Dienstag, 07. Mai 2024

Archiv


Die Stunde der Taktierer

Es wird sondiert und verhandelt. Die Parteien in Berlin taktieren, welcher Zusammenschluss am günstigsten fürs eigene Wahlprogramm und die Zukunft der Bundesrepublik sein wird: Große Koalition, Schwarz-Grün oder Rot-Rot-Grün?

Von Christel Blanke, Frank Capellan, Stephan Detjen, Katharina Hamberger | 30.09.2013
    Steinbrück: "Die Neigung der SPD tendiert gegen null, in eine große Koalition zu gehen. Kraft: Die SPD ist nicht dafür angetreten, um als Mehrheitsbeschafferin die CDU an der Regierung zu halten."
    Heil: "Uns geht’s um Inhalte und Überzeugung."
    Gabriel: "Die SPD ist zu Gesprächen bereit."

    Was SPD-Parteichef Sigmar Gabriel am Freitag verkünden konnte, ist der Stand gut eine Woche nach der Bundestagswahl. Es war kein leichter Weg für die SPD --- bis sie sich entschieden hat, in Sondierungsgespräche für eine große Koalition mit CDU und CSU zu gehen. Während die Union – schon allein aufgrund ihrer Position als Wahlsiegerin - sich offen und gelassen gab und gibt, was einen Koalitionspartner anbelangt:

    Klöckner: "Ich muss sagen: Bauch ist es Schwarz-Grün und Kopf Große Koalition, weil wir natürlich den Bundesrat immer mitbedenken müssen."
    Schäuble: "Wir werden eine Lösung finden. Unser Land erfordert eine stabile Regierung und die wird’s geben."
    Merkel: "Es geht immer als Erstes um das Land, dann um die Partei und dann um die Person."
    Seehofer: "Und dann schau ma mal - ist eine bayerische Lebensweisheit."

    Schauen muss vor allen Dingen der SPD-Vorsitzende, ob er seine Partei erfolgreich in eine Große Koalition führen kann. Zu diesem Bündnis sieht Sigmar Gabriel keine echte Alternative. Neuwahlen würden die SPD in die Katastrophe führen, eine Minderheitsregierung wird von der Kanzlerin ausgeschlossen, beim Nein zu einem Linksbündnis steht die Partei im Wort und Schwarz-Grün zuzulassen, wäre in seinen Augen ein strategischer Fehler, weil dann den Sozialdemokraten auf lange Sicht der Partner abhandenkommen könnte.
    Und so stimmen sich inzwischen selbst Parteilinke wie Vorstandsmitglied Ralf Stegner auf eine Wiederauflage der Großen Koalition ein:

    "Manchmal muss man Dinge tun, die man gar nicht will!"

    Zuvor muss Parteichef Gabriel aber noch die Mitglieder überzeugen. Etwa 470.000 Genossen sollen befragt werden, sie haben es am Ende in der Hand, ob es zu einem Koalitionsvertrag mit Angela Merkel kommen wird. Gabriel wird hart verhandeln, es geht auch um seine Zukunft. Denn sollte die Partei ihm auf den Weg in die Regierung nicht folgen, dürfte er als SPD-Chef kaum noch zu halten sein.

    "Wir haben einen Auftrag, für einen Politikwechsel gegenüber der bisherigen CDU/CSU/FDP-Koalition zu sorgen - in vielfältiger Weise insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, bei Löhnen, bei der Entwicklung auf dem Bildungssektor, bei Kommunen - und das wird Gegenstand unserer Gespräche sein."

    Mit am Tisch sitzt am kommenden Freitag auch der gescheiterte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Sein Regierungsprogramm für die ersten 100 Tage soll den Gesprächen mit der Union zugrunde gelegt werden. Mindestlohn, gleiche Bezahlung für Frauen und Männer, Mindestrente, Abschaffung des Betreuungsgeldes, doppelte Staatsbürgerschaft, Mietpreisbremse und – last but not least – Steuererhöhungen sind die zentralen Punkte, über die in den kommenden Wochen verhandelt werden dürfte. Diametral scheinen Union und SPD gerade in der Steuerfrage auseinander zu liegen.

    Steinbrück: "Der Spitzensteuersatz wird auf 49 Prozent angehoben für diejenigen, die ein zu versteuerndes Einkommen haben von über 200.000 Euro als Verheiratete. Die Abgeltungssteuer – also die Besteuerung von Kapitaleinkünften – wird von 25 auf 32 Prozent erhöht …"

    Merkel: "Wenn wir Steuererhöhungen machen, wenn wir die Einkommensteuer erhöhen, die Vermögensteuer einführen, dann besteht die Gefahr, dass wir nicht mehr Steuereinnahmen haben, sondern weniger, und dass wir nicht mehr Arbeitsplätze haben, sondern weniger, und diesen Weg wird die Union nicht gehen!"

    Ganz so apodiktisch, wie es die Kanzlerin nur einen Tag vor der Wahl noch einmal bekräftigt hat, ist die Haltung der Union allerdings längst nicht mehr. Vorsichtig hat Finanzminister Wolfgang Schäuble schon einmal an die Kompromissbereitschaft der eigenen Leute appelliert, und Sigmar Gabriel hatte bereits im August einen ersten Versuch unternommen, seine Genossen in der Steuerfrage von den Bäumen zu holen. "Ich finde Steuern zahlen nicht sexy", hatte Gabriel damals betont. Steuererhöhungen seien schließlich kein Selbstzweck. Peer Steinbrück war über solche Äußerungen in der heißen Phase des Wahlkampfes zwar nicht gerade erfreut, auch er mühte sich allerdings hörbar, in der Steuerfrage Brücken zu bauen.

    "Die Antwort ist: Je erfolgreicher wir bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug sind, desto naheliegender ist es auch, die Steuerlast der Bürgerinnen und Bürger zu verringern."

    Auch Angela Merkel hat ein Hintertürchen für eine Annäherung an die Sozialdemokraten immer offen gelassen. Sorgfältig hat die CDU-Vorsitzende ihre Worte gewogen, wenn es um das Nein zu höheren Steuern ging:

    "Deshalb werden wir – ich spreche jetzt für meine Partei – keine Steuern erhöhen."

    Der Zusatz – "Ich spreche jetzt für meine Partei" – zeigt, dass sie im Falle einer Großen Koalition durchaus bereit ist, an der Steuerschraube zu drehen. Im Regierungsprogramm ihrer Partei ist zudem kein Wort darüber zu finden, mit dem eine höhere Einkommensteuer ausgeschlossen würde. Formuliert ist darin stattdessen ein Nein zu Vermögensteuer und höherer Erbschaftssteuer. Hier müsste die SPD zurückstecken, einen höheren Spitzensteuersatz allerdings dürften die Sozialdemokraten in Koalitionsverhandlungen wohl durchsetzen können. Das schwarz-gelbe Gesetz zur Bekämpfung der sogenannten Kalten Progression werden sie im Bundesrat dann allerdings sehr schnell durchwinken müssen.

    "Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, wenn 40 Prozent oder mehr der Menschen heute keine Tariflöhne mehr haben, wenn dort nicht mehr klar ist, welche die Gewerkschaftsrolle ist, gibt es gute Gründe zu sagen, wo die weißen Flecken sind, da muss es Mindeststandards geben!"

    Eine schnelle Einigung zeichnet sich bei der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes ab. Die Kanzlerin hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihr Nein vor allem der Ablehnung durch die FDP geschuldet war. Dass aus dem Modell einer sogenannten Lohnuntergrenze, die branchen- und regionenabhängig ausgehandelt werden soll, schnell ein Mindestlohn per Gesetz werden könnte, gilt als wahrscheinlich – für die Sozialdemokraten ist diese zentrale Forderung aus dem Wahlkampf kaum verhandelbar.

    Sie ist ein Herzensanliegen - so wie es auf der anderen Seite für die CSU das Betreuungsgeld darstellt. "Das sollten wir akzeptieren", fordert bereits Johannes Kahrs, Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD. Schließlich sei das Betreuungsgeld längst Gesetz. Allerdings dürfte seine Partei versuchen, sich das Okay zur umstrittenen Prämie teuer zu erkaufen. So sehr Kahrs auf dem ideologisch besetzten Feld des Betreuungsgeldes auch Kompromissbereitschaft andeutet: Was die personelle Besetzung eines schwarz-roten Kabinetts angeht, beharrt der Sozialdemokrat auf einer Maximalforderung, die sich mit einem 25-Prozent-Ergebnis wohl kaum rechtfertigen lassen wird …

    "Unter fifty-fifty, also unter gleicher Augenhöhe: Kanzler auf der einen Seite, Finanzminister auf der anderen, wird es nicht funktionieren und wird es bei uns auch nicht durch die Mitgliedschaft durchgehen!"

    Es geht in Regierungsbündnissen nicht allein um die politische Sache. Koalitionen benötigen mehr als eine politische Agenda.

    "Um 2 Uhr 15 sagen wir Horst und Guido zueinander (Raunen, Gelächter) …"

    Guido Westerwelle schien vor Glück schier zu bersten, als er den Abschluss des schwarz-gelben Koalitionsvertrages vor vier Jahren als Verwirklichung einer Traumpartnerschaft feierte:

    "Das ist der Beginn einer großen Freundschaft."

    Doch es dauerte nur Wochen, bis die Fassade bröckelte. Und schlimmer als alle Kommunikationspannen und politisches Missmanagement wirkten die menschlichen Vertrauensschäden, die die Regierungspartner immer weiter auseinander trieben.

    Jahrelang hatte Angela Merkel ein enges Vertrauensverhältnis zu Guido Westerwelle aufgebaut. Spätestens als der FDP-Chef ein Jahr nach der Regierungsübernahme von einer übermütigen Nachwuchsriege aus den eigenen Reigen von der Parteispitze gedrängt wurde, begann die Union sich innerlich von den Liberalen als alleinigem Wunschpartner abzuwenden. Bei vielen führenden Unionspolitikern war die Erinnerung an die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten in den Zeiten der letzten Großen Koalition noch frisch:

    "Peter Struck ist mir in diesen vier Jahren als Fraktionsvorsitzender ein wirklich guter Freund geworden."

    Erinnerte sich Volker Kauder Anfang dieses Jahres in einer bemerkenswerten Rede, die er auf einer Trauerfeier für den im vergangenen Dezember verstorbenen Peter Struck hielt. Als Vorsitzende der beiden Regierungsfraktionen hatten beide hinter den Kulissen immer wieder dafür gesorgt, dass Konflikte in der Koalition sorgsam abgegrenzt und Absprachen aus den Koalitionsrunden im Kanzleramt im Parlament umgesetzt wurden.

    "Als wir dann herausgegangen sind, hat er den Satz gesagt, den ich häufiger von ihm gehört habe: ‚Volker, so machen wir das …"

    Ich vermisse ihn, sagt Volker Kauder über seinen Freund Struck. Still und leise machte er im Wahlkampf dieses Jahres einen Abstecher ins niedersächsische Uelzen, um das Grab Strucks zu besuchen. Kauder wird sich dort gefragt haben, ob er wohl noch einmal einen so zuverlässigen politischen Partner finden wird.

    Ähnliche Fragen aber dürften sich indes auch die Sozialdemokraten stellen, wenn sie am Freitag die Gespräche mit der Kanzlerin aufnehmen. Trotz aller Kritik an Angela Merkel, trotz des öffentlich demonstrierten Ärgers über ihren Vorwurf europapolitischer Unzuverlässigkeit der SPD galt die Regierungschefin auch bei führenden Sozialdemokraten in Zeiten der Großen Koalition als vertrauenswürdiges Gegenüber. Hätte man es aber während der kommenden vier Jahre tatsächlich die ganze Zeitspanne über mit Merkel zu tun?

    Die Frage, ob, wann und wie die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende einen Generationenwechsel in der eigenen Partei einleitet, wird in der neuen Wahlperiode für Fragen und Spekulationen sorgen.

    "Ich würd mal sagen es hat sich schon noch immer noch jemand gefunden, der was werden wollte in Deutschland,"

    … wischte Merkel das heikle Thema im Wahlkampf beiseite. Die Frage aber, ob Merkel ihre dritte Amtszeit wie versprochen bis zum Ende ausführt, ob sie gar für eine vierte Wahlperiode antritt oder im Laufe der nächsten Jahre eine Nachfolge zu regeln versucht, wird sowohl für die Union als auch für die SPD die unausgesprochene Schlüsselfrage bei allen Planspielen für ein neues Bündnis sein.

    Diese Planspiele beginnen am Freitag um 13 Uhr in der Parlamentarischen Gesellschaft mit Sondierungsgesprächen zwischen Union und Sozialdemokraten. Dann erst wird weiteres entschieden. SPD-Parteichef Sigmar Gabriel:

    "Der Konvent hat heute nicht den Weg frei gemacht für Koalitionsverhandlungen, sondern für Sondierungsgespräche."

    Sollte sich nach der Sondierung abzeichnen, dass man sich auf einen Vertrag einigen könnte, beginnen die eigentlichen Koalitionsverhandlungen.

    Nach der Bundestagswahl 2009 ging das sehr schnell. Nur 19 Tage brauchten Union und FDP, um sich auf einen 132-seitigen Koalitionsvertrag zu einigen. Dieses Mal gilt es als unwahrscheinlich, dass eine neue Regierung schon stehen wird - bevor sich der neue Bundestag am 22. Oktober konstituiert. Denn die SPD will zusätzlich noch ihre Mitglieder über einen Koalitionsvertrag entscheiden lassen. Zügig und gründlich sollen die Koalitionsverhandlungen nach Vorstellung von CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe ablaufen:

    "Ein Sondierungsgespräch dient ja auch dafür, ein Gespür dafür zu kriegen, welchen Zeitplan beide für angemessen halten."

    Die Gespräche mit der SPD schließen aber ein anderes Bündnis nicht aus. Gröhe hat bereits angekündigt, dass auch die Grünen zu Sondierungsgesprächen eingeladen werden – und zwar am Freitag kommender Woche.

    "Wenn sich die Grünen politisch dort verorten, wo sie im Bundestag sitzen – zwischen der Union und der SPD – dann wäre es ganz falsch, sie nicht als Gesprächspartner ernst zu nehmen."

    Stillstand herrscht in der deutschen Politik dennoch nicht. So wird sich in jedem Fall der Bundestag konstituieren und zwar am 30. Tag nach der Bundestagswahl, am 22. Oktober. Die bisherige schwarz-gelbe Regierung bleibt erst mal geschäftsführend im Amt.
    Was aber, wenn es weder zu einer Großen Koalition noch zu einer schwarz-grünen Koalition kommen sollte? Dann wäre eine Minderheitsregierung von CDU und CSU möglich.

    SPD, Linke und Grüne müssten diese Minderheitsregierung allerdings dulden. Der Bundespräsident schlägt dem Bundestag dann eine Kandidatin oder einen Kandidaten für die Wahl des Bundeskanzlers vor. Sie oder er müssen mit absoluter Mehrheit gewählt werden, um anschließend vom Bundespräsidenten ernannt zu werden. Falls nicht, kann der Wahlgang innerhalb von 14 Tagen wiederholt werden. Und jede Partei kann nun eigene Kandidaten vorschlagen. Ein weiterer, ein dritter Wahlgang ist möglich. Wenn es ein Kandidat schließlich schafft mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinigen, muss der Bundespräsident sie oder ihn innerhalb von sieben Tagen zum Bundeskanzler ernennen.

    Falls das nicht gelingen sollte, hat es Joachim Gauck in der Hand. Der Bundespräsident kann den Bundestag auflösen, dann würde es Neuwahlen geben. Oder aber das Staatsoberhaupt sagt, was der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer beschreibt:

    "Gut, Minderheitsregierung, aber es ist ausreichend Stimmen da. Ich kann sie auch nach dem dritten Wahlgang zur Kanzlerin ernennen, weil die einfache Mehrheit - von im Prinzip doch so viel Zustimmung aus dem Basiskonsens, der in dieser Gesellschaft ja schon seit Ende der 50er Jahre existiert zufließt - das man sagen kann: Da kommt keine Krise des Regierungssystems."

    Lang anhaltender Applaus, stehende Ovationen – auch das gibt es noch bei den Grünen nach der Bundestagswahl. Im Vordergrund steht die Selbstkritik beim Treffen in den Weddinger Uferstudios. Doch Steffi Lemke und Claudia Roth, der Bundesgeschäftsführerin und der Parteivorsitzenden, wird Respekt gezollt. Respekt für die Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen für das desaströse Wahlergebnis. Beide stellen ihr jeweiliges Amt zur Verfügung. Claudia Roth wird allerdings gemeinsam mit dem Co-Vorsitzenden Cem Özdemir und den beiden Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin Sondierungsgesprächen mit der Union führen. Gewohnt kämpferisch warnt Roth die Grünen davor, sich durch wieder aufflammende Flügelkämpfe selbst zu schwächen:

    "Gerade jetzt müssen wir uns bei allem Streit, und ich streite mich gerne mit meinen Realofreunden und – freundinnen, gerade jetzt müssen wir uns darauf verlassen können, dass nicht ausgerechnet ein Herr Seehofer oder ein Herr Schäuble Aschenputtel spielen dürfen: die guten Grünen ins Töpfchen und die schlechten Grünen ins Kröpfchen. Das geht gar nicht."

    CSU-Chef Horst Seehofer will nicht mit dem scheidenden Fraktionschef Jürgen Trittin verhandeln. Die Grünen sind zu Sondierungsgesprächen mit der Union bereit. Und die sollen mit aller Ernsthaftigkeit geführt werden:

    "Nur eins ist auch klar: jetzt sondiert gerade die SPD mit der Union. Und es gibt keine Parallelsondierungen, um den Preis zu drücken mit der SPD. Dafür stehen wir sicherlich nicht zur Verfügung."

    Parteichef Özdemir fordert für die Zukunft einen Kurs der Eigenständigkeit. Die Partei braucht Machtoptionen, sagt er, jenseits von Rot-Grün. Ein 180-Grad-Schwenk soll das aber nicht sein:

    "Kurs der Eigenständigkeit ist nicht ne Metapher für Schwarz-Grün. Kurs der Eigenständigkeit kann auch heißen, dass man Rot-Rot-Grün probiert."

    Für den baden-württembergischen Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat eine Positionsbestimmung jetzt Priorität:

    "Die erste Frage ist, wer sind wir, wo stehen wir, wozu sind wir überhaupt da? Wir sind in erster Linie dafür da, dass wir unsere ganze Lebensweise, die Wirtschaft, den Verkehr, mit den Lebensgrundlagen unseres Planeten in Übereinstimmung bringen."

    Genau daraus ergibt sich auch die Grundlage für mögliche Sondierungsgespräche mit CDU und CSU, oder auch mit SPD und Linken. Für Jürgen Trittin ist die entscheidende Frage:

    "Ist es möglich, in diesen Mehrheitsverhältnissen zentrale Elemente grüner Politik auch tatsächlich umzusetzen."

    Streng nach Inhalten soll die Partei entscheiden, empfiehlt Trittin im Nachrichtenmagazin Spiegel. Und sich an dem orientieren, was längst formuliert wurde. Das 100-Tage-Programm und die Schlüsselprojekte, die in einem Mitgliederentscheid festgelegt wurden. Steuererhöhungen stehen dabei nicht an erster Stelle. Sondern der Umbau der Energieversorgung und ein Ende der Massentierhaltung. Urgrüne Themen also.

    Das gewichtigste Thema aber, das auf jedes neue Regierungsbündnis schon in den nächsten Wochen wieder zukommen wird, ist Europa und die Stabilisierung des Euro. Wenn Angela Merkel im Dezember zum Europäischen Rat nach Brüssel reist, werden sich die Blicke der Staats- und Regierungschefs fragend auf die alte und vermutlich auch neue deutsche Kanzlerin richten. Welchen Kurs wird Deutschland als wirtschaftliche bedeutendste Leitmacht der EU vorgeben?

    "Mehr Europa! Das ist die Parole, das ist die Überzeugung der Christlich Demokratischen Union …"

    Von dieser Lehre, die Merkel vor mehr als einem Jahr auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise formuliert hatte, war im Wahlkampf nur noch wenig zu hören. Auf einer Deutschlandfunk-Veranstaltung im August kündigte die Bundeskanzlerin sogar an, nach der Wahl über einer Rückverlagerung von Kompetenzen an die Mitgliedsstaaten verhandeln zu wollen:

    "Wir können auch überlegen, geben wir mal wieder was zurück. Die Niederländer diskutieren im Augenblick gerade darüber. Und diese Diskussion werden wir nach der Bundestagswahl auch führen."

    Tatsächlich hat Merkel in verschiedenen Äußerungen im Laufe der letzten Jahre immer wieder anklingen lassen, dass sie bei ihrer künftigen Europapolitik stärker auf bilaterale Bündnisse setzen wolle, um die die zähen und langwierigen Verhandlungsprozesse im Kreise aller EU Mitglieder zu umgehen. SPD ebenso wie Grüne setzten zumindest in ihren Wahlprogrammen dagegen auf eine Stärkung der europäischen Gemeinschaftsinstitutionen, des Parlaments und des Rates, als einer weiter entwickelten EU-Regierung. Fragen, die für die Zukunft der Demokratie in Europa von zentraler Bedeutung sein werden, wurden im Bundestagswahlkampf allerdings von keinem der möglichen Koalitionspartner in Berlin zum Thema gemacht. Erst in der Schlussphase spitzten Merkel und Steinbrück ihren Wettbewerb auch auf dem Feld der Europapolitik noch einmal höchstpersönlich zu:

    Merkel: "In der Frage der Eurokrise ist die Sozialdemokratie total unzuverlässig. Da ist von Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, gemeinsamer Haftung bis hin auch zum Gegenteil schon alles gesagt worden. Und ich glaube, es ist sehr, sehr wichtig, dass man mit einer einheitlichen Richtung jetzt diese Krise weiter bewältigt."

    Steinbrück: "Sie müssen genau wissen, dass sie damit Brücken zerstören. Dass sie damit Gemeinsamkeiten in der Zukunft unmöglich machen, wo wir vielleicht auf diese Gemeinsamkeiten angewiesen sind."

    Die Vorhersage des erzürnten Kanzlerkandidaten ist eine Woche nach der Wahl Wirklichkeit geworden. Nach dem Werben um das Vertrauen der Wähler beginnt für die Kanzlerin in dieser Woche die schwierige Suche nach Gemeinsamkeiten und dem Vertrauen ihrer möglichen Regierungspartner.

    Mehr zum Thmea:
    Regierung gesucht - alle Beiträge im Überblick