Samstag, 04. Mai 2024


Die »lyrix«-Gewinner im März 2016

Im März habt ihr euer Lernen und Wissen reflektiert und festgestellt, dass „alles, was [ihr] lernen wollte[t]“ nicht unbedingt dem entspricht, was ihr bisher gelernt habt. Zu dieser Erkenntnis seid ihr durch Carl-Christian Elzes Gedicht „alles hab ich von hunden gelernt“ und der Muschelgrube aus dem Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz angeregt worden.

31.03.2016
    In der Ausstellung "ROOTS / Wurzeln der Menschheit" laufen zwei jugendliche Besucher am Donnerstag (06.07.2006) im Rheinischen LandesMuseum in Bonn an einer Plakatwand vorbei, die den Evolutionsverlauf zum Homo Sapiens beschreibt.
    In einer Ausstellung, den Evolutionsverlauf zum Homo Sapiens beschreibt, laufen zwei jugendliche Besucher an einer Plakatwand vorbei. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Der Mensch ist intelligent, er kann sich ein enormes Wissen und einen Schatz an Fähigkeiten anlernen und ein Leben lang behalten. Wir beginnen früh zu lernen, die ersten Jahre der Kindesentwicklung sind wohl die intensivsten, denn hier werden die Grundlagen für das spätere Leben geschaffen. Oft wird Wissen in erster Linie mit Kenntnissen über Daten und Fakten assoziiert, die fachspezifisch und in Schule, Studium, Ausbildung und Beruf erforderlich sind.
    Doch der Mensch will auch Dinge erlernen, die viel lebensgrundlegender sind und mit Hilfe derer er sich mit sich selber auseinandersetzen kann. Er strebt nach Freiheit und Unabhängigkeit, nach Orientierung für die Identitätsstiftung. Wenn er auf der Suche nach Individualität, nach sich selber ist, helfen ihm keine Kenntnisse über Quantenphysik, sondern soziale Kompetenzen, Vertrauen, Zuversicht, Humor und die Fähigkeit, in der richtigen Situation auf Kopf oder Herz zu hören, um sich nicht "völlig neben [sich] stehend, [s]ich selbst betrachtend, verloren gehend in der einheitlichen Individualität der Welt" wiederzufinden. Im Idealfall erlernt der Mensch dies schon als Kind, doch selbst dann kommen in entscheidenden Umbruchsphasen des Lebens Zweifel auf. Es scheint wie "ein kreis ohne entkommen / aus den wirbeln des seins soll ich / mich finden". Seine Wünsche für die Zukunft zu bewahren und zu pflegen, gleichzeitig aber die Ungewissheit über den Lebensweg zu akzeptieren, erfordert Mut und Kraft, denn nicht nur "wer ich sein werde / steht offen", sondern auch "wer ich bin". "lernen / ich zu werden" ist ein langer Prozess, da man das Wissen selbstständig erwerben muss – niemand kann dir den Weg zu dir selber zeigen.
    Wissen zu erwerben – auch Wissen über sich selbst, seine "Stimme [zu] finden" – ist der "größte Gewinn", jedoch mit einem enormen Erwartungsdruck belastet, wodurch die Flucht hinter eine Maske verlockend wirkt. Doch eine Rolle zu spielen, macht den Menschen nur noch orientierungsloser, wo sein persönlicher Weg eigentlich verläuft. Die Suche nach Individualität kann zur Passivität führen, sodass "lernen […,] antworten zu finden" unmöglich wird.
    Wenn man aber Wissen erwerben will, dann wird "alles, was [man] lernen wollte / [einen] letztlich doch erreich[en]", denn selbst die Dinge, die "sinnbefreit [erscheinen], / weil der praktischen Umsetzung enthoben" sind wertvoll und bereichernd, lassen den Menschen "frei sein, mühelos, grenzenlos" und sich damit abheben von den "dumpfen[n] Seelen".
    Wir bedanken uns bei allen, bei denen "sachte […] die Erkenntnis [reifte]", was sie alles lernen wollten und wollen und gratulieren den März-Gewinnern:
    Alles, was ich lernen wollte – das Alphabet meiner selbst
    Ich bin Alles, nur nicht mutig
    Bin so unglaublich gewöhnlich,
    bin Chaotisch und ängstlich und so
    Durchschnittlich besonders
    Bin Eigentlich ganz anders, doch verstell mich immer wieder
    Und dann Finde ich mich wieder, völlig neben mir stehend,
    mich selbst betrachtend, verloren Gehend in der einheitlichen Individualität der Welt
    Und dann fang ich ständig an zu Heulen und weiß doch ganz genau warum
    Bin nie gut genug, um zu glänzen, nur eine von ganz vielen
    Halte nichts vom Lügen und belüg mich doch Immer wieder selbst
    Ich bin ich, doch kenn ich mich selbst nur flüchtig
    Ich Juble vor Freude und schrei laut vor Wut, doch nur ganz leise in meinem Kopf
    Aber ich bin keineswegs so wie die anderen und ganz sicher
    Längst nicht so, wie alle denken
    Mein Glaube macht mich aus, Naja das hätte ich zumindest gern
    Bin wie ein nicht fertig geschriebenes Buch, dessen Ende niemand kennt
    Wie Omega, komm immer erst zum Schluss
    Bin Perfekt im mich selbst verleugnen, wenn alle Welt nach Wahrheit sucht
    Quasselnde Gedanken voll Angst und Sehnsucht jagen durch mein Gehirn - Tag und Nacht -
    und Rumoren in meinem Kopf und geben keine Ruh´
    Und Ständig will ich so viel sagen…und behalt´s dann doch für mich
    Ich spiele oft Theater Und das leider nicht nur auf der Bühne
    Versteck mich hinter Maskeraden und Weiß selbst noch nicht genau, was eigentlich dahinter steckt
    Und dann finde ich mich wieder, völlig neben mir stehend,
    mich selbst betrachtend, verloren gehend in der einheitlichen Individualität der Welt
    Und ballere mich zu mit X-beliebigen Fragen, auf die ich sowieso keine
    Antwort weiß
    Bin meiner selbst nicht sicher, wie der Yeti im Himalaja
    Und am Ende, am Ende bin ich doch nur Zuschauer meiner selbst und
    Applaudiere bis zum
    Schluss
    Smila-Karlotta Blüm, Jahrgang 2000

    Was ich wollte
    Dumpfe Seelen kreisen leise
    übermannen meinen Geist
    Eckig stechen meine Kanten
    Eine Stimme schreit und reißt
    Wollte Klingen schweigen machen
    Wollte, dass die Kriege ruh‘n
    Blasse Häute auf den Leibern
    Glatt und reich und unbestimmt
    Meine Krusten pochen, wabern
    Dies ist mein und niemand nimmt
    Wollte Neid azurblau kleiden
    Wollte lernen, wie man liebt
    Worte fallen aus den Wänden
    Noten finden keinen Klang
    Halt‘ ich Blätter in den Händen
    Bin ich weder Frau noch Mann
    Wollte meine Stimme finden
    Wollte sein, wer sein ich will
    Alison Kuhn, Jahrgang 1995

    o.T.
    Alles,
    was ich lernen sollte,
    scheiterte an meinem Gebrechen,
    zerbarst an der Sturheit meines Körpers,
    raubte Lehrern und Therapeuten den Nerv
    und mir die Geduld.
    Vieles,
    das ich lernen wollte,
    traute man mir nicht zu,
    es war nicht vorgesehen für
    schwerstbehindert, stumme Wesen,
    die doch offiziell weder schreiben, noch lesen.
    Zärtlich
    streift das Wissen mich,
    sachte reift die Erkenntnis,
    mühelos, nur scheinbar sinnbefreit,
    weil der praktischen Umsetzung enthoben,
    mit meinem öde statischen Zustand verwoben.
    Alles,
    was ich lernen durfte,
    hebt mich auf eine andere Stufe,
    lässt mich frei sein, mühelos, grenzenlos
    und fliegen, während Arme und Beine
    der Schwerkraft gemäß
    am Rollstuhl kleben.
    So ist das eben!
    Alles,
    was ich lernen wollte
    hat mich letztlich doch erreicht.
    Wenn auch mein Zustand Wegweisern gleicht:
    festverankert, anderen die Richtung weisend,
    Gedanken vor der Umsetzung vereisend,
    häufig praktische Fortschritte verleidend,
    so ist dennoch mein größter Gewinn:
    alles, was ich lernen
    durfte.
    Raphael Müller, Jahrgang 1999

    Alles was ich immer lernen wollte
    Alles was ich immer lernen wollte war zu sein
    ein wesen
    ein mensch der ohne
    die anderen auskommt
    auf eigenen füßen
    stehen
    andere blicke zwar
    sehen doch
    nicht beachten kann
    ob ich das jemals lernen werde?
    das weiß ich nicht
    Alles was ich immer finden wollte war ich
    zwischen außen und
    innen
    zwischen leben und nichtleben
    jemand der er
    selbst ist und
    niemand anders
    keine kraftlose kopie
    ein eigenes
    leben lebt
    ob ich mich jemals finden werde?
    das weiß ich nicht
    es ist offen
    Alles was ich immer werden wollte ist verblasst
    ich seh es nicht
    erkenne es
    nicht
    wer ich bin steht
    offen
    wer ich sein werde
    steht offen
    ich weiß nicht wer ich bin
    ich will es
    wissen
    lernen
    ich zu werden
    ob ich mich öffnen werde um
    dich an mir
    schnuppern zu lassen ist offen
    Alles was ich immer lernen wollte war antworten zu finden
    auf fragen die
    gestellt oder ungestellt in
    der luft hängen
    bleiben
    die suche zu beenden
    es ist ein kreis ohne entkommen
    aus den wirbeln des seins soll ich
    mich finden
    antworten
    und doch nichts zieht mich
    heraus
    Ob ich jemals ein ende finden werde?
    das steht offen
    Marlin Lotta Nölle, Jahrgang 1998

    mehr als 42
    alles was ich lernen wollte
    waren gleichungen, formeln und zahlen
    waren versfüße und rhetorische Stilmittel
    historische ereignisse und komponisten
    ich wollte das klarinettenkonzert lernen
    wollte wissen, wie viele sterne es in dieser galaxie gibt
    wollte wissen was eine redoxreaktion ist
    und wie man kurvenintegrale berechnet
    und nichts davon hast du mir beigebracht
    ich habe so viel zeit mit dir verbracht
    habe dir so oft zugehört und nachgehakt
    wenn ich etwas nicht verstanden habe
    und ich habe am anfang ziemlich wenig kapiert
    von dem, was du mir beibringen wolltest
    eigentlich nichts
    aber gegen ende kam dann die erkenntnis
    nichts von dem was ich lernen wollte
    hast du mir beigebracht
    aber du hast mir geholfen meinen weg zu finden
    du hast mich bestärkt meinen weg zu gehen
    du hast mich gelehrt an mich selbst zu glauben
    und an das leben und die ewige hoffnung
    du hast mir beigebracht nicht aufzugeben
    von dir habe ich gelernt über das leben
    zu lachen und über mich selbst
    von dir habe ich gelernt die dinge mit humor zunehmen
    und den kopf nur in den sand zustecken
    wenn man einen tunnel graben will
    von dir habe ich gelernt mit hunden zu tanzen
    die klappe zu halten und einfach mal spaß zu haben
    von dir habe ich gelernt was vertrauen heißt
    und dass freunde wesentlich wichtiger sind als formeln
    von dir habe ich gelernt dass es im leben
    mehr gibt als fakten und zahlen
    dass noten und erfolge nicht alles sind und
    dass es irgendwie immer weiter geht
    alles was ich gelernt habe
    abgesehen von chemie, deutsch, mathe und phsyik
    hast du mir beigebracht
    obwohl ich das gar nicht wissen wollte
    und obwohl ich die frage nie gestellt habe
    hast du mir gesagt, dass die antwort
    größer ist als 42
    Magdalena Wejwer, Jahrgang 1997