Freitag, 10. Mai 2024

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Die Kultur der Niederlage

Für seine Umwege, sein facettenreiches Denken ist Wolfgang Schivelbusch berühmt, und die "Kultur der Niederlage" enthält mindestens so viele Nebenstränge wie Hauptstränge: über Duelle und Sport, über "Tanzwut" und Taylorismus, über Propaganda und Mythologie. Wenn ich in einem eisernen Zeitalter den tollen Unfug beging, das Leben für ein Heldengedicht zu halten, so liegt es daran, dass ich der Enkel einer Niederlage bin. Ich bin ein überzeugter Materialist, aber mein epischer Idealismus wird mir bis zu meinem Tod eine Beleidigung kompensieren müssen, die mir nicht zugefügt wurde, eine Schmach, unter der ich nicht gelitten habe: den Verlust von zwei Provinzen, die wir längst zurückerhalten haben.

Florian Felix Weyh | 11.11.2001
    Dieser Mann ist unverdächtig. Sich gegen die Besatzer seines Vaterlandes wehrend, trug er ihnen dennoch nichts nach, als sie endlich besiegt am Boden lagen. In seiner Philosophie war kein Platz für Chauvinismus, seine Haltung gegen Unterdrückung wandte sich gegen alle Unterdrücker, im eigenen wie im Nachbarland. Aus seinem Munde ein Geständnis wie dieses zu vernehmen, erschüttert, denn wer – wenn nicht Jean Paul Sartre – sollte immun gegen den Bazillus des kriegerischen Nationalismus sein? Umso mehr, als der Bazillus seine Virulenz nur noch aus zweiter Hand bezog, denn als Sartre die nationale Schmach zu spüren glaubte, lag sie mehr als zwei Generationen zurück. Der deutsche "Erbfeind" seinerseits war überzeugt, eine nationale Schande tilgen zu müssen, als er 1940 gen Frankreich marschierte, und niemand unter den einfachen Bürgern beider Länder konnte die Kette der gegenseitigen Kränkungen vollständig rekonstruieren. Dafür reichten die Waffengänge, Annektionen, Auseinandersetzungen zu weit zurück. Deutschland und Frankreich, in ihrem Handeln stets aufeinander bezogen, konnten voneinander nicht lassen. Da notgedrungen jeder Konflikt mit Sieger und Verlierer endet, fand der jeweils nächste großzügige Nahrung in den Depressionen der Verlierer. Wer unterliegt, ist mit seinen Verlusten an Land, Menschen und Material schon gestraft genug – in seiner Seele will er nicht noch Demut, Buße und Reue üben.

    "Wie Kriegserklärungen mit der nationalen Ehre", schreibt Wolfgang Schivelbusch in seiner voluminösen Studie Die Kultur der Niederlage "so werden Kapitulationen in der Regel mit der nationalen Vernunft begründet."

    Ehre und Vernunft – das geht nicht zusammen: Hie ein psychologischer, rationalen Gründen schwer zugänglicher Gefühlszustand, da eine Kosten-Nutzen-Rechnung, die psychische Befindlichkeiten brüsk übergeht. Vom deutsch-französischen Krieg 1870/71 über den Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg das gleiche Bild des jeweiligen Verlierers: Aufbruch mit überschwenglichem Ehrgefühl, Heimkehr in geknickter Zweckrationalität. Manchmal bedurfte es gar erheblicher geistiger Anstrengungen, die eigene Niederlage nachzuvollziehen: Hatte man nicht eigentlich gesiegt?

    Der deutsche Zusammenbruch 1918 war historisch einzigartig nicht nur seiner unerwarteten Plötzlichkeit wegen, sondern weil nie zuvor eine Nation die Waffen gestreckt hatte, deren Armeen so tief in Feindesland standen. Im Sommer 1918 lag Paris unter dem Beschuß der nur neunzig Kilometer entfernten deutschen Artillerie, und die britische Hauptstadt war Ziel deutscher Zeppelinangriffe in der später so genannten »First Battle of London«. In Berlin hingegen, von sämtlichen Fronten rund tausend Kilometer entfernt, fiel nicht eine Bombe. Nach aller militärhistorischen Erfahrung war der von Deutschland kontrollierte Raum weit genug, auch größere militärische Einbrüche an den Rändern aufzufangen.

    Mit dem Sterben der Zeitzeugen von damals gleitet der Erste Weltkrieg heute in immer nebulösere Gefilde, wenngleich bei Militärhistorikern Übereinstimmung besteht, dass die deutsche Niederlage zwar durch den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten besiegelt wurde, im Herbst 1918 jedoch keineswegs ausgemachte Sache war. Der geordnete Rückzug an die eigenen westlichen Landesgrenzen hätte womöglich einen anderen Frieden als den von Versailles gebracht – wäre nicht die gesamte Militärmaschinerie knirschend in sich zusammengebrochen. Wie der Untergang der DDR wirkt das Ende des Kaiserreichs für Nachgeborene seltsam kontingent, aus den vorangegangenen Vorgängen kaum ableitbar: eine Revolution wider Willen, ein Kollaps ohne erkennbaren äußeren Impuls, eine Niederlage aus dem Gefühl der Unbesiegbarkeit heraus, eine Ermüdungskapitulation, die für die Deutschen unbegründbar blieb, sich mithin nicht in ihrem kollektiven Gefühlshaushalt verankern ließ.

    Der kollektive Gefühlshaushalt – flirrendes Wesen und Gegenstand für Mentalitätshistoriker. Im 19. Jahrhundert kam – terminologisch noch unbelastet – die "Völkerpsychologie" auf, die ihr Forschungsobjekt ziemlich sorglos belletristisch konstruierte – oder sollte man besser sagen: erfühlte? Ein bis heute bekannter Vertreter dieser Kollektivseelenschau war der Pariser Arzt Gustave Le Bon, dessen "Psychologie der Massen" bei fragwürdigen Schlußfolgerungen bis heute ein essayistisches Lesevergnügen darstellt. Le Bon freilich war kein Demokrat, und Lenin soll aus seinem Buch ebenso gelernt haben wie Joseph Goebbels. Dennoch lässt sich in gewisser Weise Wolfgang Schivelbuschs Großessay vor dieser Kontrastfolie lesen. Auch er dichtet, wenngleich um ein Vielfaches subtiler, die theoretischen Konstrukte Nation, Staat, politische Instanzen in handelnde Personen um, die gleichsam einen Seelenhaushalt besitzen:

    Für ihre verlorenen Kriege finden die Nationen, sobald sie sich vom ersten Schock erholt haben, schnell die Schuldigen. Verantwortlich gemacht wird das bisherige Regime, weil es das Land nicht nur in den Krieg, sondern schon lange davor auf den Irrweg geführt hatte. Niederlagen sind Zeiten des Vatermords und der Rückbesinnung auf die Mutter Nation, zu deren Rettung und Bewahrung nun die Söhne aufstehen. Daher die Revolutionen - das Wegfegen der Verliererväter - und die karnevalistische Feststimmung, wie in Frankreich im September 1870 und in Deutschland im November 1918. Ein neuer Anfang scheint möglich und nichts selbstverständlicher, als dass der Verlierer als erster die Hand reicht. Umstandslos gibt er auf, wofür das alte Regime in den Krieg zog, erwartet allerdings auch, dass der Sieger dies honoriert und auf die "Bestrafung" der Nation verzichtet. Groß ist dann die Empörung, wenn die Unterscheidung von schuldigem altem Regime und schuldloser Nation nicht akzeptiert und auf voller Zahlung des Preises bestanden wird.

    Deutlich erkennbar eine individualpsychologische Annäherung an kollektive Tatbestände; das macht gleichermaßen Reiz und Gefahr dieser Art von Mentalitätsforschung aus. Wo Metaphern regieren, werden nicht unbedingt die kausalen Handlungsmotive einer historischen Situation erfaßt, doch Wolfgang Schivelbusch ist ein großer Virtuose beider Welten: der metaphorischen wie der analytischen. Auf das kühne Bild ...

    Wenn aber Niederlagen als Krisis der Krankheit »Dekadenz« verstanden werden, aus welcher die Nation geheilt und gestärkt hervorgeht, bleibt die Frage nach den bei diesem Reinigungsprozeß ausgeschiedenen Schadstoffen.

    ... folgt eine nüchterne, logisch-rationale Analyse:

    Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit Ziele und Programme, für die Nationen in den Krieg zogen, nach der Niederlage aufgegeben und vergessen werden. So regte sich nach 1865 im amerikanischen Süden kein ernsthafter, nicht einmal verbaler Widerstand gegen die Abschaffung der Sklaverei, in Frankreich sprach nach 1871 niemand mehr von der Rheingrenze und der kontinentalen Hegemonie, und in Deutschland wurde 1918 mit ähnlich stiller Selbstverständlichkeit von allen Weltmachtplänen Abstand genommen und der Flottenbau als unglückselige Marotte des Kaisers abgetan.

    Ein durchaus repräsentatives Beispiel: Schivelbuschs bildhafte Thesen, seine Personalisierungen von historischen Vorgängen gehen den Geschehnissen stets voran. Der Auftaktessay "Verlieren" – mit vierzig Seiten kürzester von vier Buchteilen – faßt all das zusammen, was danach auf mehreren hundert Seiten in einem Gesamtmosaik belegt wird: die Abläufe politisch-militärischer Niederlagen in Anlehnung an individuelle Demütigungserfahrungen, die Projektions- und Kompensationsmechanismen, mit denen die Gedemütigten ihre Situation umdeuten, ja den Gewinner zu deklassieren versuchen:

    Der Verlierer weiß, wovon jener noch nicht einmal eine Ahnung hat: dass der Triumph nicht von Dauer ist und die Positionen von Oben und Unten einander stetig abwechseln. Er tritt als Mahner auf. Seine Hauptlegitimation ist, als der gefallene Sieger von gestern zu sprechen.

    Dieser klassischen Rollenumkehrung geht freilich die psychoanalytisch begründete "Identifikation mit dem Aggressor" voran. Nach dem preußischen Blitzsieg 1870/71 stellten die neu an die Macht gekommenen französischen Reformkräfte zwar die militärische Methoden des Gegners als vorbildlich dar, sahen darin aber nur einen Beweis der eigenen ursprünglichen Überlegenheit:

    Das preußische System zu übernehmen, so argumentierten sie, sei letztlich nichts anderes, als auf einem Umweg wieder an die eigene Tradition anzuknüpfen. Denn war die preußische Armee von 1870/71 nicht das Ergebnis jener Reform, die nach ihrer Niederlage 1806 bei Jena/Auerstedt eingeleitet und am Vorbild des damaligen Siegers Frankreich ausgerichtet worden war? Das preußische System zu übernehmen hieß also eigentlich, zum eigenen System zurückzukehren, das gleichsam stellvertretend in Preußen weiterentwickelt worden war, während Frankreich sich auf seinen Lorbeeren ausgeruht und dadurch den Anschluß verpaßt hatte. (...) Die preußische Armee erschien in dieser Sicht nicht als eine der französischen überlegene Macht, sondern als eine Art Konservierungs- und Regenerationsmedium der französischen Überlegenheit, die in Frankreich selbst seit 1815 sträflich vernachlässigt worden war.

    "Psychohistorie" nennt Wolfgang Schivelbusch solche Erkundungen einige Male, hält den Begriff dann aber selbst für so ungenau, dass er ihn nicht einmal im Stichwortverzeichnis aufführt. Vielleicht nähert man sich den Intentionen des Projekts besser mit einem Fremdzitat. Der Philosoph Hans Blumenberg definiert "Kultur" nämlich so:

    Kultur besteht in der Auffindung und Anlage, der Beschreibung und Empfehlung, der Aufwertung und Prämierung der Umwege.

    Für seine Umwege, sein facettenreiches Denken ist Wolfgang Schivelbusch berühmt, und die "Kultur der Niederlage" enthält mindestens so viele Nebenstränge wie Hauptstränge: über Duelle und Sport, über "Tanzwut" und Taylorismus, über Propaganda und Mythologie. Für Schivelbusch-Leser ist dies nichts Neues, sie schätzen diesen Autor gerade wegen seiner assoziativen Fülle, doch irritierenderweise kollidiert sie bei diesem Buch mit der Erzählstruktur. Die beiden namentlich benannten "Exkursionen" sind nicht in den Text eingewoben, sondern hintan gestellt, und die Orientierung an der historischen Reihenfolge (amerikanischer Bürgerkrieg, Waffengang von 70/71 und Erster Weltkrieg) spiegelt vordergründig eine Kausalität vor, die der Autor mit seiner spezifischen Methode gar nicht einlösen kann.

    Besonders der 1865 beendete amerikanische Bürgerkrieg fällt aus dem Rahmen. Hier traten nicht zwei sprachlich und kulturell unterscheidbare Nationen gegeneinander an, sondern differierende Weltanschauungen, die weder zuvor, noch nach der vernichtenden Niederlage des Südens je wieder miteinander wetteiferten. Wenn Schivelbusch in dieser, von der deutsch-französischen Dauergegnerschaft vollkommen unterschiedlichen Konstellation dieselben Bewältigungsmechanismen entdeckt, so liegt das hauptsächlich daran, dass er den amerikanische Süden zu einem konsistenten Subjekt verklärt, das sich über Leseerfahrungen weit mehr als über ökonomische Umstände konstituierte. Wunschdenken eines Kulturhistorikers, der Literatur und Kunst gerne wirkungsmächtiger sähe, als sie es für gewöhnlich sind? Die Belege lassen diesen Geist deutlich durchklingen:

    Wenn es unter all denen, die sich mit der Kulturgeschichte des amerikanischen Südens in den Jahren vor der Sezession beschäftigt haben, einen Konsens gibt, dann ist er mit dem Namen Walter Scotts verbunden und lautet etwa so: »Im Unterschied zum Rest des Landes, der Scott mit großer Begeisterung las, verleibte der Süden ihn sich total ein« (Osterweis). Oder: »Der Süden assimilierte sich Scott mit Haut und Haaren und bereitete aus ihm seine Weltanschauung« (W.J. Cash). Oder: Scott übte eine »berauschende Wirkung« auf den Süden aus (Edmund Wilson). Oder: Scotts Romane erfuhren im Süden eine »vollkommene Internalisierung« (John Fraser).

    Auch im Versuch, den inneramerikanischen Bürgerkriegs an europäische Schauplätze anzubinden, schießt Schivelbusch übers Ziel hinaus. Allein aus der Tatsache, dass Woodrow Wilson seit Ende des Bürgerkriegs der erste amerikanische Präsident aus dem Süden der USA war (und deswegen noch immer eine Kompensation nötig gehabt hätte), leitet er folgende Spekulation ab:

    Offenkundig war die Intervention 1917 auf der Seite des Guten (der demokratisch-liberalen Entente) gegen das Böse (den deutschen Militarismus) ein Nachspielen des Lincolnschen Kreuzzugs gegen den an der Union und der Menschheit sündig gewordenen Süden und die Wilsonsche Forderung nach Abschaffung der Militarmonarchien Mitteleuropas nichts anderes als die Wiederholung der Forderung des Abolitionismus nach der Abschaffung der Sklaverei. Fünfzig Jahre nach der Niederlage bot sich die Gelegenheit, den moralischen Makel auf den nun aktuellen Weltsünder Deutschland zu übertragen, Seite an Seite mit dem damaligen Sieger gegen den neuen Menschheitsfeind zu Felde zu ziehen und so die schon lange angestrebte Aufnahme ins Siegerlager zu besiegeln. Ein Mechanismus, den nach dem Zusammenbruch von 1945 Deutschland selbst, das heißt das westliche Teildeutschland, mit seiner inbrünstigen West-Identifikation im kalten Krieg nachvollzog und nach 1989 gegenüber der DDR - dem letzten Verlierer - noch einmal genüßlich auskostete.

    Offenkundig – um dieses gefährliche Wort zu gebrauchen – hat Psychohistorie ihre Fallstricke. So sicher es ist, dass die deskriptive Geschichtsschreibung, die auf innere, weil nicht nachweisbare Motive der handelnden Personen verzichtet, die Welt nur unzureichend erläutert, so wenig kann eine psychoanalytisch angehauchte Kompensationstheorie die Zeitläufte zur Gänze erklären. Zur "Kultur der Niederlage" in der von Schivelbusch beschriebenen Weise gehört nämlich auch das repetetive Moment: Eine einmalige, aus einer unwiederholbaren Konstellation heraus erfolgte Niederlage beschwört die psychischen Abwehrmechanismen weit weniger herauf, als es ihre Einbettung in eine wechselnde Abfolge von Überlegenheits- und Unterlegenheitserlebnissen tut. Der Abschnitt über den amerikanischen Bürgerkrieg bleibt im Buch damit ein Fremdkörper, denn letztlich steht für Schivelbusch ein altes, zerstrittenes Ehepaar im Mittelpunkt des Buches, das die jeweilige Dominanz über den anderen erstrebt: Deutschland und Frankreich. Nur auf diese beiden trifft seine Theorie zu, um – Gott sei dank! – 1945 endgültig der Vergangenheit anzugehören. Durchaus hellsichtig stellt Schivelbusch fest, dass Niederlagen gegen mehrere koalierende Mächte – wie 1945 – keine eindeutigen Verhaltensmuster mehr hervorbringen, weil die wesentlichen Elemente von Identifikation und Projektion verpuffen. Im deutsch-französischen Verhältnis vor Ende des Zweiten Weltkriegs – einer Kultur der fortgesetzten Niederlage par excellence – findet sich dagegen reichhaltiges Material für die psychischen Verschiebungsprozesse. So schwang sich Victor Hugo nach der Niederlage von 1871 zu einer flammenden Rede an die Nation auf:

    "Von morgen an wird Frankreich nur einen Gedanken haben: seine Kräfte sammeln; in der Erziehung seiner Kinder einen heiligen Zorn lehren; Kanonen gießen und Bürger formen, bis Volk und Armee eins sind; die Wissenschaft in den Dienst des Krieges stellen; dem preußischen Modell nacheifern wie Rom einst dem punischen; Festungen anlegen; modernisieren; kurz: wieder das große Frankreich des Geistes und des Schwertes werden« (an dieser Stelle vermerkt das Protokoll Beifallsrufe: »Sehr gut! Sehr gut!«). »Eines Tages dann«, fährt Hugo fort, »ist die Nation bereit. Ihr Losschlagen wird furchtbar sein. Als erstes wird sie Lothringen zurückgewinnen, dann das Elsaß! - Wird dies alles sein? - Nein und noch einmal: Nein! Denn als nächstes werden - und hören Sie gut zu - Trier, Mainz, Köln, Koblenz erobert.« (Protokollvermerk: »Von verschiedenen Seiten wird gerufen: Nein! Nein!«). Daraufhin erklärt Hugo, er denke nicht an einen nationalen Eroberungsfeldzug, sondern an die Befreiung Deutschlands von der Despotie: »Meine Form der Rache ist die Verbrüderung! Bilden wir eine einzige Republik, schütteln wir uns die Hände! Denn so haben wir uns am Ende einen gegenseitigen Dienst erwiesen: Du hast mich von meinem Kaiser befreit, und ich erlöse dich von deinem.«

    Interessant, wie Wolfgang Schivelbusch dieses Dokument kommentiert:

    Die Geistesgegenwart und der Esprit, die Hugo diese stürmische Passage in den sicheren Hafen bringen ließen, vermögen das zwischenzeitliche Tosen allerdings nicht völlig zu überspielen.

    Geistesgegenwart und Esprit sind Markenzeichen des Chronisten selber – und man mag sie ihm an jenen Stellen zubilligen, an denen er über die Stränge schlägt. Frei nach dem Motto: Die Fakten sind stark – der Geist ist stärker. Ungewöhnlich für Schivelbusch, muß man bei der Lektüre diesmal jedoch einen Spagat bewältigen: Einerseits profunde Vorkenntnisse mitbringen, wie sie nur historisch gebildete Leser haben, andererseits vertraute Interpretationen über Bord werfen. Dass die komplizierte Vorgeschichte des Krieges von 1870/71 – die wiederum aus einer langen Kette von spanischen Erbfolgestreitigkeiten über die Jahrhunderte resultierte – nur hauchzart angedeutet wird, ist ebenso ein Manko wie die spärlichen Vorinformationen zum amerikanischen Sezessionskrieg. Deutlich zu spüren, dass in diesem Werk die beiden Seelen des Historikers und des kulturphilosophischen Denkers auf keinen gemeinsamen Nenner kommen, und so versteckt sich die Quintessenz des Buches in einer Fußnote. Darin zitiert Schivelbusch den Sozialhistoriker Reinhard Koselleck:

    Im Besiegtsein liegt offenbar ein unausschöpfliches Potential des Erkenntnisgewinns. Der geschichtliche Wandel zehrt von den Besiegten. Sofern sie überleben, haben sie jene nicht austauschbare Urerfahrung aller Geschichten gemacht, dass sie anders zu verlaufen pflegen, als von den Betroffenen intendiert.