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"Flüchtlinge" ist Wort des Jahres 2015
"Ich halte die Begründung für einigermaßen abwegig"

Die Wahl von "Flüchtlinge" zum Wort des Jahres war eine gute, meint der Germanistik-Professor Jochen Hörisch - gleichzeitig hält er die Begründung jedoch für falsch: Das Wort habe nicht grundsätzlich etwas Negatives inne, sagte er im DLF. In der Bezeichnung könne auch sehr viel Hoffnung auf Ausbaufähigkeit deutlich werden.

Jochen Hörisch im Gespräch mit Henning Hübert | 11.12.2015
    Die Begriffe Asylberechtigte, Migranten, Flüchtlinge, Vertriebene, Asylbewerber stehen auf einer Tafel.
    Für den Begriff "Flüchtlinge" gibt es auch alternative Begriffe. (Deutschlandradio / Stefan Fries)
    Henning Hübert: "Lichtgrenze" war mal das Wort des Jahres 2014 zum Mauerfall-Jubiläum - schon ganz schön weit weg. Dieses Jahr ist es ein Substantiv im Plural. "Flüchtlinge" hat die Gesellschaft für Deutsche Sprache auf Platz eins gesetzt. Die Begründung: Flüchtlinge stehen nicht nur für das beherrschende Thema des Jahres. Es sei auch interessant, weil es tendenziell abschätzig klinge. Negativ belegt seien ja auch "Eindringling", "Emporkömmling", "Schreiberling", schreibt die Gesellschaft für Deutsche Sprache. Die Frage nun an den Germanistik-Professor Jochen Hörisch von der Uni Mannheim: Flüchtlinge klinge tendenziell abschätzig. Stimmt das?
    Jochen Hörisch: Nun ja. Sie sprechen mit einem Philologen und der war einigermaßen überrascht, als er die Begründung gelesen hat, weil ich bislang darüber nicht gestolpert bin. Und dann sind mir sofort durch meine alte Birne Gegenbeispiele gerauscht: Was ist bei "Pfifferling" oder was ist bei "Frühling" oder was ist bei "Liebling" oder dergleichen.
    Hübert: Röhrling!
    Hörisch: Ja! Was ist daran negativ?
    Hübert: Oder Säugling.
    Hörisch: Ich kann nicht sehen, dass das ein unvermeidbarer Grundsatz ist, und halte die Begründung für einigermaßen abwegig, obwohl ich sonst mich immer freue, wenn überraschende Thesen kommen. Aber sie sollten richtig sein.
    Hübert: Schönlinge gibt es, Fieslinge gibt es, Säuglinge habe ich eben kurz reingerufen.
    Hörisch: Däumling, Darling!
    "Wie wir das Ding bezeichnen, entscheidet darüber, wie wir uns dazu positionieren"
    Hübert: Ja! Aber trotzdem ist ja in diesem Suffix "ling" auch irgendwas Unfertiges drin, ein Prozess. Beim Lehrling weiß man das ja. Der ist ja noch kein Geselle. Das ist ja doch auch ein Wort, was den Zustand vielleicht ganz gut beschreibt von diesen Menschen, die gerade kommen zu Hunderttausenden. Was gibt es denn für Alternativen für Sie, Professor Hörisch?
    Hörisch: Gerade mal zum ersten Teil Ihrer Frage. Das ist ja letztlich ein positiver Begriff, wenn man sagt, da ist etwas noch nicht fertig, da kann aber was ganz Großes draus werden. Bleiben wir beim Däumling oder bleiben wir beim Säugling. Der Säugling kann ja mal Nobelpreisträger werden und der Däumling kann ja mal stärker werden als der Rest der Welt. Insofern, würde ich sagen, ist Flüchtling eben doch eine Bezeichnung, in der auch sehr viel Hoffnung auf Ausbaufähigkeit deutlich wird. Wenn ihr hier empfangen werdet und was macht aus den Möglichkeiten, dann kann ganz Großes aus euch werden. Aber Sie fragen zurecht ja auch nach den Alternativen und die sind ja geradezu überreichlich gegeben. Da können wir der deutschen Sprache für ihren semantischen Reichtum dankbar sein. Sind es Asylsuchende? Sind es Schutzbefohlene? Sind es Verfolgte? Sind es Heimatvertriebene, Vertriebene? Sind das Elemente einer Völkerwanderung? Wenn das eine Völkerwanderung ist, sind wir Westeuropäer dann die dekadenten Römer, die von den Goten vertrieben werden und niedergemacht werden, oder sind wir Germanen nicht vielmehr Nachfolgen der Goten? Sie merken, ähnlich wie bei Schlepper, Schleuser, Fluchthelfer, wie wir das Ding - ich sage bewusst das Ding und meine damit die Problemlage - bezeichnen, entscheidet darüber, wie wir uns dazu positionieren.
    "Als Sammelbegriff scheint mir das einigermaßen präzise zu sein"
    Hübert: Aber nach ganz klarer Sprache klingt das alles nicht. Zum Beispiel auch Ankommende: Wie lange ist man dann Emigrant? Emigranten sind Migranten, wenn sie die Grenze übertreten, und dann werden sie zum Immigranten, mal ganz genau formuliert. Köln hat so was: die Immis. Das sind die, die neu dazugekommen sind in die Stadtgesellschaft.
    Hörisch: Ja. Sie Reden mit einem Spezialisten, wenn ich eitel sein darf, für deutsche Sprache. Ich bin deutscher germanistischer Philologe. Und es ist schon enorm zu sehen, was die deutsche Sprache da an Möglichkeiten bereithält. Die Ankommenden, diese seltsamen Gerundium-Bildungen finden wir ja heute, die sind allseits beliebt. Studierende: Man vergisst etwa immer, wenn man sagt Studierende, dass ein Studierender ja auch gerade was anderes machen kann als studieren. Der kann zum Beispiel ein Liebender sein oder ein Schlafender. Ist er, wenn er ein Schlafender ist, ein Studierender? Nein! Wir merken also, dass sich sehr viele Dinge eigentlich verschleifen. Beim Wort Ankommende: Das wird sich nicht durchsetzen, weil es zu konstruiert klingt. Würden wir sagen, aha, ihr seid endlich angekommen, warum aber dann nicht bei dem Wort Flüchtling bleiben. Als Sammelbegriff scheint mir das einigermaßen präzise zu sein, weil man sehr unterschiedlich interpretierend mit diesem Wort und mit anderen Worten genauso umgehen kann.
    Hübert: Das Wort ist ein sehr altes Wort. Grexit wäre jetzt eine neue Schöpfung gewesen, hat es auf Platz drei ja nur geschafft. Ist Flüchtling letztlich eine gute Wahl?
    Hörisch: Es ist sicherlich eine gute Wahl, keine originelle, aber eben deshalb eine gute Wahl, weil das ja das Thema ist, das nicht jetzt schnell durchgewunken wird, neuer Bundespräsident, alter Bundespräsident, sondern weil das ein Problem ist, das uns ganz gewiss auch im nächsten Jahr und im übernächsten Jahr begleiten wird. Ich bin gespannt, was die dann für eine Auswahl treffen.
    Hübert: Sagt der Germanist Jochen Hörisch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.