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Flüchtlingskrise
"Wir werden eine Kostenexplosion erleben"

Der Fokus auf das drängendste Problem der Kommunen bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise werde sich bald ändern, sagte der Geschäftsführer des Deutschen Landkreistages, Hans-Günter Henneke, im DLF. Heute sei es die Unterbringung, morgen die Integration in den Arbeitsmarkt. Zunächst könnten nur etwa zehn Prozent der Bleibeberechtigten integriert werden.

Hans-Günter Henneke im Gespräch mit Christine Heuer | 07.11.2015
    Hans-Günter Henneke, Deutscher Landkreistag
    Hans-Günter Henneke vom Deutschen Landkreistag berichtet von überfüllten Erstaufnahmestellen und der Notwendigkeit neuer Flüchtlingsunterkünfte. (dpa / picture-alliance / Hannibal Hanschke)
    Christine Heuer: Flüchtlinge ohne Aussicht, anerkannt zu werden, sollen schneller abgeschoben werden können. Dazu vor allem dienen die von der Koalition am Donnerstag beschlossenen Registrierzentren. Einmal abgesehen davon, dass die Koalition sich gerade auf dem Weg in den nächsten Streit befindet, möglicherweise, weil Innenminister Thomas de Maizière offenbar syrische Flüchtlinge nach wie vor schlechter stellen will als bisher und die SPD das angeblich ablehnt. Was können Registrierzentren tatsächlich dazu beitragen, die Lage für Städte, Kommunen und Landkreise zu entschärfen? Das möchte ich jetzt mit Hans-Günter Henneke besprechen. Er ist Geschäftsführer beim Deutschen Landkreistag. Guten Morgen!
    Hans-Günter Henneke: Guten Morgen, Frau Heuer!
    Heuer: Wenn ich das richtig verstanden habe, dann reisen Sie gerade so ein bisschen durch die Lande, um zu recherchieren, wie die Lage vor Ort ist. Wie ist sie denn?
    Henneke: Die Lage vor Ort ist angespannt. Sie ist insbesondere in Bayern angespannt, aber auch in anderen Ländern. Überall stoßen die Landkreise an die Grenzen der Aufnahmekapazität. Wir haben Erstaufnahmeeinrichtungen, die an Kapazitätsgrenzen stoßen, wir haben die Hoffnung, dass die Bundeswehr weitere Liegenschaften zur Verfügung stellt. Die müssen aber hergerichtet werden. Insofern sind wir schon in einer angespannten Lage, und das hat uns dazu veranlasst, im Gespräch mit der Bundeskanzlerin und weiteren Kabinettsmitgliedern zuzugsbegrenzende Maßnahmen einzufordern.
    Heuer: Sind Sie denn zufrieden mit dem, was die große Koalition jetzt am Donnerstag beschlossen hat?
    Henneke: Es geht ja darum, dass man die Steuerungsfähigkeit insgesamt versucht, insgesamt wieder zurückzubekommen, und insofern sind es Schritt-für-Schritt-Maßnahmen. Diese Maßnahmen, die konkret beschlossen worden sind, sind aus unserer Sicht durchaus hilfreich. Da geht es ja nicht nur um diese Registrierzentren. Es geht auch darum, das ist wichtig, dass eine Datenbank aufgebaut wird, ein einheitlicher Ausweis ausgegeben wird, damit man insgesamt besser erkennen kann – es geht dann um die Ankündigung außenpolitischer Maßnahmen. Das wird das Wichtigste sein, nur da ist eben die Bundesregierung nicht alleine handlungsfähig. Und dazwischen steht, im Grunde für einen relativ kleinen Personenkreis, für die Personen aus sicheren Herkunftsländern eben dieses neue System, das eingerichtet werden soll mit den besonderen Aufnahmeeinrichtungen.
    Heuer: Genau. Es betrifft nach dem jetzigen Stand etwa zwei Prozent der Flüchtlinge. Ist das nicht eigentlich nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein? Viel Lärm und nichts?
    "Reduzierung des Familiennachzugs rechtlich so einfach nicht zu gestalten"
    Henneke: Das kann man so nicht sagen, sondern wir hatten ja 40 Prozent Flüchtlinge aus dem Westbalkan. Insofern ist die Zahl sehr unterschiedlich, und insofern soll ja von diesen Registrierzentren in der Hauptsache ein Effekt ausgehen, dass Bewerber aus sicheren Herkunftsländern nach Möglichkeit sich gar nicht mehr auf den Weg machen. Insofern ist die Kleinheit der Zahl allein noch kein Argument dagegen, sondern es geht jetzt im Grunde hier darum, mit einer bestimmten Gruppe von Asylbewerbern, deren Antrag nicht aussichtsreich zu sein scheint, ein besonderes Verfahren auf den Weg zu bringen, damit wir für die anderen Raum und Kapazität behalten.
    Heuer: Sollten zu dieser Gruppe nach Ihrer Meinung künftig auch Afghanen zählen, denn das ist ja etwas, was die Regierung ganz offensichtlich vorhat, wenigstens bestimmte Provinzen in Afghanistan als sicher zu erklären.
    Henneke: Die Frage ist ja nicht von uns zu beantworten, sondern die Frage ist außenpolitisch zu lösen, und insofern, auch das ist ja in dem Papier enthalten, geht es um die Fragestellung, wie kann man bestimmte Staaten, Afghanistan, Pakistan und andere so stabilisieren, dass dann die Voraussetzungen dafür vorliegen. Das bedarf ja dann noch eines weiteren politischen Entscheidungsprozesses.
    Heuer: Herr Henneke, ich stelle Ihnen die Frage anders. Würde Ihnen eine solche Entscheidung helfen? Denn die Afghanen sind ja eine wachsende Gruppe von Flüchtlingen.
    Henneke: Die Afghanen sind eine deutlich wachsende Zahl von Flüchtlingen, und insofern würde eine solche Entscheidung natürlich helfen. Sie muss aber natürlich auch tatsächlich und politisch vertretbar sein.
    Heuer: Gilt das auch – wir haben jetzt gerade die aktuelle Diskussion nach den Äußerungen von Thomas de Maizière gestern –, gilt das auch, wenn der Familiennachzug für syrische Flüchtlinge ausgesetzt wird? Wäre das hilfreich?
    Henneke: Wir haben im Gespräch mit der Bundesregierung besprochen, dass der Familiennachzug gerade für den kommunalen Bereich, bei der Frage der Unterbringung, ein großes Problem darstellt, und insofern sind wir übereinstimmend der Auffassung gewesen, dass es beim Familiennachzug nicht nur um Verlangsamung gehen muss, sondern dass es auch um Reduzierung des Familiennachzugs gehen muss. Das ist rechtlich so einfach nicht zu gestalten. Und insofern haben wir im Moment ja bei den Flüchtlingen, die bleiben dürfen, die hier im Lande sind, drei Gruppen: Asylbewerber, anerkannte Asylbewerber, wir haben Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention, und wir haben sogenannte Geduldete. Und nur bei den Geduldeten kann man diese Maßnahme, die Herr de Maizière ins Gespräch gebracht hat, zur Anwendung bringen, das heißt, den Familiennachzug stoppen. Und insoweit ist es natürlich eine ausgesprochen schwierige Situation, wenn man die Bilder aus Syrien kennt, Syrien so einzustufen, dass hier ein Familiennachzug nicht erfolgt. Insofern kann ich mir das im Moment schwer vorstellen. Nur, das Grundproblem, den Familiennachzug zu verlangsamen und nach Möglichkeit auch zu reduzieren, dieses Grundproblem müssen wir angehen.
    Heuer: Die Registrierzentren, das haben wir vorhin besprochen, werden eingerichtet eigentlich im Moment für zwei Prozent der Flüchtlinge. Sie haben gesagt, das ist trotzdem ein wichtiges Signal. Aber vor welche Probleme stellen denn die Landkreise jetzt ganz akut die restlichen 98 Prozent der Flüchtlinge?
    "Auf Dauer wird uns die Arbeitsplatzproblematik sicherlich am längsten beschäftigen"
    Henneke: Wir haben ja zunächst Erstaufnahmeeinrichtungen. Nur, wir müssen deutlich erkennen, wenn das Verfahren beschleunigt wird für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dann werden Bescheide ergehen. Und wenn Bescheide ergehen, die zur Anerkennung führen, dann werden die dann Asylberechtigten in das System des SGB zwei überführt, und das bedeutet, wir sind sowohl zuständig für die Betreuung der Menschen als auch für die Unterbringung, und das nicht nur in winterfesten Quartieren, sondern das möglichst dezentral, so, dass auch Integration auf mittlere Sicht gelingen kann. Und insofern kommt eben auf den kommunalen Bereich in der Unterbringungs-, Integrations- und Arbeitsmöglichkeitsverschaffungsfrage noch viel zu.
    Heuer: Mehr als das, was wir bisher erleben. Also, der eigentliche Brocken, der liegt da noch?
    Henneke: Ja. Wir gehen davon aus, Herr Reiser hat uns in dem Gespräch angedeutet, dass 170.000 Bescheide in Kürze ergehen können. Wir gehen davon aus, dass insofern Unterbringungskapazitäten dezentraler Art in den Kreisen und kreisfreien Städten in Kürze noch in erheblichem Maße gebraucht werden, in größerem Maße noch in absoluten Zahlen, als es bisher schon der Fall ist.
    Heuer: Unterkünfte, Deutschkurse, Schulen, Arbeitsplätze – was bereitet den Landkreisen aus dieser Auswahl von Integrationsaufgaben die größte Sorge. Was ist das Schwierigste? Sind das die Unterkünfte, oder ist das ein anderes Thema?
    Henneke: Im Moment ist es das Unterkunftsthema. Und die Unterkunftsfrage kann ja nur betrachtet werden unter dem Gesichtspunkt, wie entwickelt sich der Zuzug weiter. Auf Dauer wird uns die Arbeitsplatzproblematik sicherlich am längsten beschäftigen. Wir gehen ja im Grunde davon aus, dass im Moment nur von denen, die Asylrecht oder Bleiberecht bekommen, etwa in der ersten Zeit zehn Prozent in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Und insofern werden wir im Bereich des SGB zwei sicherlich eine Kostenexplosion erleben. Wir werden aber eben natürlich auch vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt, wie können wir Qualifizierungsmaßnahmen ergreifen und so weiter, die dann auf mittlere Sicht in Arbeitsmarktintegration führen. Das ist eine Fragestellung, die uns sehr intensiv beschäftigt, für die wir aber natürlich keine Patentrezepte parat haben.
    Heuer: Die muss die Politik finden im Lauf der Zeit. Hans-Günter Henneke, Geschäftsführer beim Deutschen Landkreistag. Ich danke Ihnen für das Interview und dass Sie sich die Zeit genommen haben.
    Henneke: Vielen Dank, Frau Heuer!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.