Sonntag, 05. Mai 2024

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Die Insel der Farbenblinden

Oliver Sacks hat es verstanden, auf ungewöhnliche Art die Verbindung von der Neurologie zur Literatur zu schlagen. Seine Bücher über Patienten und Fallgeschichten haben den britischen Nervenarzt, der seit langem in den USA praktiziert, auch in Deutschland berühmt gemacht. Doch "Die Insel der Farbenblinden" hat Sacks ganz anders angelegt. Sacks unternimmt hier eine Studienreise in den westlichen Pazifik. Genaugenommen hat er nicht eine, sondern gleich mehrere Inseln besucht, um sich ihrer Fauna und Flora, ihren Korallenriffen und dem Regenwald zu widmen. So ist er auch auf die Karolinen-Inseln mit ihren düsteren Erinnerungen an zwei Jahrzehnte glückloser deutscher Kolonialherrschaft gestoßen - und auf die Farbenblinden, die seinem Buch den Titel gegeben haben.

David Eisermann | 01.01.1980
    "Diese Insel Pingelap ist ganz klein, ein Atoll, nur einen Quadratkilometer groß", erklärt Sacks. "Von den achthundert Einwohnern besitzen ein Drittel die Erbanlage für völlige Farbenblindheit, und ein Zehntel sind tatsächlich farbenblind. Auf der Insel kennt jeder jeden und weiß über die Farbenblindheit Bescheid, zumal sie dort seit zweihundert Jahren vorkommt, auch in der königlichen Familie."

    Anschließend hat Sacks die wesentlich größere Hauptinsel Ponape besucht, wo die Farbenblinden unter dreißigtausend Einwohnern eine weniger prominente Rolle spielen als auf Pingelap. Beide Inseln haben dem Autor Anlaß gegeben, der Frage nachzugehen, wie umfassend eine so erhebliche neurologische Anomalie die Wahrnehmung, das Bewußtsein und die Weltsicht der Menschen bestimmt: "Es geht hier nicht um die verbreitete Rot-Grün-Schwäche. Von zwanzig Männern leidet im Schnitt einer daran. Bei Frauen ist es seltener. Menschen mit sogenannter Achromatopsie sehen dagegen überhaupt keine Farben und haben auch keine Vorstellung davon. Man könnte ihr Sehvermögen mit Schwarzweißfilmen vergleichen. Doch ich halte es für viel subtiler. Andere visuelle Eigenschaften, die Wahrnehmung von Strukturen, Umrissen, Oberflächen und Begrenzung, Tiefe und Bewegung sind hier erhöht. Diese Menschen verfügen über keine sehtüchtigen Zapfen, die Rezeptoren in der Netzhaut, die notwendig sind, um Farben sehen zu können. Sie haben nur Stäbchen, die Rezeptoren, die wir für die Nachtsicht verwenden. Stäbchen sind enorm lichtempfindlich, und nachts sehen diese Menschen auergewöhnlich gut. Doch das Tageslicht blendet sie, wenn sie ihre Augen nicht schützen, und sie haben auch Schwierigkeiten, feine Einzelheiten wahrzunehmen."

    Sacks stellt die Farbenblinden und ihre Verhältnisse so dar, daß seine Schilderungen eine eigenartige Poesie gewinnen. So im Fall der geheimen Muster, die von farbenblinden Frauen gewoben werden. Statt auf Farben beruhen diese Muster auf verschiedenen Stufen der Helligkeit. Wer Farben sehen kann, erkennt nichts außer gleichförmigem Braun oder Violett. Für die Farbenblinden aber erwachen die Muster in der Dämmerung zum Leben. Ein Scherz, wie Sacks findet, den die Farbenblinden sich mit uns erlauben - ihr glaubt, wir sind behindert, doch wir erschaffen Bilder, die ihr nicht mal sehen könnt. "Menschen, die farbenblind zur Welt gekommen sind, spüren keinen Verlust weil sie nichts anderes kennen", sagt Sacks. "Auf dieser Grundlage haben sie sich eine visuelle Welt errichtet. Doch sie werden manchmal neugierig, warum wir so ein Aufsehen um das Sehen von Farben machen. In vielerlei Hinsicht kommen sie auch so zurecht und können sich so schwer vorstellen, daß Farben ein wichtiger Aspekt der sichtbaren Welt sind. Auf Pingelap können sie alle Pflanzen genau erkennen. Was sie behindert, ist helles Tageslicht, nicht so sehr das Fehlen der Farben."

    Wie ein fernes Spiegelbild erscheint bei Sacks der Renaissance-Autor Antonio Pigafetta. Vor mehr als vierhundert Jahren hat Pigafetta bereits den westlichen Pazifik bereist - an der Seite des portugiesischen Weltumseglers Magellan. Wenn Sacks ihn als einen Forscher beschreibt, der die einheimische Gesellschaft ohne Hochmut betrachtet hat, mit dem Einfühlungsvermögen eines Wissenschaftlers, eines Psychologen und Historikers, dann wird Pigafetta ein wenig zu Oliver Sacks, oder Sacks doch zu Pigafetta. "Na, ich weiß nicht, wie ich mich selbst beschreiben soll, aber ich fühle mich hier selbst als Entdecker und Naturforscher. Mich interessieren die Empfindungen. Ich will niemand etwas aufzwingen oder zu sehr eingreifen. Aber ich wäre schon gern wie er!"

    Zweites Thema im neuen Buch von Oliver Sacks sind fremdartige Pflanzen, ihre Giftstoffe und die mögliche, unheilvolle Verbindung zu Lähmungserscheinungen bei den pazifischen Inselbewohnern. Auf den Illustrationen, die Sacks beigefügt hat, sehen diese Palmfarne so urtümlich aus, als stammten sie aus dem Jurassic Park.

    "Im Vergleich dazu ist die Jura-Zeit noch nicht lange her. Ich meine Palmfarne, doch das sind eigentlich weder Palmen noch Farne, sondern Nacktsamer, lebende Fossilien der Pflanzenwelt, wie es sie schon vor zweihundertachtzig Millionen Jahren gegeben hat und heute immer noch gibt. Sie sind vielleicht verantwortlich für eine rätselhafte Nervenlähmung auf Guam. Die meisten Menschen haben noch nie ein Palmfarn gesehen. Deshalb führe ich auf meiner Lesereise eines mit!"

    Aus den Palmfarnen wird eine berauschende Flüssigkeit gewonnen. Ihr Genuß und seine gesellschaftlichen Folgen haben das Augenmerk von Oliver Sacks auf die unheilbare Nervenlähmung ALS gelenkt. Amyotrophe Lateralsklerose ist an sich extrem selten, auf einigen Inseln im Pazifik aber grassiert sie geradezu. "Übrigens - Stephen Hawking, der berühmte Physiker, hat ALS. Er ist dabei nicht nur klar geblieben, sondern sein Verstand gehört zu den besten der Welt. Ich halte diese Krankheit für besonders niederschmetternd, für beide, Patienten und Ärzte. Es wird immer schlimmer, und es läßt sich nichts daran ändern. Man fühlt sich hilflos. Der Tod, wenn er dann eintritt, ist ganz und gar unerfreulich. Die Muskeln für den Schluckvorgang fallen aus, und man erstickt. Entsetzlich. Als amerikanische Ärzte 1945 nach Guam gekommen sind, haben sie festgestellt, daß diese Lähmung auf der Insel tausendfach häufiger auftritt als auf dem Festland."

    Die Verbindung zwischen den zwei sehr unterschiedlichen Teilen seines Buchs sieht Sacks selbst darin, wie auf den Inseln seltene neurologische Phänomene zu unabänderlichen, sogar konstitutiven Tatsachen des Lebens geworden sind. Sacks denkt darüber nach, wie die Inselbewohner sich darauf einstellen. Gleichzeitig stellt er fest, wie der Kolonialismus die einheimische Gesellschaft deformiert hat. Sein Text über die teilweise bestechend schöne Welt der Südsee reflektiert so auf einer anderen Ebene immer auch Armut und Isolation der Insulaner. "Ja, sicher, man hat phantastische Vorstellungen von wunderschönen tropischen Eilanden und glücklichen Bewohnern, denen eine verschwenderische Natur alles gibt. Solche Schilderungen sind es ja gewesen, die nach der Entdeckung Tahitis auf Europa in den 60er, 70er Jahren des 18. Jahrhunderts so anregend gewirkt haben. Ob sie jemals zutreffend waren, läßt sich nicht mehr sagen. Aber wir hegen bis heute die Phantasie, daß es irgendwo das einfache Leben und Menschen gibt, die es gut haben und ohne Sünde, frei von Schuld, glücklich und gut versorgt leben. Fast ein Mythos von Eden. Tatsächlich kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß für diese Menschen der Zusammenprall mit unserer Kultur kein reiner Segen gewesen ist. Die Menschen dort sind erobert, ausgebeutet und missioniert worden. Unsere Krankheiten, Pocken, Masern, Grippe, haben in den letzten Jahrhunderten die ganze Bevölkerung dezimiert. Inzwischen ist die radioaktive Verseuchung hinzugekommen. Außerdem haben wir westliche Lebensmittel eingeführt, vor allem ein Büchsenfleisch mit sehr hohem Fettgehalt namens Spam, von dem ich nicht weiß, ob Sie es in Deutschland kennen. Mit der westlichen Ernährung, wie sie in Mikronesien nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde, sind die unterschiedlichsten Krankheiten aufgetreten - ungeheure Fettleibigkeit, Diabetes, Bluthochdruck, ein Rückgang der Lebenserwartung, wie es das zuvor nie gegeben hatte. Die Menschen dort können von ihrem Stoffwechsel her unsere Ernährung nicht vertragen. Natürlich ist das alles nicht absichtlich herbeigeführt worden. Wir haben ja helfen wollen, zivilisieren, das Wort Gottes bringen, die Vorzüge unserer Kultur, was wir dafür halten, aber es ist eben sehr komplex. Kapitän Cook hat das von Anfang an verstanden. Er ist bloß ein Jahr nach dem ersten Besucher nach Tahiti gekommen und hat dort bereits Geschlechtskrankheiten und andere Probleme vorgefunden. Er hat gesagt, es wäre vielleicht besser für die Insulaner gewesen, wenn sie uns nie begegnet wären. Ich selbst bin kein politischer Mensch, aber die Erkenntnis, was die Begegnung zweier völlig unterschiedlicher Kulturen ausmachen kann, hat mich erschreckt."

    Am Ende handelt Die Insel der Farbenblinden nicht nur von Menschen, die sich unwissentlich mit Palmfarn-Extrakten vergiften, oder von der subtilen Dämmerung der Farbenblinden, sondern auch von Oliver Sacks selbst. Er verfolgt die Wurzeln seiner eigenen Wahrnehmung zurück bis in das London des Zweiten Weltkriegs, zu seinen Kindheitserinnerungen an deutsche Bomben und Raketen. Vor allem ist das Buch aber ein bewußter Dialog mit einer spezifisch britisch-amerikanischen Tradition: Naturgeschichte als Literatur. Sacks führt sie wiederum auf deutsche Vorbilder wie Alexander von Humboldt und Goethe zurück: "Eigentlich spreche ich hier ganz ausführlich über Goethe, und seine Farbenlehre fasziniert mich. Mein Interesse an Goethe ist hier sogar zweifach - es gilt sowohl der Farbe wie der Morphologie der Pflanzen, die eine meiner Leidenschaften darstellt. Der Begriff der Morphologie geht ja auf Goethe zurück. Doch, ja, auf seine Weise ist mein Buch wohl etwas altmodisch, eine Hommage an Bücher von Charles Darwin, Alfred Russel Wallace oder Henry Walter Bates, die ich immer geliebt habe. Eigentlich weiß ich aber gar nicht, was für eine Art Buch es ist. Es ist anders als meine übrigen Bücher, und ich weiß nicht, was die Leser davon halten. Sie müssen schon selbst nachsehen."