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"Der Wow-Faktor ist verschwunden"

Bis vor Kurzen kannte der Optimismus in Indien keine Grenzen. Die Wirtschaft boomte, Wachstumsraten bis zu zehn Prozent galten als normal. Doch nun ist das Land von einer heftigen Krise erfasst. Die Rupie befindet sich im freien Fall, Unternehmer drohen unter ihrer Schuldenlast zusammenbrechen.

Von Jürgen Webermann | 30.08.2013
    Da sitzt sie nun, Neelu Khatri, in der Lobby eines schicken Businesshotels in Neu Delhi. Gerade hat sich die Unternehmensberaterin hier mit Kunden getroffen. Die 40-Jährige verkörpert das moderne Indien. Alleinerziehend. Erfolgreich. Eine Mittelständlerin, die ihren beiden Kindern Perspektiven bieten will. Jetzt aber zückt Neelu den Schreibblock und den Taschenrechner. Gerade ist ihr Sohn nach Amerika gegangen - zum Auslandsstudium. Und genau das wird mehr und mehr zum Problem.

    "Ich kümmere mich noch um das, was er zum Einrichten dort braucht. Einen Computer, ein Fahrrad, all so was. Ich wünschte, ich hätte ihn zwei Monate früher dorthin geschickt."

    Zwei Monate machen für Neelu einen großen Unterschied, weil sich die Rupie seit einigen Wochen im freien Fall befindet. Seit Mai hat die indische Währung um 20 Prozent nachgegeben. Bedeutet für Neelu: Jeder Dollar, den ihr Sohn ausgibt, kostet sie immer mehr Rupien.

    "Das Schlimme ist, dass der freie Fall gar nicht enden will. Ich kann überhaupt nicht planen. Wüsste ich, wie es weiter geht, könnte ich mich drauf einstellen, um das alles zu finanzieren."

    Übers Internet spricht Neelu mehrmals in der Woche mit ihrem Sohn. Die Nachrichten, dass es in Indien gerade ein Problem gibt, erreichen auch ihn jeden Tag.

    "Das macht ihm zu schaffen. Ich muss ihm immer wieder sagen: Wenn Du jetzt nicht weiter machst, dann waren alle meine Anstrengungen umsonst. Ich schaffe das schon!"

    Ein paar Kilometer vom Businesshotel entfernt: eine andere Welt. Der Chawri Bazar im alten Delhi. Hier schlägt das Handelsherz Nordindiens. Völlig verstopfte Straßen, heruntergekommene Häuser, ein unüberschaubares Gewirr an Stromleitungen. Smog. Staub. Lärm.

    Doch befindet sich hier auch, weit verzweigt, der wohl größte Papier-Großmarkt Asiens. Hunderte Geschäfte verkaufen Karten, Papierbögen, Rohstoffe für Firmenbroschüren und Hochzeitseinladungen.

    Wer zu Puneet Jain möchte, muss abzweigen in eine kleine Gasse, und eintauchen in eines der dunklen Treppenhäuser. Von außen deutet nichts darauf hin, dass Jain aus dem kargen Gebäude ein kleines Handelsreich namens PK steuert. Jain importiert Papier, meist recycelte Ware, auch aus Deutschland. Jahrelang war das ein boomendes Geschäft, jetzt aber geht es für Jain bergab. Und zwar rapide.

    "Wissen Sie, unser Geschäft ist bereits um 50 Prozent eingebrochen. Und wenn das so weiter geht, dann stehen wir hinterher nur noch bei 20 Prozent dessen, was wir bisher importiert haben."

    Auch an Jains Desaster ist die schwache Rupie Schuld: Je schwächer die indische Währung, desto teurer werden die Importe, die Jain in Euro oder Dollar bezahlen muss:

    "Bisher konnten wir höhere Importpreise immer an die Kunden weitergeben, das war nie ein Problem, weil so viel Papier nachgefragt wurde. Jetzt aber gibt es kaum noch Nachfrage, und die Kunden machen nicht mehr mit. Deshalb läuft das Geschäft nur noch zu geringeren Preisen."

    So steckt Jain in der Zwickmühle. Wie ihm geht es derzeit vielen indischen Unternehmern, die importieren oder Kredite im Ausland aufgenommen haben und jetzt befürchten, unter der Schuldenlast zusammenzubrechen.

    Mitten auf einem weitläufigen, parkähnlichen Campus der altehrwürdigen Nehru-Universität von Neu Delhi verfolgt Anur Kumar die Krise, die Indien derzeit durchschüttelt. Kumar ist einer der bekanntesten Ökonomen Indiens. Kumar hat schon vor Jahren vor einer Krise wie dieser gewarnt. Doch er wurde nicht gehört: Der Optimismus kannte bis vor Kurzem keine Grenzen in Indien. Wachstumsraten bis zu zehn Prozent galten als normal. Nirgendwo leben mehr Milliardäre als in Indien. In Städten wie Neu Delhi wurden bisher täglich tausend Autos neu zugelassen. Indien erstaunte die Welt. Und der Optimismus vieler Kollegen erstaunte wiederum Kumar:

    "Wir haben die größte Zahl an Milliardären, aber auch die größte Zahl an armen Menschen. Deshalb basierte alles auf die Nachfrage von ganz wenigen Konsumenten. Zehn Prozent von uns geht es gut. Wir haben das Geld und die Ausbildung. Aber 90 Prozent sind schlecht ausgebildet, und 40 Prozent unserer Kinder haben immer noch so wenig zu essen, dass sie nicht mal vernünftig lernen können."
    Waren die Erfolgsmeldungen also übertrieben? Zumindest sei in Indien einiges schief gelaufen, glaubt Kumar. Denn trotz aller Reformen: Eine vernünftige Marktwirtschaft sei Indien noch lange nicht:

    "Indien ist eigentlich nichts anderes als eine riesige Vetternwirtschaft. Wenn ich den richtigen Minister kenne, erhalte ich Lizenzen für den Mobilfunkmarkt oder für den Abbau von Rohstoffen - egal, ob ich damit Erfahrung habe oder nicht. Seit einigen Jahren wird die Korruption aber mehr und mehr öffentlich. Und das System der Vetternwirtschaft ist dadurch zusammengebrochen."

    Auch über die Vetternwirtschaft hat Kumar schon ganze Bücher geschrieben. Doch erst jetzt glaubt ihm die Öffentlichkeit auch, seit Investoren ihre Gelder abziehen, seit die Rupie rapide an Wert verliert - und der Regierung nichts anderes einfällt, als die Einfuhr von Gold oder Flachbildfernsehern zu beschränken, um die große Importabhängigkeit etwas zu bremsen. Nur: Gebracht hat das bisher nichts.

    In Alt-Delhi, wo die Händler zu Hause sind, befürchtet Puneet Jain, dass er nicht mehr lange so weiter machen kann mit dem Import von Papier. Einige seiner Lieferanten sind längst auf andere Länder ausgewichen. Ständig muss er in Europa anrufen und um Preisnachlässe bitten:

    "Also, meine Lieferanten sind auch langsam genervt von unseren ständigen Anfragen. So langsam komme ich mir gegenüber meinen Geschäftspartnern in Europa wie ein Dummkopf vor."

    Jain hofft, dass er zumindest bis 2014 durchhalten kann. Dann sind Parlamentswahlen in Indien. Doch ob eine neue Regierung dann beherzter durchgreifen wird? Neelu Khatri glaubt das nicht. Für sie ist das Wirtschaftswunder in Indien erst einmal Vergangenheit:

    "Früher, wenn ich auf Auslandsreisen in der U-Bahn mit Leuten gesprochen habe und gefragt wurde, woher ich komme und dann antwortete: aus Indien. Da kam ein großes Wow. Und dieser Wow-Faktor, der ist einfach verschwunden."

    Stattdessen muss sie weiterhin jede Rupie zurücklegen und nach der Arbeit Stift und Taschenrechner zücken. Denn fällt die Rupie weiter, droht ihr Traum, den eigenen Kindern ein Studienjahr im Westen zu ermöglichen, bald zu platzen.