Dienstag, 19. März 2024

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Flucht und Tanz
Türkische Choreografen kommen nicht mehr in ihr Land zurück

"Das Thema 'Flucht und Tanz' ist sehr, sehr aktuell", sagte Dorion Weickmann, Redakteurin der Zeitschrift "Tanz" im DLF. In dem Jahrbuch "Über Grenzen" hat die Zeitschrift zudem die besten Tänzer, Choreografen, Produktionen und Kompanien des Jahres aufgeführt. Dabei seien vor allem "Klassiker" vertreten, so die Tanzkritikerin.

Dorion Weickmann im Gespräch mit Karin Fischer | 30.08.2016
    Der Fuß einer Tänzerin der Ballettschule der Oper in Nanterre,
    Manche Tänzer säßen in ihren Ländern fest, da sie keine Visa bekommen, um auszureisen, betonte die Tanzkritikerin Dorion Weickmann im Deutschlandfunk. (AFP PHOTO / Lionel Bonaventure)
    Karin Fischer: Das Beste und die Besten im Tanz in diesem Jahr sind wohlbekannte Namen. Die Auswahl, die – wie es im Jahrbuch heißt – "42 professionelle Hingucker an den Bühnenkanten des Tanzes" getroffen haben, liest sich wie ein who is who der angesagtesten der Branche: "Until the lions" von Akhram Khan ist Produktion des Jahres, Silvie Guillem Tänzerin des Jahres, Choreografin und Choreograf des Jahres sind Anna Teresa de Keersmaeker und Alexej Ratmansky.
    Zur Kompanie des Jahres wurde das Bayerische Staatsballett gewählt, eine schöne Würdigung des Teams um Intendant Ivan Liska, das nicht nur Wegweisendes im Bereich der Rekonstruktion erarbeitet hat, beispielsweise Oskar Schlemmers "Triadisches Ballett", sondern auch die weltweit erste Einstudierung eines Tanztheaterstücks von Pina Bausch umsetzen konnte.
    Man muss zu dem allen sagen: Diese Auswahl ist nicht wirklich repräsentativ zu nennen, weil jeder und jede Tanzkritikerin nur den kleineren Teil aller Produktionen gesehen haben kann. Dorion Weickmann, Redakteurin von "tanz", habe ich gefragt: Diese Auswahl ist weder überraschend noch eindeutig. Was ist dann der Sinn eines solchen Rankings?
    "Das Klassische ist ganz besonders stark gewesen"
    Dorion Weickmann: Ich glaube, der Sinn eines solchen Rankings besteht darin, dass man bestimmte Tendenzen vielleicht doch ablesen kann. An der diesjährigen Umfrage, an ihren Ergebnissen fand ich selbst sehr interessant, dass klassische oder doch aus dem Klassischen kommende Tänzer und Choreografen ganz besonders stark dabei gewesen sind.
    Sie haben es gesagt: Akhram Khan und Anna Teresa de Keersmaeker sind diejenigen, die sozusagen die zeitgenössische Linie vertreten. Aber die anderen Sparten sind doch von den "Klassikern" okkupiert worden, und das fand ich sehr spannend.
    Fischer: Sylvie Guillem ist ohne Frage eine Ausnahme-Erscheinung im Tanz, die jetzt ihren Bühnenabschied sehr lange, das aber auch auf höchstem Niveau zelebriert hat?
    Weickmann: Absolut. Wer den letzten Abend gesehen hat, wird ganz sicher mindestens eine Träne darüber vergossen haben, dass wir diese Tänzerin nicht mehr sehen werden, obwohl es andererseits natürlich auch irgendwo absolut verständlich ist, dass jemand sagt, jetzt habe ich noch Kraft, so sollen mich die Menschen im Gedächtnis behalten. Das hat auch was für sich.
    Fischer: Wir sollten ein ganz kurzes Wort verlieren über Steven Mcrae vom Royal Opera House in Covent Garden, er ist Tänzer des Jahres und für uns tatsächlich wahrscheinlich eine Entdeckung.
    Weickmann: Ja, er ist hierzulande nicht besonders bekannt. Aber er ist beim Royal Ballett eine absolut herausragende Erscheinung. Er hat sehr viele Leading Parts, Hauptrollen getanzt und ist insbesondere jetzt zuletzt mit der Kreation von Liam Scarlett als Frankensteins Monster in Erscheinung getreten und hat da die Kritiker unglaublich überzeugt.
    "Aus verschiedenen Blickrichtungen auf das Grenzphänomen schauen"
    Fischer: Sie haben die Klassiker erwähnt, Frau Weickmann. Alexej Ratmansky war Direktor des Bolschoi Balletts in Moskau und hat auch lange in New York gearbeitet. Er gilt als Erneuerer des klassischen Handlungsballetts, was er mit einem tollen "Schwanensee" in Zürich gezeigt hat, der eine Rekonstruktion war.
    Weickmann: Ja. Den "Schwanensee", den er für Zürich gemacht hat jetzt, hat er aus der Stepanow-Notation rekonstruiert. Das ist eine Spezial-Notation, die tatsächlich nur ganz geübte Leser verstehen. Er hat einem Werk zu einem Glanz verholfen, wie man ihn bis dahin nicht gesehen hat.
    Fischer: Tanz ist ja schon immer ein grenzüberschreitendes Genre, weil er auch schon immer viele andere Künste inkorporiert hat. Nun haben Sie Ihr Jahrbuch "Über Grenzen" genannt und damit aber noch mal was ganz anderes gemeint.
    Weickmann: Ja, wir haben versucht, aus verschiedenen Blickrichtungen auf dieses Grenzphänomen, was uns ja insgesamt gesellschaftlich einfach dieses Jahr ganz stark beschäftigt hat, zu schauen und haben da für den Tanz im Grunde einmal das Ästhetische beleuchtet. Das heißt, dass wir feststellen, dass in ganz vielen Bereichen auf einmal Grenzen aufgehen, die bis dahin für feststehend gehalten wurden.
    "Wir haben auch das Politische beleuchtet"
    Dann haben wir den Körper angeguckt, wo wir sehen, dass ganz viele Phänomene wie Transgender auf einmal in den Mittelpunkt von Aufführungen rücken, und haben aber auch das Politische beleuchtet mit der Frage, inwiefern zum Beispiel Spartentrennungen überhaupt noch eine Rolle spielen, inwiefern aber auch Künstler tatsächlich, die jetzt aus dem Ausland zu uns kommen oder die in ganz schwierigen politischen Situationen stecken, dieses Thema für sich selbst thematisieren. So haben wir versucht, aus verschiedenen Blickwinkeln auf das Grenzthema zu schauen.
    Fischer: Was steckt drin in dem Thema "Flucht und Tanz"?
    Weickmann: Das Thema "Flucht und Tanz" ist sehr, sehr aktuell, weil wir sehen, dass zum Beispiel etliche Choreografen aus der Türkei nicht mehr zurückkommen in ihr Land, nicht mehr zurückkönnen oder sich freiwillig entscheiden, hier zu bleiben. Das Thema Flucht ist auch insofern sehr aktuell, weil wir auf der anderen Seite feststellen, dass manche Choreografen oder Tänzer festsitzen in ihren Ländern, keine Visa bekommen, um auszureisen. Wir haben es auf vielerlei Ebene tatsächlich ganz politisch im Tanz auf einmal mit Phänomenen zu tun, über die wir jahrelang eigentlich nicht nachgedacht haben.
    Fischer: Dorion Weickmann war das, Redakteurin der Zeitschrift "Tanz", über die Besten in Bewegung und das Nachdenken über Grenzen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.