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Ein Buch, das keines ist

Im Rahmen von Heinrich Manns gesammelten Werken erscheint jetzt ein Buch, das keines ist. Vom 8. September bis zum 31. Dezember 1939 führte er ein Journal, in dem er sich über den Verlauf des Krieges, den Hitler eben begonnen hatte, grundsätzlich Klarheit zu verschaffen versuchte - ein, wie sogleich einzusehen ist, ganz und gar verzweifeltes Unterfangen. Sodann hat er zwischen März und Mai 1941 ein Resümee seiner Reflexionen und Beobachtungen zu schreiben versucht, die das Tagebuch einleiten, aber dessen Aussagekraft weiter schwächen.

Von Michael Rutschky | 21.01.2005
    Wie sollte es anders sein? Ende 1939 lebte Heinrich Mann sicher im geliebten Frankreich; 1941 hat er in die USA fliehen müssen, das Frankreich, welches er für das Modell Europas hielt, ist schmählich untergegangen. Im August 1939, kurz bevor das Tagebuch einsetzt, ist ihm noch eine andere Idealgestalt, von der er Großes für die Zukunft der Menschheit erwartete, abhanden gekommen: Stalin. Zwar hielt Heinrich Mann die Moskauer Schauprozesse gegen die inneren Feinde der Sowjetunion für vollkommen gerechtfertigt. Aber als der Leiter der sowjetischen Politik jenen Pakt mit Hitler abschloss, der den beiden Diktatoren die Aufteilung Polens erlaubte, gerät Heinrich Mann ins Zweifeln.

    In tiefe Verzweiflung. Und dem Tagebuchschreiben als literarischer Disziplin misslingt es gänzlich, den Autor zu stabilisieren. Denn er beschäftigt sich nicht stoisch damit, Tag für Tag zu verzeichnen, welche Informationen er erlangen konnte, was Freunde und Bekannte tun und lassen, welche Schrecken und Hoffnungen ihn erfüllen. Keine täglichen Notizen in Stichworten, mit denen Thomas Mann viele Hefte gefüllt hat und die den Leser heute als Stoff so faszinieren.

    Was Heinrich Mann in seiner Verwirrung und Verzweiflung versuchte, war etwas ganz anderes. Er wollte sich, während die Kriegsereignisse abzurollen beginnen, einen abschließenden Reim darauf machen, wie schlecht die Informationslage auch war, wie quer sie zu seinen Wünschen stand. Immer wieder muss der ausführliche Sachkommentar - des Leipziger Historikers Hans Bach - Fehleinschätzungen und Fehlinformationen offen legen und korrigieren.

    Schwere Illusionen hegt Heinrich Mann beispielsweise über die Deutschen, von denen er meint, dass sie in überwältigender Mehrheit die Nazidiktatur ablehnen und nur durch Terror bei der Stange zu halten sind. Immer wieder versucht er sich davon zu überzeugen, dass die sowjetische Besetzung Ostpolens keine Annexion ist, sondern dem Schutz Polens vor Hitler gilt. Aber auch Vorgänge der französischen Politik bleiben ihm verschlossen. Oft genug weiß der Leser überhaupt nicht, was Heinrich Mann vor Augen hat, wenn er ausgreifend die Tagesereignisse kommentiert, und hier kann der Sachkommentar auch keine Abhilfe schaffen, er würde einfach zu umfangreich.

    Das alles hängt mit der Wunschtendenz des Tagebuchs zusammen. Heinrich Mann möchte kein Chronist sein; er möchte durch ein grübelndes, immer wieder auf stilistische Brillanz zielendes Schreiben - als wäre dadurch etwas gewonnen - den Ausgang des Krieges herausprozessieren. Hitler soll verlieren, ein zivilisiertes und demokratisches Europa soll sich neu bilden, der Kommunismus soll eine schöne Zukunft haben: haargenau in den drei Hinsichten, in denen von 1939 bis 1941 nur Rückschläge und Niederlagen zu verzeichnen sind, soll die Geschichte so zurechtgedacht werden, dass sie gut ausgeht. Es handelt sich weniger um ein Tagebuch denn um eines der aussichtslosen Selbstermutigung.

    Dabei beginnt Heinrich Mann, der kein Englisch spricht und dem die britische Tradition fern liegt, eine neue Idealgestalt aufzubauen: Winston Churchill. Zwar beschwört er weiterhin Frankreich als Hort von Vernunft und Humanität; doch schwant ihm, dass in Wahrheit Churchill und Großbritannien der kriegerische Wille erfüllt, Hitler niederzukämpfen. Der Präsident Roosevelt, dessen USA den Exilanten aufnehmen, kommt erst allmählich in Sicht.

    Heinrich Manns Kriegstagebuch ist eine schmerzhafte Lektüre. Das Grübeln, die stilistische Überanstrengung, die Fehlinformationen, die zu grandiosen Fehleinschätzungen führen, dies alles bezeugt eine fundamentale Ohnmacht, der sich der Autor jedoch nicht zu stellen vermag. Ein ins Ausland vertriebener Schriftsteller gelangt durch grundsätzliche Aufstellungen über Macht und Moral und Geist zu keinerlei Souveränität, was seine Lage angeht; als Gesten der Selbstermächtigung sind solche Aufzeichnungen zuweilen sogar ein wenig peinlich.

    Man kann es auch anders sagen. Zu der Zeit, da Heinrich Mann in diesem Kriegstagebuch den Überblick zu erlangen versuchte, musste ein Romancier sich zugleich noch als Leitartikler und Politikwissenschaftler und Geschichtsphilosoph präsentieren, Funktionen, von denen die Belletristik heute glücklicherweise entlastet ist. Zu welcher Verzweiflung die Konfusion dieser Funktionen gerade in schrecklichen Zeiten führen kann, dafür bietet Heinrich Manns Kriegstagebuch ein überaus lehrreiches Beispiel.

    Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill. Frankfurt/Main: S. Fischer 2004.
    546 Seiten, EUR 22,90