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Dürrenmatts "Besuch der alten Dame"
Kleinstadtbürger an den Grenzen ihrer Moral

Friedrich Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" hat nichts an Aktualität eingebüßt. Und mit Mechthild Großmann in der Hauptrolle hat die Inszenierung von Anselm Weber am Schauspiel Bochum eine große Schauspielerin, um die sich alles dreht. Aber auch sie kann nicht verhindern, dass das Stück letztlich wie eine überdeutliche Lehrparabel wirkt.

Von Dorothea Marcus | 02.05.2015
    Alle warten. Die in beige-biederer Alterskluft gekleideten Bewohner der Kleinstadt Güllen.
    Wie provinzmuffelige Comicfiguren glotzen sie aus den Öffnungen des verschachtelten, runden Bühnenlabyrinths aus abgewetzten, schwarzen Brettern, während die Züge vorbeidonnern.
    Und natürlich auch die Zuschauer. Auf sie - Claire Zachanassian, die Multimillionärin, einst Kind der Stadt - und nun auf Besuch in der alten Heimat. Und dann wird sie auf der Sänfte durch eine Saaltür hereingetragen, in wallender roter Lockenpracht, in schlichtes Schwarz gekleidet, mit einer Entourage aus cowboyhütigem Ehemann und ergebenen Assistenten.
    "Güllener! Bürgermeister, Eure selbstlose Freude über meinen Besuch rührt mich. Um jedoch meinen Beitrag an eurer Freude zu leisten, will ich gleich erklären, dass ich bereit bin, Güllen eine Milliarde zu schenken. Unter einer Bedingung! (Freudenschreie…)"
    Mechthild Grossmann muss auf der Bühne nicht viel tun, um die korrumpierbaren Kleinstadtbürger an die Grenzen ihrer Moral zu führen - und eine zweifelhafte, von langer Hand geplante Rache zu nehmen. Sie fordert für die Milliarde den Tod ihres ehemaligen Liebhabers Ill, der von der Gemeinde zunächst entrüstet im Namen der Humanität abgelehnt wird.
    "Das Leben ging weiter - aber ich habe nichts vergessen. Nun sind wir alt geworden. Du vom Kopf, ich von den Messern der Chirurgen zerfleischt. Und nun will ich Gerechtigkeit."
    "Noch sind wir in Europa! Noch leben wir die Werte unserer Kultur!"
    Mechthild Großmann steht meistens einfach nur da, mit einem schmalen schwarzen Stock wie ein Varieté-Direktor, während sich das Bühnenlabyrinth in eine heruntergekommene Zirkusarena verwandelt. Dort verwandelt sich der hochgeachtete Bürgermeisterkandidat und Kaufmann Ill in ein gehetztes Tier. Oder sie wartet entspannt ab, eine Etage höher, lehnt sich Zigarre rauchend und abgeklärt in einen roten Liegestuhl, während sich die Bürger unten mit immer prachtvolleren Kleidern, Handys und Waffen verschulden - und der Mord am Mitbürger immer notwendiger erscheint. Eine große Schauspielerin mit einer großen Ausstrahlung. Währenddessen wechseln ihre Ehemänner wie alberne Ausstellungsstücke. Dazwischen bringt Regisseur Anselm Weber noch schnell einen Hinweis auf die große Bühnenkarriere seiner Starschauspielerin unter: In hinten halboffenen Hochzeitskleid sieht sie auf einmal aus wie die Figur aus Pina Bauschs legendärer Choreografie „Two cigarettes in the dark“, mit der Mechthild Großmann einst um die Welt reiste. Zu größerem Erkenntnisgewinn führt das jedoch nicht. Als sich endlich Ill selbst geopfert hat, zieht Claire Zachanassian so schnell wie möglich, fast schon gehetzt, mit ihrer Entourage weiter - kein bisschen glücklicher. Mechthild Großmann bewahrt in ihrem Spiel zwar stets eine lässige Abgeklärtheit und ein leichtes, überlegenes Lächeln. Jene Einsamkeit und Verlorenheit, die Zynismus und vollzogene Rache mit sich bringen, merkt man ihr indes nicht an - tiefere Facetten zeigt sie letztlich nicht von Dürrenmatts Figur.
    Und so ist "Der Besuch der Alten Dame" von 1956 zwar gewiss von ungebrochener Aktualität, indem das Stück zeigt, dass der Firnis der Zivilisation dünn ist wie eh und je und Kapitalismus mehr als je korrumpiert. Anselm Weber hat die Tragikomödie zwar maßvoll modernisiert: keine blinden Kastraten mehr als Claires Begleitung, Handy-Selfies mit dem Todgeweihten, Dinkelvollkornbrot im Krämerladen, schöne Videoprojektionen auf den Bretterwänden, herumgebaut um das ruhende Zentrum Mechthild Großmann. Und doch kann auch sie nicht verhindern, dass der Abend letztlich altbacken wirkt wie ein gediegenes Boulevardstück, ein wenig zu aufgesetzt albern und überdeutlich wie eine Lehrparabel, die erzählt, was man schon lange weiß.