Dienstag, 07. Mai 2024

Archiv


Ein Stück Mentalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts

Ein Werk über eine soziologisch schwer fassbare Gruppe, die einen Teil zur Demokratie beitrug: die Intellektuellen. Dietz Bering kommt zu urteilsstarken Feststellungen und verfasste ein Stück Mentalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Von Martin Ebel | 26.11.2010
    Die Intellektuellen - ist das nicht ein Gähnthema? Wo sind sie, was sagen sie und was nicht, in letzterem Fall also: Warum schweigen sie? Das hat man doch in den vergangenen Jahren bis zum Überdruss gelesen - oder ignoriert. Warum also soll man sich einen dicken Band über "Die Epoche der Intellektuellen" vornehmen, der diese Epoche mit den Daten 1898 und 2001 fixiert, mit dem Untertitel "Geburt - Begriff - Grabmal" versiegelt und selbst von außen, wie ein weißer Grabstein aussieht? Natürlich wegen des Erkenntnisgewinns, der aus der Lektüre zu beziehen ist. Und der geht möglicherweise sogar über die Absicht des Verfassers hinaus.

    Dietz Bering, emeritierter Sprachwissenschaftler in Köln, wollte nämlich eine Begriffsgeschichte schreiben, eine Erweiterung seines Standardwerks "Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes" von 1978. Es ist ihm zu erheblich mehr geraten: zu einem Stück Mentalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Mit dem Ausgangspunkt der schwankenden Wortbedeutung befindet sich der Autor zwar immer auf methodisch sicherem Grund. Sein scharfer Verstand, sein Temperament und sein - typisch Intellektuelles? - Interesse bringen ihn aber immer wieder vom Wort zur Sache und, für einen Linguisten ungewöhnlich und erfreulich, zu urteilsstarken Feststellungen.

    Vielleicht die Wichtigste, gewonnen aus der Betrachtung französischer und deutscher Verhältnisse: Die junge Demokratie, hier Ende des 19., dort Mitte des 20. Jahrhunderts, war durch Verfassung und Regeln, Institutionen und Wahlen allein nicht gesichert, erst durch eine neue gesellschaftliche Kraft konnte sie Stabilität gewinnen. Diese neue Kraft sind die Intellektuellen: eine soziologisch schwer fassbare Gruppe, die sich im Interesse aller und im Namen universeller Werte für Benachteiligte einsetzt und dabei die Ausdrucksformen der Öffentlichkeit nutzt - die Massenmedien.

    So war es erstmals bei der Dreyfus-Affäre in Frankreich ab 1898, in deren Verlauf sich der Typus des Intellektuellen überhaupt herausbildete und auch der Begriff entstand, den Verteidiger wie Gegner des unglücklichen Hauptmanns als Waffe gebrauchten. So war es aber auch in Westdeutschland in den 50er-Jahren, als die junge Demokratie nach der Katastrophe des Nationalsozialismus nach geistiger Orientierung suchte und Gefahr lief, sich erneut auf politikferne Kulturhöhen zu flüchten.

    Da war es ausgerechnet der Schweizer Max Frisch, der in einem Zeitschriftenbeitrag den Finger in die Wunde legte: Die vielbeschworene Kultur sei kein Bollwerk gegen Barbarei, denn schließlich hätten auch Nazi-Verbrecher Geige gespielt. Ein tauglicher Kulturbegriff müsse, wie in der Schweiz, auch die staatsbürgerlichen Leistungen einschließen. Deutschland brauche jetzt Geistesmenschen, die in der kulturellen, aber auch in der politischen Welt zuhause seien. Eben: Intellektuelle. Frisch war einer der Ersten, die sich selbst dazu bekannten, Intellektueller zu sein. Bis dahin war der Begriff in Deutschland eindeutig negativ besetzt, noch im Brockhaus von 1954 wurde der Intellektuelle definiert als "ein Mensch, der seinem Verstande nicht gewachsen ist".

    Die negative Tradition in Deutschland belegt Bering mit einer erdrückenden Fülle von Zitaten. Interessanter als deren Quantität ist die analytische Auswertung: Kommunisten wie Nazis bekämpften die Intellektuellen gleichermaßen und aus den gleichen Gründen: weil sie "negativ" seien, "instinktlos", "volksfern" und "inkompetent". In innermarxistischen Machtkämpfen war "Intellektueller" ein gefürchtetes Etikett; wem es angeheftet wurde, der war zum Abschuss freigegeben, symbolisch und oft auch buchstäblich.

    Die große Umwertung in Deutschland geschah laut Bering in den 50-Jahren, die Bewährungsprobe in den 70ern, als im Zusammenhang mit dem Baader-Meinhof-Terror die Springer-Presse linksliberale Leitfiguren wie Heinrich Böll zu "Sympathisanten" erklärte und ihnen eine Mitverantwortung für die Mordtaten zuschieben wollte. In offener Feldschlacht, so Bering, wehrten sich die Angegriffenen und behaupteten ihre Position als kritische Mahner in einem Rechtsstaat, der akut gefährdet war, nicht nur durch den Terror, sondern auch durch den Rückfall in autoritäre Verhältnisse. Hier hatte auch Max Frisch noch einmal einen großen Auftritt, als er auf dem Hamburger SPD-Parteitag 1977 eine Grundsatzrede hielt mit dem Schlüsselsatz: "Ich kann mir nicht denken, dass Politik ohne die lästige Assistenz der Intellektuellen eine geschichtliche Chance hat." Die geschichtliche Chance der Intellektuellen währte dann, so Bering, nicht mehr lange: Der Zusammenbruch des Ostblocks machte sie sprachlos, die Postmoderne erklärte sie für nutzlos. Der Utopieverlust entzog ihnen die Perspektive, das immer stärkere mediale Rauschen den Resonanzraum. Wenn überall gequatscht wird, hört keiner mehr richtig zu - und vor allem nicht das heraus, was wesentlich wäre. Erneuter Strukturwandel der Öffentlichkeit: Die Massenpresse war einst der Geburtshelfer des Intellektuellen, Privatfernsehen und Internet graben ihm schließlich das Grab.

    Ist der Intellektuelle also tot, abgelöst von Talk-Show-Dauergästen, die den Fernsehschirm bevölkern bloß wegen ihrer Prominenz, nicht wegen der Sprengkraft ihrer Gedanken? Das wäre die logische Konsequenz. Bering beendet sein Buch aber ganz anders: mit einer ziemlich gewagten dialektischen Volte. Er begräbt den Intellektuellen nicht, sondern postuliert seine Unsterblichkeit - aus Notwendigkeit, denn ohne Intellektuelle lässt sich eine Demokratie nicht stabil halten. Kern der Demokratie sind für Bering die Menschenrechte und das Bekenntnis zu ihnen, der Einsatz für sie reicht ihm nun zur Definition des Intellektuellen völlig aus. Damit ist für ihn auch die Frage entschieden, ob sich der Intellektuelle durch Tugenden, Theorien oder soziologische Verortung definiert. Nein, meint Bering, es ist eine Wertentscheidung, ein "Glaubenssprung" gar, Intellektueller zu sein - nämlich jemand, der an die universelle Gültigkeit der Menschenrechte glaubt und sich für sie einsetzt.

    Das ist eine weniger originelle Schlussfolgerung, als Bering meint. Wenn er seinen eurozentrischen Blick, der in diesem Buch nicht über Frankreich und Deutschland hinausreicht, geweitet und etwa nach China hätte schweifen lassen, wäre ihm das wohl selbst aufgegangen. Dort sitzt jemand wie Liu Xiaobo für seine Ansichten im Gefängnis. Dort steht der Kampf, der hier schon erledigt scheint, noch ganz am Anfang.