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Enthaltung stößt auf "geteilte Reaktionen"

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) spricht über die Stimmenthaltung Deutschlands bei der Libyen-Resolution. Er ruft dazu auf, nach den Ereignisse in Japan eine "Denkpause" einzulegen und diese für eine Neubewertung der Risiken von Atomkraftwerken zu nutzen.

Norbert Lammert im Gespräch mit Sabine Adler | 20.03.2011
    Adler: Die Weltgemeinschaft hat begonnen, ihre Ankündigung wahr zu machen, nämlich den libyschen Diktator Gaddafi am Krieg gegen sein Volk zu hindern. Gaddafis Armee wird seit Samstagnachmittag angegriffen, Deutschland beteiligt sich, anders als die NATO-Verbündeten und anders, als andere EU-Länder nicht daran, dem Diktator das Handwerk zu legen. Herr Lammert, ist das eine historische Fehlentscheidung?

    Lammert: Also, historische Urteile sollte man im Allgemeinen besser den Historikern als den handelnden Politikern überlassen. Und für solche Beurteilung braucht man meist auch ein gewisses Maß an zeitlicher Distanz, um zwischen den Absichten, die mit den Entscheidungen verbunden waren, und den tatsächlichen Wirkungen sorgfältiger Zusammenhänge herstellen zu können. Es war jedenfalls eine schwierige Entscheidung, und es war eine Entscheidung, die im Deutschen Bundestag wie in der deutschen Öffentlichkeit auf eine sehr geteilte Reaktion gestoßen ist, was nebenbei übrigens zeigt, dass das deutsche Parlament repräsentativer ist, als gelegentlich vermutet wird.

    Adler: Herr Lammert, Deutschland hat sich von seinen Verbündeten, den USA und in der EU, isoliert, steht jetzt in der Stimmenthaltung bei der Libyen-Resolution in einer Reihe mit China und mit Russland. Ist das ein Scheitern deutscher Diplomatie?

    Lammert: Also der Vollständigkeit halber müsste man ja vielleicht dann doch darauf hinweisen: Deutschland hat auch mit Indien und Brasilien in einem gemeinsamen Abstimmungsverhalten gestanden. Die Wirklichkeit ist eben doch ein bisschen komplexer als sie dann gelegentlich wiedergegeben wird. Dennoch ist die Frage berechtigt, ob Deutschland sich nicht ähnlich verhalten können und auch besser verhalten sollen wie alle seine Bündnispartner, zumal zwischen der Zustimmung zur Resolution im Weltsicherheitsrat und der Entscheidung, ob eine Beteiligung deutscher Soldaten an einem Militäreinsatz stattfinden soll, kein unmittelbarer Zusammenhang besteht.

    Adler: Die Kanzlerin hat die Haltung bekräftigt, das sich Deutschland militärisch nicht beteiligt, US-Stützpunkte könnten jedoch für die Aktion gegen Libyen genutzt werden. Wie passt dass eigentlich zusammen mit dem Ziel Deutschlands, sich stärker international einzubringen, eben gerade jetzt als nicht ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates und irgendwann ja mal auch als ständiges Mitglied eventuell?

    Lammert: Eine solche Schlussfolgerung wäre jedenfalls nach meiner Einschätzung unberechtigt. Deutschland hat in den vergangenen Jahren den Nachweis geführt, dass es bereit ist, ein höheres Maß an internationaler Verantwortung zu übernehmen. Es gibt ganz wenige Länder, die überhaupt einen vergleichbar hohen Einsatz auch militärischem Engagement an so vielen Plätzen der Welt gleichzeitig leisten wie Deutschland. Deswegen wären entsprechende Vorwürfe sicher unberechtigt. Sie werden im Übrigen von unseren Partnern, so weit ich sehe, auch gar nicht erhoben. Dies ist umgekehrt eines der starken Argumente, die man auch als Skeptiker gegenüber der gerade getroffenen Entscheidung akzeptieren muss, dass Deutschland eben auch nur begrenzte Möglichkeiten hat und wir nicht den Eindruck erwecken dürfen, als könnten wir nun an allen Plätzen der Welt, wo es dafür hinreichende Gründe gibt, gleichzeitig präsent sein.

    Adler: Die SPD hat mit der Absage, sich 2002 nicht am Irak-Krieg zu beteiligen, den Wahlsieg gesichert bei der Bundestagswahl. Wendet die Koalition diese Anti-Kriegsstrategie jetzt an, hat sie so zusagen die Lehren aus dieser Erfahrung von früher gezogen?

    Lammert: Den einen von Ihnen genannten Fall wie in diesem wäre es jedenfalls völlig unangemessen, die zur Entscheidung anstehende Sachfrage von damals wie heute hohem Gewicht von vergleichsweise zweitrangigen wahltaktischen Überlegungen abhängig zu machen. Und selbst, wenn es so wäre, dass die damalige Entscheidung von Gerhard Schröder eine wesentliche Ursache für den knappen Wahlerfolg war, würde ich dies als hinreichende Berechtigung für eine ähnlich kleine Münze im Wiederholungsfall nicht akzeptieren.

    Adler: Sie sehen ich aber jetzt ja schon diesem Vorwurf ausgesetzt, dass der Koalition jetzt möglicherweise die Wahlsiege wichtiger sind als die Menschenrechte in Libyen.

    Lammert: Umgekehrt, Frau Adler. Die starken Widerstände, die großen Einwände - übrigens auch aus den eigenen Reihen der Mitglieder und der Wählerinnen und Wähler der beiden Koalitionsparteien - machen deutlich, dass, wenn denn damit solche Kalküle verbunden wären, sie ganz offenkundig so ohne weiteres nicht aufgehen.

    Adler: Herr Lammert, die Widerstände - wogegen - aus den eigenen Reihen?

    Lammert: Gegen die getroffene Entscheidung der Bundesregierung. Ganz offenkundig bedient sie ja nicht, wenn dies das Motiv gewesen wäre, was ich nicht glaube, die Erwartungen gerade der - in Anführungszeichen - "eigenen Wählerschichten".

    Adler: Deutschland hat sich in einer Woche gleich zwei Mal international isoliert: Bei Libyen, wir sprachen darüber, und im zweiten Punkt beim Umgang mit Atomkraftwerken. Auch in Ihrer Partei, der CDU, hat man sich binnen einer Woche von zwei Grundsätzen verabschiedet, nämlich von einer wertegeleiteten Außenpolitik und von der Atomkraft. Kommen Ihre Parteifreunde da noch mit?

    Lammert: Jedenfalls befinden wir uns im Augenblick in einer Situation, die alle Beteiligten in hohem Maße strapaziert. Das gilt für die Regierung wie für das Parlament, und es gilt auch für die Öffentlichkeit und nicht zuletzt für die Wählerinnen und Wähler. Es ist im Übrigen viel einfacher, in solchen Situationen kritische Nachfragen zu stellen, als über jeden Zweifel erhabene Entscheidungen zu treffen . . .

    Adler: . . . womit Sie völlig recht haben . . .

    Lammert: . . . Frau Adler, hätte die Bundesregierung sich im Weltsicherheitsrat anders verhalten und würden wir heute über die Beteiligung deutscher Soldaten an im Augenblick stattfindenden militärischen Aktivitäten in Libyen stehen, hätten Sie mir ja nicht weniger kritische Fragen gestellt. Es kann ja keine Rede davon sein, dass man sich offenkundig anders hätte entscheiden müssen. Sondern es gibt gute Argumente für die getroffene Entscheidung, und es gibt beachtliche Einwände dagegen.

    Adler: Und genau, weil das so ist, weil es bei beiden Fragen - sowohl bei der Atomkraft als auch bei Libyen - so viele gute Argumente dafür und so viele Argumente dagegen gibt, sind wir ja in diesem Interview der Woche des Deutschlandfunks auch angetreten, diese Argumente im Zuge von Frage und Antwort darzulegen. Und Frage bedeutet nicht immer Kritik, Frage ist Hinterfragen von Entscheidungen. Wenn wir das vielleicht so verstehen, dann würde ich gern zu der nächsten Frage übergehen wollen, nämlich: Werden die drei Landtagswahlen, also in Sachsen-Anhalt, in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg damit eben auch automatisch zur Abstimmung über die Atompolitik von CDU und FDP und eben auch über die Nichteinmischungsstrategie Deutschlands in Libyen?

    Lammert: Das, was ich aus den bisherigen Umfragedaten erkennen kann, deutet darauf hin, dass dies für einen beachtlichen Teil der Wählerinnen und Wähler Einfluss auf das Wahlverhalten haben wird, aber eben keineswegs für alle.

    Adler: Bleiben wir bei der Atomkraft. Nach dem Herbst der Entscheidungen, als ja die Verlängerung der Laufzeiten beschlossen worden ist im Bundestag - kann man nun vom "Frühling der Kehrtwenden" sprechen?

    Lammert: Ja, auch da bin ich zögerlicher, was die vielleicht erhofften flotten und ultimativen Antworten angeht. Ich habe ja gleich Anfang der Woche für mich erklärt, dass ich die Absicht der Bundesregierung für richtig und angemessen halte, angesichts der eingetretenen Ereignisse in Japan eine Denkpause einzulegen und diese zu nutzen, um auf einer möglichst breiten Basis mit möglichst vielen direkt und indirekt Beteiligten und Betroffenen eine Neubewertung von Risiken, und damit auch eine Neubewertung unserer eigenen Gestaltungsabsichten für die energiepolitischen Perspektiven der nächsten Jahre vorzusehen. Ich hoffe auch sehr, dass das gelingt und dass nicht mit dem Nachlassen der Schockstarre unter dem Eindruck der Bilder und der Ereignisse in Japan die einen wie die anderen in die vertrauten alten Positionen zurückfallen.

    Adler: Herr Lammert, genau dieses Zurückfallen in die alten Positionen ist das, was zum Beispiel Atomkraftgegner befürchten. Die befürchten, dass die Regierung nach dem Ablauf des Moratoriums, und damit eben auch nach den wichtigen Landtagswahlen - der wichtigsten in Baden-Württemberg - zurückkehrt zu ihrem alten Atomkurs. Wäre es da nicht angezeigt, bei dieser so wichtigen Frage und für das Volk ja so polarisierenden Frage, vielleicht doch per Volksabstimmung, zum Beispiel in den Ländern, über die Atomnutzung zu entscheiden?

    Lammert: Persönlich glaube ich das nicht. Die Fragen, um die es jetzt geht, sind so außergewöhnlich komplex, und die Neigung, schon gar unter dem Eindruck dieses Ereignisses reflexhaft zu entscheiden, eher emotional als rational, ist ja fast unwiderstehlich. Ich fühle mich allerdings in meiner damals ja auch ausdrücklich vorgetragenen Auffassung bestätigt, dass es natürlich besser und klüger gewesen wäre, die Entscheidung über ein energiepolitisches Konzept mit einer gedachten Laufzeit von 40 Jahren und dem Ziel der kontinuierlichen Ersetzung fossiler wie nuklearer Energien durch nachwachsende erneuerbare Energien - ein solches energiepolitisches Konzept auf eine breite politische Basis zu stellen, also mehr als die Mehrheit einer Koalition in einer laufenden Legislaturperiode, und hätte deswegen die Beteiligung des Bundesrates, unabhängig von der verfassungsrechtlichen Frage, für politisch dringend erwünscht gehalten.

    Adler: Herr Lammert, haben Sie eine Erklärung, warum Ihre Partei beziehungsweise die Koalition die Entscheidung, sieben Atomkraftwerke in dieser Woche abzuschalten, nicht ganz klar damit begründet, dass Atomkraft in Deutschland nicht mehr mehrheitsfähig ist - stattdessen werden jetzt Sicherheitserwägungen herbeigeführt oder als Argument herangezogen .

    Lammert: Nun, das Argument, dass der Einsatz der Nuklearenergie in Deutschland nicht mehrheitsfähig ist, hätte man auch vor einem halben oder vor einem Jahr schon für ein anderes energiepolitisches Konzept bemühen können. An der Stelle hat sich die Welt nicht wirklich fundamental verändert. Wir haben mit anderen Worten auch vor den japanischen Ereignissen schon eine seit vielen, vielen Jahren zu beobachtende ausgeprägte Skepsis oder Ablehnung in der deutschen Bevölkerung feststellen können.

    Adler: Mal abgesehen davon, dass diese Wende in Ihrer Partei ja wirklich enorm ist - vor einem halben Jahr wurde ja, wie gesagt, das Gesetz über die Verlängerung der Laufzeiten beschlossen, jetzt wurde es durch Verwaltungshandeln außer Kraft gesetzt. Darf die Regierung das eigentlich?

    Lammert: Nein, da gibt es inzwischen glücklicherweise auch keinen Zweifel mehr. Die Regierung hat geltendes Recht anzuwenden. Wenn sie zu der Überzeugung kommt, dass die Notwendigkeit besteht, Korrekturen am geltenden Recht herbeizuführen, dann kann und muss sie eine entsprechende Gesetzesinitiative in den Deutschen Bundestag einbringen, über die dann wiederum dort und nirgendwo anders zu entscheiden ist. Ich habe im übrigen Verständnis dafür, dass in der für niemanden vorhersehbaren Situation des vergangenen Wochenendes die Notwendigkeit, sich zunächst mal auf eine Vorgehensweise zu verständigen, Vorrang hatte und wohl auch haben musste vor der Frage, auf welcher Rechtsgrundlage denn etwa das Außerbetriebnehmen von Kernkraftwerken erfolgen kann und ob es dafür möglicherweise auch Ergänzungen oder Korrekturen bedarf. Aber bei ruhiger Betrachtung kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass es entweder im Atomgesetz oder in anderen gesetzlichen Bestimmungen eine hinreichende Rechtsgrundlage gibt oder dass sie durch entsprechende Gesetzesänderung herbeigeführt werden muss. In keinem Fall kann in Betracht kommen, dass die Bundesregierung geltendes Recht auch nur zeitweise außer Kraft setzt.

    Adler: Herr Lammert, entschuldigen Sie das Wort, aber ‘Kuddelmuddel' ist das, was einem einfällt beim Abschalten der AKW. Also, erst war vom Aussetzen des Gesetzes die Rede, einem Moratorium, und dann ist von Anwendung des Gesetzes die Rede. Was ist es jetzt?

    Lammert: Ich habe ja versucht, zu erläutern, wie das zustande gekommen ist, was Sie jetzt Kuddelmuddel genannt haben. Und noch mal, bei aller Kritik, die ich auch öffentlich vorgetragen habe, fällt es mir nicht schwer, Verständnis dafür zu entwickeln, dass unter dem Entscheidungsdruck einer nicht vorhersehbaren Situation es nicht leicht ist, sich eine rundum überzeugende Vorgehensweise vorzustellen. Inzwischen haben wir aber glücklicherweise Meinungsverschiedenheiten mit Blick auf die notwendige Rechtsgrundlage nicht mehr. Es gibt allerdings eine beachtliche Auseinandersetzung darüber, ob die im Artikel 19 des Atomgesetzes vorhandene Rechtsgrundlage ausreicht. Da nehme ich mit Interesse zur Kenntnis, dass es sowohl Stimmen gibt, die das für eine ausreichende Rechtsgrundlage halten, als auch ausgesprochen skeptische Stimmen von Sachverständigen. Das ist allerdings keine so exklusive Situation, dass wir die noch nie gehabt hätten, sondern das haben wir mit einer bemerkenswerten Regelmäßigkeit gerade dann, wenn es sich um besonders ausgeprägte Interessen handelt. Umso mehr empfehle ich, dass man die nächsten Tage zu einer Abgleichung dieser Positionen nutzt, um diese Frage nicht möglichst lange streitig zu halten, sondern an der Stelle Klarheit zu schaffen. Denn ganz offenkundig ist ja beispielsweise niemand daran interessiert, dass die betroffenen Betreiber von Kernkraftwerken die in den jetzt abgeschalteten Atomkraftwerken noch vorhandenen Reststrommengen auf andere Kernkraftwerke übertragen. Ob dies nicht aber nach geltendem Recht ein Rechtsanspruch wäre, ist eine der spannenden Fragen, die nun dringlich geklärt sein müssen.

    Adler: Um es praktisch zu machen und jede Verwirrung nun wirklich zu beseitigen: Also, wer prüft jetzt, ob das Gesetz richtig angewendet wird, und wenn es nicht richtig angewendet wird, muss dann ein neues Gesetz her?

    Lammert: Diese Prüfung wird ganz zweifellos in den zuständigen Ministerien stattfinden, sowohl im Umwelt- und Wirtschaftsministerium, was ja auch energiepolitische Zuständigkeiten hat. Das Justizministerium wird sich zweifellos mit dieser Frage beschäftigen, und im Übrigen habe ich keine Illusionen, dass die Betreiber sich mit der Frage beschäftigen werden, ob und welche Rechtsansprüche sie hier eigentlich haben. Und gerade aus dem Zielkonflikt, der sich daraus ergeben könnte, entsteht die Notwendigkeit einer möglichst schnellen und möglichst abschließenden Klärung dieser Fragen.

    Adler: Es gibt eine Rechnung, die besagt, dass ungefähr ein Tag, an dem ein Atomkraftwerk nicht Strom produziert, ein Verlust von einer Million Euro auftritt. Muss die Bundesregierung eine millionenfache Schadensersatzklage befürchten?

    Lammert: Das glaube ich persönlich nicht, jedenfalls dann gewiss nicht, wenn die Rechtsgrundlage, die es im Atomgesetz gibt, auch bei einem möglichen gerichtlichen Streit Bestand hätte. Aber allein der Umstand, dass ich die von Ihnen gestellte Frage jetzt in dieser Weise vorsichtig beantworten muss, ist ein Indiz dafür, dass hier offenkundig Zweifel an der Haltbarkeit der einen oder der anderen Position bestehen. Hier gibt es also sowohl Risiken für die Betreiber mit Blick auf ihre wirtschaftlichen Interessen, aber auch Risiken für die Regierung - übrigens die Landesregierungen, die ja die Atomaufsicht führen und von denen die Weisung ausgegangen ist - als auch möglicherweise für den Bund. Und daraus ergibt sich, glaube ich, dass alle Beteiligten ein gemeinsames Interesse an möglichst schneller und abschließender gemeinsamer Klärung dieser Rechtsfrage haben müssen.

    Adler: Herr Lammert, Sie haben gerade Verständnis dafür geäußert, dass die Entscheidung schnell gefällt werden musste. Warum eigentlich? Warum mussten binnen einer Woche sieben Atomkraftwerke abgeschaltet werden? Weil von ihnen binnen einer Woche eine solche Gefahr ausgegangen wäre, oder weil Landtagswahlen anstanden?

    Lammert: Ich bin ziemlich sicher, Frau Adler, wenn die Bundesregierung nicht am Montag bereits bekannt gegeben hätte, dass sie nicht nur die Notwendigkeit für ein gemeinsames Nachdenken über Schlussfolgerungen aus den getroffenen Ereignissen sieht, sondern gemeinsam mit den verantwortlichen Landesregierungen am Dienstag zu der Entscheidung gekommen wäre, die ältesten in Deutschland in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke vorübergehend abzuschalten, Sie mich heute gefragt hätten, ob ich ernsthaft für vertretbar hielte, dass die weiter in Betrieb seien. Insofern haben wir auch hier wieder eine Situation, wo man mit mehr oder weniger überzeugenden Gründen kritisieren kann, wie vorgegangen worden ist. Aber ich glaube, dass in der Abwägung unter dem Gesichtspunkt der Erwartungen der deutschen Öffentlichkeit diese Entscheidung jedenfalls die richtigere ist, als es die umgekehrte gewesen wäre.

    Adler: Jetzt hätte man, wenn wir noch mal zu der Rechtmäßigkeit der Anwendung des Atomgesetzes kommen, ja auch darauf setzen können, dass der Bundestag so fix ist, wie er das in der Vergangenheit häufig schon bewiesen hat, mit einem neuen Gesetz die Verlängerung der Laufzeiten zurückzunehmen. Dieser Weg ist diese Woche nicht beschritten worden. Lag das möglicherweise auch daran, dass sie sich ihrer Mehrheiten in der Regierungskoalition nicht sicher waren?

    Lammert: Nein, dass glaube ich überhaupt nicht, wobei ich diese Frage für die Bundesregierung . . .

    Adler: . . . für die Fraktionen . . .

    Lammert: . . .. nicht wirklich mit Autorität beantworten kann und will. Aber ich hätte persönlich bei all dem Nachdruck, den ich bekanntlich auf die Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundestages lege, keineswegs bevorzugt, wenn wir in dieser Woche zu einem Gesetzgebungsverfahren gekommen wären. Das hätte ich für genau die Art von voreiligem Handeln gehalten, das ich nicht für eine adäquate Reaktion auf die entstandene Lage halte.

    Adler: Warum?

    Lammert: Wir müssen in Ruhe die Erfahrungen sortieren, die sich nach den japanischen Ereignissen ergeben, einschließlich der Frage, ob sich daraus eine prinzipielle Notwendigkeit für die Veränderung der Laufzeiten von Kernkraftwerken in Deutschland ergibt, was ich persönlich glaube, aber andere durchaus und offenkundig anders sehen. Ob sich daraus insbesondere die Notwendigkeit ergibt, Kernkraftwerke mit schon sehr langen Laufzeiten von 30 Jahren und mehr, nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft vom Netz zu nehmen. Aber ich kann beispielsweise die Frage gar nicht beurteilen, ob unter Berücksichtigung der zum Teil ja erheblichen Nachrüstungen, die an den Kernkraftwerken in den vergangenen Jahrzehnten vorgenommen worden sind und die ja vom Volumen des Finanzaufwandes die Herstellungskosten über ein Vielfaches überstiegen haben, nicht einige lebensältere Kernkraftwerke sich in einem moderneren und damit sichereren Zustand befinden als manche später in Betrieb gegangenen. Und deswegen, so was kann man alles flott mal eben daher formulieren, aber bevor man das in Gesetzesform gießt, hätte ich das schon gerne ruhig und sorgfältig und nachvollziehbar erfasst.

    Adler: Das Interview der Woche mit dem Bundestagspräsidenten Norbert Lammert von der CDU. Herr Lammert, Sie gelten als aufmerksamer Wächter über die Einhaltung demokratischen Regelwerks, wie wir das ja auch gerade gehört haben, haben aber in diesen Tagen Post bekommen vom Direktor der Landesmedienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein. Darin wird bescheinigt, dass es für das Parlamentsfernsehen im Internet, das der Bundestag betreibt, keine Rechtsgrundlage gibt. Der Staat darf den freien Medien keine Konkurrenz machen. Was heißt das jetzt? Abschalten oder eine Rechtsgrundlage schaffen?

    Lammert: Also, mich hat dieser Brief sehr überrascht und ich bin auch sehr sicher, dass wir in wenigen Tagen da eine Klärung herbeiführen können. Zunächst einmal ist die Situation offenkundig nur dadurch entstanden, dass ein bislang einem sehr begrenzten Kreis von Teilnehmern völlig unbeanstandet zugängliches Parlamentsfernsehprogramm durch die Eröffnung von Zugängen auf einen anderen Satelliten, den wir gar nicht herbeigeführt haben, nun einem weiteren - wiederum übrigens sehr, sehr kleinen - Zuschauerkreis zugänglich gemacht werden kann. Also, wir haben gar nichts aktiv unternommen, sondern wir sind jetzt konfrontiert mit den möglichen Folgen einer technischen Zugangsmöglichkeit, die an anderer Stelle geschaffen worden ist. Zweitens, mir leuchtet das Argument sehr ein, dass der Staat und damit natürlich auch der Bundestag nicht eigene Rundfunk- oder Fernsehprogramme betreiben darf. Und möglicherweise ist in diesem Zusammenhang dann die Frage zu untersuchen, ob das, was wir in unserem "TV-Angebot" anbieten, ein Rundfunk- oder Fernsehprogramm ist. Wir machen über die reine Dokumentation von Bundestagsdebatten oder öffentlichen Ausschusssitzungen hinaus ein so minimales "journalistisches Programm", etwa in Form von Diskussionsrunden mit Abgeordneten zu bestimmten Themen, die wir dann ins Programm stellen, das, wie man mir gesagt hat, bei etwa einem Prozent des gesamten Sendevolumens liegt, dass ich mir erstens nicht vorstellen kann, dass das ausreicht, um ein eigenes Rundfunkprogramm zu rechtfertigen. Umgekehrt, wenn dies der Punkt wäre, der über eine Sendelizenz entscheidet, würden wir an der Stelle schlicht auch dieses Minimalprogramm zur Disposition stellen.

    Adler: In der kommenden Woche beim Europäischen Rat in Brüssel soll über den Stabilitätsmechanismus für den Euro verhandelt werden. Sie hatten sich im Auftrag des Ältestenrates des Bundestages bei der Kanzlerin darüber beklagt, dass die Abgeordneten nicht ausreichend informiert werden, mit welchen Vorstellungen die Kanzlerin selbst in die Euro-Verhandlungen geht. Das sieht der Lissabon-Vertrag vor. Bleiben Sie bei Ihrer Kritik? Verstößt die Bundesregierung damit gegen ein weiteres Gesetz, nämlich das Parlamentsbeteiligungsgesetz?

    Lammert: Jedenfalls bleibe ich bei meiner vorgetragenen Beurteilung, dass die im Grundgesetz nach dem Lissabonner Vertrag und in einem eigenen Gesetz zur Zusammenarbeit von Parlament und Regierung in europäischen Angelegenheiten festgelegten Informations- und Mitwirkungsrechte des Bundestages im konkreten Fall nicht in ausreichender Weise berücksichtigt worden sind. Dabei ist mir allerdings eines sehr klar, und das habe ich nun auch den Kolleginnen und Kollegen im Ältestenrat in dieser Woche noch einmal verdeutlicht: Hier gibt es einen Zielkonflikt, über den wir gemeinsam nachdenken müssen. Auf der einen Seite gibt es einen glasklaren und völlig unmissverständlichen Anspruch des Bundestages, über Initiativen der Bundesregierung vorher rechtzeitig und umfassend unterrichtet zu werden und nicht gewissermaßen mit Präjudizien konfrontiert zu werden. Und auf der anderen Seite muss es ohne jeden Zweifel einen Gestaltungsspielraum der Bundesregierung geben, in Verhandlungen in Europäischen Ministerräten und im Europäischen Rat mit anderen gemeinsam zu Ergebnissen zu kommen. Sonst kommen nämlich europäische Lösungen überhaupt nicht zustande. Und dass zwischen dieser Notwendigkeit und den Informations- und Mitwirkungsrechten des Bundestages ein Zielkonflikt besteht, wird man vernünftigerweise nicht bestreiten können, so dass wir gemeinsam uns noch mal mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir für künftige Fälle sicherstellen wollen, dass das in einer beide Aspekte berücksichtigenden Weise besser organisiert wird.

    Adler: Herr Lammert, ich danke Ihnen für das Gespräch.

    Lammert: Ich bedanke mich auch, Frau Adler.