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"Es weiß niemand, dass ich in Ostberlin bin"

Fritz Schäffers Kontakte nach Ostberlin gehören zu den bizarrsten Episoden im Kalten Krieg. Erst Jahre später erfährt die Öffentlichkeit von den Missionen des Bundesfinanzministers Mitte der 50er Jahre. Nun sind neue Tondokumente aufgetaucht.

Von Günter Müchler | 11.06.2007
    "Es weiß niemand davon, dass ich in Ostberlin bin, nicht einmal meine Frau weiß davon."

    1955: Zehn Jahre sind vergangen, seit Hitler-Deutschland niedergerungen wurde. Auf den verheerenden Weltkrieg ist keine Friedensepoche gefolgt. Der Antagonismus der Siegermächte hat einen neuen Konflikt heraufbeschworen mit der atomaren Vernichtung als Möglichkeit. Kommunismus und westliche Demokratie ringen um die Vorherrschaft in der Welt. Europa ist gespalten. Hochgerüstete Armeen stehen in Wartestellung diesseits und jenseits der Demarkationslinie, die man den Eisernen Vorhang nennt.

    Es herrscht Kalter Krieg. Nirgendwo ist er gegenwärtiger als in Deutschland, nirgendwo so spürbar wie in Berlin, der geteilten Stadt. Angst und Misstrauen sind hier zu Hause wie Verzweiflung und Hoffnung. Berlin ist aber auch Exerzierfeld von Spionen und Zielort geheimer Missionen.

    11. Juni 1955, Berlin Ost am Bahnhof Marx-Engels-Platz, heute Hackescher Markt: Zwei westlich gekleidete Herren steigen aus der S-Bahn. Der eine ist ein Straubinger Textilkaufmann, von dem es heißt, er mache Geschäfte mit dem Osten. Sein Name: Wolfgang Sauter. "Markgraf" lautet der Deckname, mit dem er in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit verzeichnet ist. Davon hat der Herr in seiner Begleitung allerdings keine Ahnung. Dieser ist ein älterer Mann mit Fliege, Homburg und Staubmantel: Fritz Schäffer, Bundesminister der Finanzen, eine Zentralfigur im Kabinett Konrad Adenauers.

    Schäffers Geheimbesuch in Ostberlin gehört zu den bizarrsten Episoden im Kalten Krieg. Erst Jahre später erfährt die Öffentlichkeit davon. Restlos aufgeklärt sind die Undercover-Unternehmungen des Bonner Ministers bis heute nicht. Einerseits, weil sie historisch folgenlos blieben. Andererseits, weil der Inhalt der Sondierungen lange Zeit nur widersprüchlich überliefert war. Inzwischen sind Mitschnitte der Gespräche in den Beständen der Birthler-Behörde aufgetaucht. Ausschnitte werden in dieser Sendung des Deutschlandfunks erstmals hörbar gemacht. Die Tonqualität der Dokumente ist dürftig. Doch ermöglicht der Fund Rückschlüsse auf einen gerade in seiner Naivität einzigartigen Versuch zweier Männer, dem Rad der Geschichte in die Speichen zu greifen: Fritz Schäffer und Vinzenz Müller, General der Nationalen Volksarmee.

    Fritz Schäffer, geboren im Drei-Kaiser-Jahr 1888 in München. Als Bundesminister der Finanzen, später als Justizminister, ist er maßgeblich am Aufbau der jungen Bundesrepublik beteiligt. Er war letzter Vorsitzender der Bayerischen Volkspartei vor der Machtergreifung durch Hitler. Als Nazi-Gegner wurde Schäffer von den Amerikanern 1945 als Ministerpräsident in Bayern eingesetzt und wenig später wieder abgesetzt. Eine eigenwillige, zu Eskapaden neigende Persönlichkeit - mit einem gespannten Verhältnis zu Adenauer, auch weil er den unbedingten Westkurs des Kanzlers nicht unbedingt teilt.

    Die Initialzündung zu Schäffers "Patrouillenritt nach Pankow", wie Theodor Eschenburg später schreibt, geht von Vinzenz Müller aus. Der ehemalige Wehrmachtsgeneral hat in der DDR Karriere gemacht. Seine guten Beziehungen zu den Sowjets, zur Militäradministration in Karlshorst, sind bekannt. Höchst wahrscheinlich sind sie es, die Müller bewegen, Anfang 1955 die Fühler nach Schäffer auszustrecken. Der DDR-General bietet vertrauliche Gespräche an, Thema: die Lage im geteilten Deutschland. Anknüpfungspunkt sind landsmannschaftliche Gemeinsamkeiten. Wie Schäffer stammt Müller aus Bayern. Sein Vater saß einst im Landtag für die Bayerische Volkspartei. Ein Bruder wirkt als Priester in Niederbayern. Im niederbayerischen Passau hat Schäffer seinen Wahlkreis. Der Herausgeber der "Passauer Neuen Presse", Hans Kapfinger, verfügt wiederum über gute Drähte in die "Zone".

    Vinzenz Müller, geboren 1894 in Aichach bei Augsburg. Berufsoffizier in der Weimarer Reichswehr. Im Russlandfeldzug Generalstabschef der 17.Armee, 1944 Kommandierender General. Sowjetische Kriegsgefangenschaft nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte. Mitgliedschaft in Nationalkomitee Freies Deutschland und Wendung zum Kommunismus. 1948 Reaktivierung als Generalleutnant in der sowjetischen Besatzungszone. Aufbau der Kasernierten Volkspolizei (KVP), Vorläuferin der Nationalen Volksarmee. Chef des Stabes der KVP, später stellvertretender Innen- und Verteidigungsminister. In der Blockpartei NDPD, Sammelbecken nationaler Kräfte, zeitweise Stellvertreter des Vorsitzenden. 1961 Selbstmord.

    Für Müller-Forscher Peter-Joachim Lapp steht fest: Der DDR-General war Sowjetagent. Nicht auszuschließen, dass er sogar auf zwei Schultern trug. Kontakte zum westdeutschen Geheimdienst BND sind nachweisbar. Aber Müller hat eigene Ideen.

    "Müller ist '44 in sowjetische Gefangenschaft gekommen und hat sich da eingelassen mit dem sowjetischen Geheimdienst. Er wurde angesprochen und hat seine Mitarbeit erklärt. Er hat daran geglaubt, dass das Nachkriegsdeutschland ein einiges Deutschland sein könnte und er hat wohl den Satz von Stalin im Hinterkopf gehabt 'Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staat aber bleibt.' Die Motivation ist nicht völlig klar. Er hat sicher im Auftrag der Sowjets gehandelt, im Vorfeld dieser Treffen, er hat aber auch auf eigene Rechnung gearbeitet. Die deutsche Einheit war für ihn Herzensbedürfnis, und er meinte, ein Deutschland vom Rhein bis zur Oder, blockfrei, könnte im Rahmen des Möglichen liegen in dieser Zeit Mitte der 50er Jahre."

    Im Rückblick trägt die Initiative Schäffer-Müller burleske Züge. Zwar hatte es Anfang 1955 so ausgesehen, als könne noch einmal Bewegung in die Deutschland-Frage kommen. Moskau gibt sich konzilianter; sogar von freien Wahlen in Deutschland ist die Rede. Neutralitätsspekulationen geistern durch Zeitungsspalten und diplomatische Foyers. Doch die Realisten behalten Recht. 1955 wird ein Jahr des Vollzugs, nicht der Optionen und Umleitungen. Der Status quo verfestigt sich im Schnellschritt:

    Am 15. Mai wird das Besatzungsstatut aufgehoben. Die Bundesrepublik wird damit souverän und schon fünf Tage darauf Mitglied der NATO. Adenauer ist erleichtert. Er hat Deutschland auf dem "langen Weg nach Westen" (so der Historiker Heinrich August Winkler) ein gutes Stück vorangebracht, einen Teil Deutschlands wenigstens. Der andere Teil tritt wiederum fünf Tage später dem sowjetisch gelenkten Warschauer Pakt bei.

    Doch die Zeitgenossen erleben das so ungemein ereignisreiche Jahr 1955 nicht so determiniert und stromlinienförmig, wie es in der Retrospektive erscheint. Mitte Mai schließen die Siegermächte einen Staatsvertrag mit Österreich. Hitlers Geburtsland wird zu ewiger Neutralität verpflichtet. Ein Modell für Deutschland? Im September ist Adenauer in Moskau. Bundesadler und Mercedes-Stern auf dem Roten Platz - noch ein Jahr zuvor ein schier unvorstellbares Bild! Der Kreml verspricht die Freilassung der überlebenden deutschen Kriegsgefangenen. Vereinbart wird die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. An Anzeichen der Entspannung fehlt es nicht.

    Schäffers Auftauchen in Ostberlin erwischt die Staatssicherheit auf dem falschen Fuß. Als die Quelle "Markgraf" die Visite annoncierte, habe man der Sache keinen Glauben geschenkt, berichtet DDR-Chefspion Markus Wolf in seinen Erinnerungen. Schließlich ist der Bonner Standpunkt bekannt: keine Politiker-Kontakte mit offiziellen Stellen der DDR-Regierung, die man partout nicht anerkennt. Dass ein veritabler Minister den Tabubruch wagt, übersteigt die Vorstellungskraft. Aus Angst, sich zu blamieren, hat sich die Staatssicherheit entschlossen, weder die sowjetische Botschaft, noch die Regierung in Pankow von "Markgrafs" Annonce zu informieren. Am Marx-Engels-Platz hat man lediglich zwei Stasi-Offiziere in Zivil postiert, dazu einen Fotografen - für alle Fälle.

    Die verwirrten Stasi-Leute chauffieren den Bonner Überraschungsgast zunächst zum Haus von General Müller in Berlin-Schmöckwitz. Dort erfährt Schäffer, dass Sowjetbotschafter Puschkin, den er zu sprechen erwartet hatte, nicht greifbar ist. Ersatzweise improvisiert man für den Bundesfinanzminister, der einigermaßen aufgebracht ist, eine Talkrunde im Gästehaus der DDR-Regierung am Zeuthener See. Schäffers Gesprächspartner in der Villa sind Markus Wolf, der sich nicht zu erkennen gibt, und Semjon Logatschow, Offizier des KGB. Schäffer hält ihn für Puschkins zweiten Mann.

    Das Rendezvous am Zeuthener See verläuft unergiebig. Schäffer bleibt nicht verborgen, dass er es bloß mit Statisten zu tun hat. Rede und Gegenrede sind hölzern und formelhaft. Logatschow, der im Stasi-Mitschnitt als "Herr Tschernow" figuriert, ist bemüht, dem Gast die Zunge zu lockern, doch der lehnt die Einladung zum Krimsekt ab.

    "Ich kann nur wenig trinken, weil ich leider mit meinem Magen zurzeit zu tun habe."

    Für spätere Behauptungen Pankows, der Bundesfinanzminister habe einen Konföderationsplan unterbreitet, findet sich in den Abhörprotokollen kein Beleg. Noch am selben Tag reist Schäffer zurück.

    Schäffers Mission war ein kompletter Fehlschlag. An dieser Erkenntnis kommt auch der Minister nicht vorbei. Adenauer hat es vorausgesehen. Schäffer hat ihn am 6. Mai über seine Reiseabsicht in Kenntnis gesetzt. Der Kanzler rät ab, untersagt die Reise aber nicht. Doch macht er Schäffer unmissverständlich klar: Wenn die Sache auffliegt, hat er davon nichts gewusst.

    Trotzdem lässt der Bundesfinanzminister sich nicht entmutigen. Ein abermaliges Geheimtreffen mit Müller findet 14 Monate später statt, am 20. Oktober 1956. Die Ungarn-Krise ist auf dem Höhepunkt. Drei Stunden parliert Schäffer mit Müller. Der ist Generalstabschef der inzwischen gegründeten Nationalen Volksarmee geworden. Diesmal ist man in Pankow bestens vorbereitet, die Stasi auch. Zwei Tage vor Schäffers Eintreffen wird in Müllers Haus in Schmöckwitz eine neue Abhöranlage installiert. Die Stasi weist sogar an, wo der Bonner Gast zu sitzen hat: im Wohnzimmer neben dem Telefon. Das Abhörgerät ist in einem Kleinmöbel versteckt. Davor hat ein Sitzkissen zu liegen, steht im Drehbuch. Den Abhörwagen hat man in 200 Meter Entfernung im Wald postiert, erinnert sich Müllers Schwiegertochter noch nach Jahren.

    Über die Gespräche liegen diverse Aufzeichnungen vor, hauptsächlich aus DDR-Quellen. Sie geben nicht zu erkennen, was sich Schäffer von der Unterredung versprach und weshalb er die Risiken einer zweiten konspirativen Irrfahrt auf sich nahm. Franz Josef Strauß schreibt in seinen Erinnerungen, General Müller habe den Minister mit einem dramatischen Bild von der Lage in der DDR zum Kommen überredet. Es könne zu einem Putsch gegen Ulbricht und einer Machtübernahme durch die NVA kommen - ein wenig glaubhaftes Szenario, sieht man einmal davon ab, dass das Erdbeben in Ungarn Zweifel an der Stabilität des sowjetischen Blocksystems gestattete.

    Die DDR-Führung gedenkt, Schäffers Anwesenheit für ihre Zwecke zu nutzen. Während des Mittagessens bei Müller ruft DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl an. Er möchte mit Schäffer sprechen. Ein direkter Kontakt mit einem hohen Bonner Regierungsmitglied wäre etwas, das sich propagandistisch ausschlachten ließe. Doch Schäffer ist vorsichtig, lässt den Hörer liegen. Wenig später ist er mit Müller bei Sowjetbotschafter Puschkin. Was er Puschkin vorträgt, ist in den Grundzügen mit Adenauer abgestimmt, nicht im Detail. Schäffer bringt den bekannten Bonner Standpunkt vor, jede Veränderung in Deutschland müsse mit demokratischen Wahlen beginnen. Doch er macht auch Andeutungen, die in Richtung einer Konföderation beider deutscher Staaten als Ausweg aus der Teilung zielen. Es fällt das Stichwort Benelux.

    Es sind waghalsige Gedankenspiele, die der Minister vorträgt. Vor der Folie der Bonner Amtspolitik sind sie mutig, ja gefährlich. Die Weltpolitik entzieht ihnen den Boden. Am 4. November ersticken sowjetische Truppen die ungarische Revolution im Blut. Wunschdenken anzunehmen, Moskau würde ausgerechnet seinen ostdeutschen Satelliten freigeben.

    Aber in Pankow lässt man den Draht zu Schäffer nicht rosten. Im März 1957 reist der NDPD-Abgeordneten Professor Otto Rühle nach Bonn. Schäffer empfängt ihn im Ministerbüro an der Graurheindorfer Straße. Natürlich erscheint der Ostberliner Sendbote getarnt. Der Volkskammer-Abgeordnete Professor Rühle meldet sich als "Dr. Rühle aus Stuttgart" an, der wissenschaftlich interessiert sei an der Frühgeschichte der Bundesrepublik - ein Agenten-Thriller der komischen Art.

    Rühle kommt ohne jegliche Vollmacht. Er soll Schäffers Standpunkte ausloten. Für das mit aller Macht aus der internationalen Isolation herausdrängende und von Bonn stets ignorierte Pankower Regime stellt die Tatsache, dass ein Abgeordneter der sowjetzonalen Volkskammer zu Gast beim Bonner Finanzminister ist, einen Wert an sich dar. Ist sich Schäffer dessen nicht bewusst? Er behandelt seinen Gast jovial, fast vertrauensvoll. Als während der Unterredung Unionsfraktionschef Heinrich Krone dringend nach dem Minister verlangt, lässt dieser den Anruf durchstellen. In Anwesenheit Rühles diskutiert er mit Krone über das aktuelle Thema "Erhöhung der Kriegsopferrenten".

    Für seine Auftraggeber fasst Rühle den Ertrag des Gesprächs in einer Bandaufnahme, die dem Deutschlandfunk vorliegt, zusammen. Danach hat sich Schäffer vage über die Möglichkeit geäußert, Wahlen zu einer Nationalversammlung in ganz Deutschland durchzuführen. Dafür nennt er einen Zeitplan von zwei Jahren. Direkte Gespräche mit der Regierung der DDR schließt der Bonner Minister, den Rühle in seiner Aufzeichnung als "S" verschlüsselt, nicht aus, auch er selbst will im Gespräch bleiben, natürlich diskret.

    "S kam wieder zu mir an den Tisch und sagte, er möge also nun selbst klar zusammenfassen: Er möchte noch einmal betonen, dass die ganzen Besprechungen bisher rein internen Charakter trügen, und dass er selbstverständlich voraussetze, dass vorläufig nichts an die Öffentlichkeit dringe."

    Die vereinbarte Vertraulichkeit hält nicht lange. Es ist Ulbricht, der die Geheimkontakte 1958 publik macht. Der SED-Chef hat sich mit Gedankenspielen über eine deutsch-deutsche Konföderation in Szene gesetzt. Nun behauptet er, über diese Idee sei bereits mit einem Bonner CDU/CSU-Minister gesprochen worden. Als Ulbricht immer mehr Einzelheiten preisgibt, sieht Schäffer keine andere Möglichkeit, als sich zu bekennen. Bonn hat eine Affäre. Sie wird von Ostberlin genüsslich ausgeschlachtet. Jetzt, da die Vertraulichkeit gebrochen ist, muss auch Vinzenz Müller auf die Bühne. Am 19. November strahlt der Ostberliner Deutsche Fernsehfunk ein angebliches Live-Interview mit dem DDR-General aus.

    "Sagen Sie doch bitte, wie war die ganze Atmosphäre, als Dr. Schäffer Sie in ihrer Wohnung im demokratischen Sektor von Berlin besuchte?"

    "Dr. Schäffer und ich, wir haben uns zuerst nicht gekannt. Schäffer war aber ein guter Bekannter meines verstorbenen Vaters, mit dem zusammen er in der Weimarer Zeit Abgeordneter im Bayerischen Landtag war."

    "Wie lange dauerte denn das Gespräch?"

    "Das Gespräch dauerte etwa drei bis dreieinhalb Stunden. Wir haben zwischendurch auch etwas gegessen. Aber selbstverständlich stand das Essen und Trinken nicht im Mittelpunkt. Es ging um die Lösung der Deutschlandfrage ohne Gefährdung des Friedens."

    "Aus ihren Worten möchte ich entnehmen, dass Herr Dr. Schäffer auf einen Kompromiss hinaus wollte. Würden Sie freundlicherweise dazu noch etwas Näheres sagen."

    "Ihr Eindruck, der ist durchaus richtig. Herr Dr. Schäffer ist von der realen Wirklichkeit ausgegangen, das heißt von der Tatsache der Existenz zweier deutscher Staaten."

    Für Schäffer hat die Enthüllung keine unmittelbaren Folgen. Das Berlin-Ultimatum Chrustschows überdeckt die Affäre bald. Der Minister selbst versucht sein Verhalten in der Öffentlichkeit mit einer Gewissensentscheidung zu rechtfertigen. "Die deutsche Einheit in Frieden, ohne Blutvergießen, in völliger Freiheit zu gewinnen", sei ein Ziel, "für das es sich lohne, Opfer zu bringen", erklärt der Bloßgestellte seiner CSU-Basis in Passau.

    Für Peter-Joachim Lapp ist Schäffer wie Müller ein Patriot, ein eigener Kopf - jedenfalls einer, der sich etwas traut.

    "Er hat nachweislich gegenüber dem Sowjetbotschafter bei dem zweiten Treffen Hinweise gegeben auf eine mögliche Beneluxregelung zwischen beiden deutschen Staaten oder einer Föderation oder einer Konföderation, Ideen die später, sehr viel später, Helmut Kohl Ende November '89 aufgebracht hat, und das schon Mitte der fünfziger Jahre."

    Mit Ulbrichts Vertrauensbruch ist das Schattenspiel des Bonner Finanzministers mit dem NVA-General Vinzenz Müller zu Ende. Müller, der die sonderbare Episode eröffnet hatte, ist zum Zeitpunkt der Enthüllung durch Ulbricht bereits in Ungnade gefallen.

    Am 12. Mai 1961 begeht Vinzenz Müller durch einen Sprung aus dem Schlafzimmerfenster seines Wohnhauses Selbstmord. Drei Monate später zementiert der Mauerbau die Spaltung Berlins und Deutschlands.