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Die Stimme der Steine

Francis Ponge war der Entdecker der einfachen Dinge und leiser Sachwalter der gegenständlichen Welt. Er hat Gegenstände mit Worten zum Klingen gebracht. Doch auf seine eigene Entdeckung als Schriftsteller musste der Franzose zwanzig Jahre lang warten.

Von Maike Albath | 06.08.2013
    "Es sind zwei Wünsche, die mich als Dichter dazu bringen, die eigentlich normale Haltung des Schweigens zu übertreten. Die Funktion der Kunst ist immer eine erotische. Eros als Wunsch und Begierde, als Gegensatz zu Thanatos, zum Todestrieb. Das empfindet man von Kindheit an als ursprüngliche Emotion. Dazu kommt die Lust am Objekt, am Gegenstand, am Sein, an den Landschaften und an der äußeren Welt."

    Konzentriert und schlüssig legt der Dichter Francis Ponge 1967 in einem Rundfunkinterview seine poetologischen Überzeugungen dar - obwohl er zuvor betont hat, dass er für das Auge schreibe und nicht für das Ohr, und dass er nichts von öffentlichen Auftritten dieser Art hielte, bei denen er sich meistens widerspreche. Dennoch wird der Kern seiner Überzeugungen greifbar.

    Der Ausdruck der Seife
    Ponge geht es um die außermenschliche Wirklichkeit, die er möglichst präzise in den Blick zu nehmen versucht. In seiner Kurzprosa und Lyrik will er einem Ding, das belebt oder unbelebt sein kann, den ihm angemessenen Ausdruck verleihen: einer Zigarette oder einem Stück Seife, aber auch Pflanzen, Muscheln, Steinen oder den Meeresküsten.

    "Bis dorthin, wo es den Grenzen naht, ist das Meer eine einfache Sache, die sich Woge um Woge wiederholt. Aber in der Natur werden die einfachsten Dinge nicht ohne große Förmlichkeiten, ohne viel Umstände zugänglich, die dichtesten nicht, ohne eine gewisse Abhobelung zu erfahren. Daher stürzt sich der Mensch, wohl auch aus Rachsucht gegenüber der Unermesslichkeit, die ihn anödet, vorschnell auf die Ränder oder die Einschnitte der großen Dinge und möchte sie definieren."

    Am 27. März 1899 als Sohn einer wohlhabenden protestantischen Familie in Montpellier geboren, wuchs Ponge in Avignon auf und machte schon als Gymnasiast mit glänzenden Essays auf sich aufmerksam. Sein erstes Sonett veröffentlichte er mit siebzehn unter einem Pseudonym. Zwei Mal scheiterte er aus Nervosität an der mündlichen Aufnahmeprüfung der École Normale Superieure und absolvierte stattdessen ein Bakkalaureat in Jura, bis er 1918 für wenige Monate in den Ersten Weltkrieg eingezogen wurde. Francis Ponge sympathisierte mit der bolschewistischen Revolution, trat 1919 der Sozialistischen und später der Kommunistischen Partei bei. In seinem Elternhaus begegnete er dem Dichter Paulhan, der zu seinem Förderer wurde.

    Politisches Engagement
    Eine Zeit lang gefiel er sich in der Rolle des Bohemiens und arbeitete beim Verlag Gallimard in der Herstellung, wo man ihn wegen der Organisation eines Streiks hinauswarf. Er heiratete, schlug sich als Versicherungsvertreter durch und näherte sich den Surrealisten an, aber seine künstlerische Berufung schloss politisches Engagement nicht aus. Dass Ponge während des Zweiten Weltkriegs in der Résistance aktiv war, verstand sich von selbst. Jedem "Proème", wie er seine Mischungen aus Prosa und Poemen nannte, gingen stapelweise Notizen und Wortlisten voran. 1942 erschien sein Band Die Parteinahme der Dinge. Als Inspirationsquelle nannte Ponge das Wörterbuch von Littré - er wollte Definition und Deskription miteinander verbinden.

    Die Kerze
    Manchmal entzündet sich in der Nacht eine seltsame Pflanze, deren Schein die möblierten Zimmer in Schattenmassive zerteilt.
    Ihr Goldblatt steht in der Höhlung eines Alabastersäulchens reglos an tiefschwarzem Stiel.
    Die zerlumpten Falter bestürmen sie gern bei allzu hohem Mond, der die Wälder verdunsten lässt. Doch versengt sogleich oder erschöpft vom Tumult, schaudern sie alle am Rand einer Raserei, die der Betäubung gleicht.


    An der Form müsse der Dichter wie ein Handwerker arbeiten, außerdem gelte es, auf jeden Schein zu verzichten, betonte Francis Ponge. Erst Jean Paul Sartre macht Ponge 1944 einem größeren Publikum bekannt. Mitte der Fünfzigerjahre ernannte man ihn zum Professor an der Alliançe francaise. Hochgeehrt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, starb Ponge am 6. August 1988 mit neunundachtzig Jahren. Ein unbeirrbarer Beobachter und Wörterbuchleser blieb er bis zum Schluss.