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Ein Dokudrama in Buchform

Die Flut der Literatur über die längsten 12 Jahre der deutschen Geschichte nimmt nicht ab. Umso verwunderlicher ist es, dass immer noch Biographien vorgelegt werden, die wichtige Repräsentanten der Zeit erstmals umfassend darstellen. Im vorliegenden Band geht es um Kurt von Hammerstein-Equord, dem letzten Generalstabschef der Reichswehr in der Weimarer Republik. Der Schriftsteller und Essayist Hans Magnus Enzensberger hat sich von verschiedenen Seiten an eine faszinierende Persönlichkeit angenähert. Henry Bernhard hat das Buch für Sie gelesen.

14.01.2008
    Bei der Vermittlung von Geschichte steht das Fernsehen vor einem immer wiederkehrenden Dilemma: Wie soll es die Zeiten bebildern, die noch nicht von der überbordenden Bilderwut beseelt war, die alles und jeden in seiner Biographie filmisch festhält? Aus dem Dilemma erwuchs das Dokudrama, das das vorhandene Bildmaterial nutzt und uns mit nachgestellten Szenen ein Bild davon macht, wie es möglicherweise gewesen sein könnte. Im Ergebnis der wenigen gelungenen Dokudramen verwischen mitunter Original und Fiktion so sehr, dass man sich nicht sicher ist, ob Armin Müller-Stahl nicht der bessere Thomas Mann war. Hans Magnus Enzensberger, der noch immer für Überraschungen gut ist, hat nun ein Dokudrama in Buchform verfasst. "Hammerstein oder Der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte" ist Titel und Programm zugleich. Im Zentrum steht Kurt von Hammerstein-Equord, Generalstabschef der Reichswehr von 1929 bis Anfang 1934, also vom Ende der Weimarer Republik bis in das erste Jahr der Nazi-Herrschaft.

    Die Geschichte ihrer Familie beschäftigt mich, weil sie
    viel darüber sagt, wie man Hitlers Herrschaft überstehen
    konnte, ohne vor ihm zu kapitulieren.


    In der bislang vorliegenden Literatur taucht Hammerstein nur in mageren Abschnitten und Fußnoten auf, voller Gerüchte und Unwägbarkeiten. Sicher ist soviel: Kurt von Hammerstein wird 1878 in alten, aber armen Adel hineingeboren, wird schon mit 10 Kadett, mit 20 Offizier, steigt schnell in den Generalstab auf, gilt als besonnen, genial und "stinkend faul". Lieber als an den Schreibtisch geht er auf die Jagd. Als Hammerstein einmal gefragt wird, wie er seine Offiziere beurteile, sagt er:

    "Ich unterscheide vier Arten. Es gibt kluge, fleißige, dumme und faule Offiziere. Meist treffen zwei Eigenschaften zusammen. Die einen sind klug und fleißig, die müssen in den Generalstab. Die nächsten sind dumm und faul; sie machen in jeder Armee 90 Prozent aus und sind für Routineaufgaben geeignet. Wer klug ist und gleichzeitig faul, qualifiziert sich für die höchsten Führungsaufgaben, denn er bringt die geistige Klarheit und die Nervenstärke für schwere Entscheidungen mit. Hüten muss man sich vor dem, der dumm und fleißig ist; dem darf man keine Verantwortung übertragen, denn er wird immer nur Unheil anrichten.

    Hammerstein war als preußisch-adliger Offizier natürlich ein Konservativer; doch als sein Schwiegervater und Vorgesetzter den reaktionären Kapp-Putsch anzettelt, verweigert er den Befehl. Er zeigt nie Sympathien für die Nazis, sie kreisen einfach unter seinem intellektuellen und moralischen Horizont. Am 26. Januar 1933 versucht er vergeblich, den Reichspräsidenten Hindenburg davon abzuhalten, Hitler zum Reichskanzler zu machen. Er erwägt sogar einen Putsch, fürchtet aber einen Bürgerkrieg. Folgerichtig bittet er nach einem knappen Jahr Naziherrschaft Ende 1933 um Entlassung aus dem Dienst. Solange er aber noch im Amt ist, nutzt er seine Stellung, um gefährdete Leute vor dem Zugriff der Gestapo warnen zu lassen. Nach seiner Pensionierung lebt die Familie spartanisch, an Reisen oder Geld für das Studium der 7 Kinder ist nicht zu denken. Angebote aus der Industrie jedoch lehnt Hammerstein ab: Sie hätten politische Konzessionen von ihm erfordert, zu denen er nicht bereit ist.

    Hammerstein hat Kontakt zu den späteren Verschwörern des 20. Juli, auch zwei seiner Söhne sind unabhängig davon selbstverständlich dabei. Er erzählt jedem, der es hören will, von seiner Abscheu vor den Nazis, von seiner Gewissheit seit 1939, dass Deutschland den Krieg verlieren würde. Zwei seiner Töchter sind im kommunistischen Widerstand und berichten an die Komintern in Moskau. Hammerstein respektiert ihren Weg. Solche Geschichten liest man nicht oft von deutschen Militärs. Man wird an das "Ich nicht" erinnert, dass Joachim Fest von seinem Vater berichtet hat, an die Totalverweigerung einiger weniger konservativer Liberaler, die in dem braunen Jubel nur Abgründe sehen konnten.

    Enzensberger ist in seinem Buch vor allem staunend dem "Skandal der Gleichzeitigkeit" auf der Spur, dem Phänomen, dass es auch unter totalitären Regimes noch Privates, Verborgenes, ja Banales gibt, dass ein kleiner geschützter Raum für widerständiges Denken und Handeln existiert.

    An Überwachungsmöglichkeiten, wie sie heute auch in demokratisch verfassten Gesellschaften zum Alltag gehören, war damals noch nicht zu denken. Dass es unter den Bedingungen eines solchen Regimes Zonen scheinbarer Normalität gegeben hat, ist allerdings kein Trost; im Gegenteil, es mutet eher unheimlich an. Den Nachgeborenen muss es schwer fallen zu verstehen, wie ungerührt >unpolitische< Lebenswelten im Angesicht des Terrors überwintern konnten. Dem Skandal der Gleichzeitigkeit ist jedoch mit rasch gefällten moralischen Urteilen nicht beizukommen; denn er lässt sich nicht einfach auf die Vergangenheit zurückdatieren. Seine Virulenz ist auch unter heutigen, weit komfortableren historischen Bedingungen nicht erloschen.

    Hier erteilt Enzensberger dem moralisierenden Furor der Nachgeborenen aller Zeiten eine Abfuhr, die Blindheit nur bei ihren Eltern und Großeltern wahrnehmen wollen. Es ist die alte Frage, wie man mit Splittern und Balken in den eigenen und in fremden Augen umgeht.

    Enzensberger hat sich mit Hilfe des renommierten Historikers Reinhard Müller durch Archive gearbeitet und noch lebende Kinder Hammersteins befragt. Die zutage geförderten sicheren Fakten über Hammerstein selbst bleiben dürr. Aber der Autor geht souverän damit um: Er präsentiert uns die Erinnerungen der Zeitzeugen als das, was sie sind: als Möglichkeiten, Varianten, persönliche Wahrheiten. Sie können sich ebenso verweigern wie sich Dokumente unserem Zugang erwehren können. In "Glossen" genannten Kapiteln ordnet Enzensberger, mit eigener Stimme und Meinung sprechend, die Zeitläufe. In "Totengesprächen" legt Enzensberger den fiktiv Interviewten eine Mischung aus Erdachtem und Kolportage in den Mund - und entzieht sich so dem Zwang zur historischen Faktizität. Möglicherweise kann er sich mit dieser Methode der Wahrheit ebenso annähern wie der weniger flexible Historiker.

    Eindeutigkeit ist ein heiß begehrtes Gut, vor allem, wenn es darum geht, nicht über sich selbst, sondern über andere Gericht zu halten, ein Bestreben, das es sich in aller Regel zu leicht macht. Es bleibt ein ungesagter Rest, den keine Biographie auflösen kann; und vielleicht ist es dieser Rest, auf den es ankommt.

    ... bekennt Enzensberger am Ende zweifelnd und selbstkritisch. Und so ist es auch keine "richtige" Biographie; und wenn doch, dann eine Biographie eines Mannes, seiner Frau, seiner 7 Kinder und deren Ehemännern, Freunden und Weggefährten. Enzensberger entwirft ein Panorama einer widersprüchlichen, aber offenen und intakten Familie in einer zerrissenen Zeit. Es fasziniert ihn, wie eine Familie, deren Herkunft gänzlich anderes vermuten lässt, schlichtweg NEIN sagt, während Abermillionen HURRA brüllen.

    Hammersteins Tochter Maria Therese verweigert auf dem Standesamt den vorgeschriebenen Hitlergruß, obwohl sie sich unauffällig verhalten muss, obwohl sie einen sogenannten "Vierteljuden" heiratet. Als Hammerstein 1943 an Krebs verstirbt, erklärt sein Sohn Kunrat dem für das Begräbnis zuständigen General, dass es seinem toten, wehrlosen Vater nicht zuzumuten sei, unter der Hakenkreuzfahne beerdigt zu werden. Anstand und Würde scheint den Kindern von zu Hause in Überfülle mitgegeben worden zu sein.

    In seinem Clan hat es keinen einzigen Nationalsozialisten gegeben. Nicht allzu viele deutsche Familien können das von sich sagen.

    Enzensbergers Erzählung mäandert, verstärkt durch die verschiedenartigen Erzählweisen, zwischen Zeiten und Personen hin und her, ohne aber den Gesamtzusammenhang zu verlieren. Man folgt seinen Ausflügen gern.

    Immer wieder porträtiert er auch vergessene kommunistische Funktionäre, die führungslos den Widerstand organisieren und in die Fänge der Nazis - oder, ebenso schlimm - in die Stalinschen Säuberungsmühlen geraten. Ihnen, den zwischen Pest und Cholera Zerrissenen, gehört Enzensbergers ganze Sympathie. Dem wunderlichen und schwer fassbaren Aristokraten Kurt von Hammerstein-Equord begegnet er voller Respekt, aber doch reservierter. Fast scheint er ihn lieber zu umkreisen als ihm direkt zu begegnen. Auch nach 350 Seiten bleibt er ein Phantom, das eher in seiner Auswirkung auf andere denn als Subjekt erkennbar wird. Ein Abwehrreflex Enzensbergers gegen das ihm fremde aristokratische Milieu? Er spricht Hammerstein am Ende doch frei, trotz dessen Zögerlichkeit und Passivität und der nachträglichen Enttäuschung, dass an den Hammerstein nachgesagten Putschplänen nicht viel dran war.

    Gibt es auch Kritik an dem gelungenen und elegant geschriebenen und gestalteten Buch? Durchaus. Wenn Enzensberger schreibt ...

    Die Weimarer Republik war von Anfang an eine Fehlgeburt. Das Land befand sich in einem latenten Bürgerkrieg.

    ... dann ist dies, mit Verlaub gesagt, wohl zu sehr vom Ende her gedacht und unterstellt der Geschichte Zwangsläufigkeit und Alternativlosigkeit. Dennoch zeichnet er mit wenigen Sätzen ein beklemmendes Bild von den nur im Rückblick verklärten "goldenen" 20er Jahren mit blassen Politikern und schillernden Extremen, die Erlösung versprachen.
    Bitterschön dagegen sind manche Sätze, die er den Toten in den Mund legt, wie der böhmischen Fabrikantentochter Ruth von Mayenburg.

    Kurt von Hammerstein hat mich einmal vor einer Ehe gerettet, die mir nichts als Eintracht, Sicherheit und Langeweile eingetragen hätte.

    ... oder aber auch dem in Moskau ermordeten kommunistischen Spion Leo Roth, dem Lebensgefährten von Hammersteins Tochter Helga, angesichts der stalinistischen "Säuberungen":

    Vor die Wahl gestellt, habe ich es damals vorgezogen, ein nützlicher statt ein unnützer Idiot zu sein. Man ist nicht ungestraft Kommunist.

    Es bleibt ein Faszinosum: Alle 7 Kinder der Hammersteins überlebten Faschismus, Krieg und Stalinismus - trotz ihrer widerständigen Haltung. Enzensberger verfolgt alle Hammersteinschen Kinder und deren Mutter liebevoll porträtierend bis zu ihrem Tod bzw. bis in die Gegenwart. Eines der Kinder, Ludwig von Hammerstein, Mit-Verschwörer vom 20. Juli, war von 1974 bis 1984 Intendant des RIAS. An der Gründung des Deutschlandradios wirkte er aber, anders als es Enzensberger schreibt, nicht aktiv mit.

    Allen Familienmitgliedern bescheinigt Enzensberger eine liberale, freigeistige Haltung. Er nennt die Hammersteinsche Familiengeschichte "eine exemplarische deutsche Geschichte". Zu schön wäre es, wenn das Handeln dieser Familie exemplarisch für Deutschland gewesen wäre! Die Geschichte der Familie Hammerstein - vielleicht auch ein Fall für ein Fernseh-Dokudrama? Armin Müller-Stahl muss ja nicht als Thomas Mann enden. Doch zuvor: Lesen sie dieses Buch!

    Henry Bernhard über Hans Magnus Enzensberger: Hammerstein oder: Der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte. Im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 375 Seiten für 22 Euro und 90 Cent.