deutschen Vomitivs".

    Eigentlich geht es in diesem Beitrag aber gar nicht um Essen, als vielmehr um den Umgang deutscher Sprachwendungen mit Lebensmitteln, die in den burleskesten Wendungen unter anderen der "eingebrockten Suppe", des "dazu gegebenen Senfes" oder der "Sauregurkenzeit" zu einem dadaistischen "Sprachgulasch" verarbeitet werden. Die immer wieder beschworenen appetitlichen Gegenbeispiele der eigenen mediterranen Küche lassen allerdings vermuten, dass der Autor hier sein persönliches Leid im gastrosophischen Exil verarbeitet, das leider wenig Differenzierungsvermögen für sprachgeschichtliche Zusammenhänge aufbringt, sodass das arme Deutsch auch noch der Entartung des Wortes der Gabe zum Gift bezichtigt wird, was doch der alte Begriff der Mitgift wohl nur für Spötter bedeuten würde.

    Nun gut, ihm schmeckt's nicht in Deutschland, aber da mögen andere Bilder mit im Spiele sein, wie das vom "kulinarisch hässlichen Deutschen", dessen "eintöpfisch, sauertöpfisch, sauerkrautisch, schweinefleischig, fettig, wurstig, sahnetortige" Physiognomie der Beitrag von Martin Reuter entwirft. Aber wie gesagt, bei diesen Themen sitzt man nicht zu Tisch, sondern liegt eher auf der Coach, die die dezidiert psychoanalytisch gehaltenen Ausführungen Claus-Dieter Raths für Essgestörte bereiten. Oder man hält sich an den als Nachtisch servierten kleinen Essay von Octavio Paz über Erotik und Gastrosophie, der einen wieder bei der Lust ankommen lässt, mit der das Buch beginnt und die einen zwischendurch ein wenig vergeht.

    Daniele Dell'Agli (Hrsg.): Essen als ob nicht. Gastrosophische Modelle
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, 277 Seiten, 12 Euro