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Exkursion in die Untiefen einer Biografie

Der Held in Sten Nadolnys Roman, der pensionierte Richter Weitling, ist während eines Sturms auf dem Chiemsee vom Kurs abgekommen. Gewohnt Entscheidungen zu treffen, muss er nun abwarten, welches Urteil die Natur über ihn fällt. Nur das Erinnern bietet ihm in dieser Situation Halt.

Von Michael Opitz | 19.12.2012
    "Der Ostwind hatte aufgebrist. Sollte er das Boot klarmachen? Richter a. D. Wilhelm Weitling blinzelte in die Nachmittagssonne über dem Chiemsee: Ja, das war kein schlechter Tag dafür."

    Sten Nadolnys literarischer Held, der Richter a.D. Wilhelm Weitling, ist etwas zu leichtsinnig, als er die drohend am Himmel heraufziehenden Wolken ignoriert. Denn als sich der Ostwind zu einem veritablen Sturm mausert, wird er von der Natur zum Statisten degradiert. Es geschieht in Windeseile: Zunächst zerfetzt der Sturm das Segel, und danach bringt er das Boot zum Kentern. Der Segeltörn des Richters droht in einer Katastrophe zu enden. Doch er geht nur über Bord – unter geht er nicht. Besser müsste man sagen: Er ertrinkt nicht im Chiemsee. Zum zweiten Mal fordert ihn dieser See heraus. Bereits als Sechzehnjähriger wäre er fast beim Segeln ertrunken. Auch damals stand sein Leben auf der Kippe. Nun befindet er sich erneut in einer Pattsituation. Es ist unklar, zu welcher Seite sich seine Lebenswaage neigen wird. Weitling, der es gewohnt ist, Entscheidungen zu treffen, muss abwarten, welches Urteil die Natur über ihn fällt.

    Sten Naldolny: "Ich habe ganz gerne mit einem Richter gearbeitet, weil er ein Mensch ist, der etwas Ähnliches tut wie ein Schriftsteller: Er muss sich ein Bild machen. Er sollte bedächtig und auf keinen Fall vorschnell urteilen. Er muss Erfahrung haben. Er muss auch ein vielleicht nicht unbedingt juristisch und logisch geleitetes Gefühl für Situationen und für Angemessenheit haben. Das sind alles Dinge, die mir ganz gut gefallen haben."

    Die unentschiedene Situation, in der sich Weitling befindet, zieht sich sieben Monate lang hin. In dieser Zeit ist es dem Richter vergönnt, sich selbst als 16-Jährigen zu erleben. Was sich damals ereignet hat, sieht er in allen Einzelheiten vor sich. Sich selbst beobachtend, folgt er seinem eigenen Ich auf den verschiedensten Wegen. Dabei handelt es sich um eine äußerst reizvolle Reise, dennoch sehnt sich der Richter danach, wieder in die Gegenwart zurückkehren zu dürfen. Als aber die Odyssee ein Ende findet, und der Richter in der Gegenwart vor Anker gehen kann, ist ihm der Heimathafen alles andere als vertraut: Alle, denen er begegnet, kennen ihn nicht als Richter, sondern als Schriftsteller. Erst als er anfängt, seine eigenen Bücher zu lesen, findet er über die Lektüre zurück in eine Existenz, von der er annehmen will, dass es seine ist.

    Sten Nadolny: "Es begegnet mir häufig dieser Einwand, dass einer dieser beiden, der Richter oder der Schriftsteller, nicht existent sein sollen. Das tut mir immer ein bisschen weh, weil ich daran merke, dass man meine Fiktion nicht ernst nimmt. Nämlich: Dass das, auf jeden Fall in meinem Buch möglich ist, dass jemand ein ganz realer Richter ist, und dann etwas für ihn, für alle anderen und auch für den Leser Unverständliches passiert, und er danach in seiner Jugend neu anfängt, er sich dabei beobachtet, wie er da neu anfängt, identifizierbar als der, der er dann geworden ist. Er stellt dann fest: Genau der wird er dann nicht werden, sondern die Weichen werden jetzt anders gestellt, und er kommt als jemand Anderes aus dem Abenteuer wieder heraus und ist vielleicht etwas anders und hat vielleicht eine andere Frau und hat vielleicht viele Veränderungen zu erleiden – wahrscheinlich, die inzwischen stattgefunden haben. Und er sitzt da und hat die Erinnerung an die Richterexistenz, die ihm aber nicht nützt, denn keiner glaubt ihm das. Er kann es auch niemandem erzählen. Er ist jemand anders, nämlich ein Schriftsteller und muss den Schriftsteller spielen, bis er sich schließlich damit abfindet, dass er das wohl ist. Aber ich lege großen Wert darauf, dass beides die reine Wahrheit ist: Der Richter wird dann Schriftsteller. Beides ist wahr."

    Das Bootsunglück erweist sich für den Richter zunächst als großes Glück, da er seiner eigenen Vergangenheit einen Besuch abstatten kann. Vergangenes erlebt er, als würde es sich unmittelbar ereignen. Geht der junge Willy die Dorfstraße entlang, dann begegnet er Menschen, von denen der in die Jahre gekommene Richter bereits weiß, wann sie gestorben sind. Schaut der alte Richter seinem eigenen Ich bei einer Lateinarbeit über die Schulter, dann staunt er, was er als Gymnasiast alles wusste, und wie viel er inzwischen vergessen hat.

    Sten Nadolny: "Ich stelle etwas auf den Kopf. Wir werden in keinem Moment an uns irre, wenn wir wissen, dass wir Schriftsteller sind. Wir werden nicht sagen: Oh, was ist denn nun geschehen, nun bin ich aber Schriftsteller. Dieses Erstaunen wird nicht stattfinden. Wohl aber das Spiel mit dem Konjunktiv. Ich habe das umgedreht und gesagt: Jetzt machen wir das doch einmal wahr. Da ist jemand Richter und er ist sich in dieser Rolle vollkommen sicher. Und dann bekommt er einen unglaublichen Schlag, nicht nur gegen den Hinterkopf durch den Baum seines Segels, sondern er bekommt einen Schlag ins Kontor, weil er fassungslos sehen muss, dass er es jetzt mit einer ihm völlig unbekannten, einer unbegriffenen und von ihm erst zu erarbeitenden Existenz zu tun hat."

    Sten Nadolnys Richter bereist unterschiedliche Zeiträume, wobei das Segelboot als Metapher dient, durch die die beiden Zeitebenen zusammengehalten werden. Der Richter ist auf dem Chiemsee vom Kurs abgekommen. Sein Unterwegssein in der eigenen Vergangenheit ist zugleich der Versuch, einen Weg zurück in die Gegenwart zu finden. Als unentschieden ist, wohin die Reise geht, bietet nur das Erinnern Halt. Aber alle Erinnerungen stehen erneut auf dem Prüfstand, als er wieder festen Boden unter den Füßen hat, da er nicht in eine ihm vertraute Gegend zurückkehrt.

    Ein Schriftsteller, der sich für dieses literarische Reisevorhaben rüstet, so könnte man zumindest vermuten, verstaut in seinem Seesack auch einige unverzichtbare Utensilien der eigenen Biografie.

    Sten Nadolny: "Es ist merkwürdig, dass ich eigentlich bei allen Büchern, die ich geschrieben habe, bis auf das allererste, gründlich recherchiert habe. Bei diesem Weitling-Buch, bei der 'Sommerfrische', habe ich das unterlassen. Ganz bewusst unterlassen. Ich habe mir gedacht: Soll ich in die Familienalben schauen? Soll ich meine alten Zeugnisse vornehmen? Doch dann habe ich gewusst, dass mich das wieder woanders hinbringt. Das lässt mich wahrscheinlich diese Idee wieder verlassen, die ich jetzt habe. Ich habe mich einfach dazu entschlossen, mich lieber auf meine Erinnerung zu verlassen, so lückenhaft sie sein mag. Und wenn ich etwas brauche, dann erfinde ich das. Denn, es ist ja keine Autobiografie, dafür habe ich ja die ganze Konstruktion gemacht."

    Dennoch spielt der Roman mit autobiografischen Momenten, die Sten Nadolny allerdings nicht eins zu eins für die von ihm erzählte Geschichte übernimmt. Der Richter Weitling war sich sicher, dass er als Kind drei Monate in einem Kinderheim war. Aber der Schriftsteller stellt dann fest, dass der Aufenthalt wesentlich länger dauerte.

    Sten Nadolny: "Diese Geschichte ist autobiografisch. Ich war neun Monate in einem Kinderheim, weil meine Mutter schwer krank war zu dieser Zeit und ich nicht versorgt werden konnte. Das habe ich genommen, weil es mir sehr zu passen schien. Ich wollte ja ein paar Eckdaten ändern. Der Schriftsteller merkt: Donnerwetter! Mein Leben ist anders verlaufen, was ich ja bereits geahnt habe, damals, als ich zu Besuch war bei mir selber war. Es ist in allen Fragen eine ein wenig geänderte Biografie, mit der ich jetzt zurechtkommen muss."

    Sten Nadolny erlaubt sich eine Reihe von dichterischen Freiheiten im Umgang mit der eigenen Biografie:

    "Nicht die Mutter stirbt früh und der Vater wird ein ganz alter Mann – so erinnert es der Richter –, sondern der Vater stirbt sehr früh. Übrigens als erfolgloser Schriftsteller. Das ist sehr wichtig und das ist auch autobiographisch angelehnt. Das war so mein Gedanke, natürlich spielend mit dem eigenen Leben umzugehen."

    In welcher Zeit sich Weitling auch befindet, ob in der Vergangenheit, auf die er als Richter zurückblickt oder in der Gegenwart, die er als Schriftsteller erlebt: Nie ist er sich seiner sicher. Was sich ereignet hat, würde er in mancherlei Hinsicht gern korrigieren, was ihm nicht möglich ist. Stattdessen korrigiert ihn die Wirklichkeit, mit der er sich nach seiner Rückkehr konfrontiert sieht. Wer er wirklich ist, diese Frage beschäftigt ihn auf beiden Zeitebenen. Nach dem Schiffsunglück suchte der Sechszehnjährige Teile seines havarierten Segelbootes. Froh war er, als er das Steuerrad fand. Als der um Jahrzehnte Ältere versucht, sich nach seiner Rückkehr in der Gegenwart zu verorten, braucht er dringend ein Steuerrad, um sein Leben wieder auf Kurs bringen zu können. Sten Nadolnys Roman begleitet einen Suchenden auf seiner Lebensreise. Dass diese Exkursion in die Untiefen einer Biografie so viele bemerkenswerte Ausblicke erlaubt, liegt an der erzählerischen Souveränität des Autors, der weiß, wie die Segel zu setzen sind, damit eine Geschichte Fahrt aufnehmen kann.

    Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische.
    Piper Verlag, München 2012, 218 Seiten, 16,99 Euro