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Frühe Einschulung = schlechte Leistung

Normalerweise werden Kinder mit sechs Jahren eingeschult. In Berlin wurde das Alter abgesenkt. Eine Studie der FU Berlin hat jetzt die Leistungen vorher und nachher verglichen. Das Ergebnis: in Mathe und Deutsch schneiden die früher Eingeschulten schlechter ab.

Von Claudia van Laak | 18.09.2012
    "Elf minus eins ist zehn, hast du richtig gemacht."

    Said rechnet Plus- und Minus-Aufgaben, Lehrerin Andrea-Maria Wolf hilft.

    In der Heinrich-Zille-Grundschule in Berlin-Kreuzberg werden die Kinder der Klassen eins bis drei gemeinsam unterrichtet. In Wirklichkeit ist das hier Klasse 0 bis 3, sagt Lehrerin Andrea-Maria Wolf. Wir haben Kinder, die noch in die Hose machen.

    "Also da müssen wir schon immer gucken, und da ist es gut, wenn wir eine Erzieherin dabeihaben, die mit raus geht, die die Hose wechselt oder den Po sauber macht, das gehört mittlerweile zu unserem Alltag, vor 30 Jahren hätte ich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, und gesagt, das Kind muss sofort wieder raus aus der Schule, aber heute leben wir mit dem Phänomen, wo ich aber denke, das das die Kinder sehr belastet."

    Vor einigen Jahren hat das Land Berlin die verbindliche Vorschule abgeschafft, gleichzeitig das Einschulungsalter um ein halbes Jahr gesenkt. Außerdem wurde der jahrgangsübergreifende Unterricht für die Klassen 1 bis 3 bzw. 1 bis 2 eingeführt. Bildungsstaatssekretär Mark Rackless erklärt warum:

    "Der Grundgedanke ist der, dass man möglichst früh ins Bildungssystem reinwill und dann auch die sogenannte Schulanfangsphase drauf setzt um zu sagen, die ersten zwei Jahre sind altersgemischt, da geht es mit unterschiedlichen Tempi ans Lernen, sodass man sich durchaus drauf einstellen kann, dass Kinder, die vielleicht nicht ganz so weit sind, mitgenommen werden von den älteren, also das gehört zusammen."

    Kinder, die zuhause nicht deutsch sprechen und die außerdem nicht in die Kita gehen, sollen so frühzeitig an das deutsche Bildungssystem herangeführt werden. Die Idee ist gut, aber sie funktioniert nicht, sagt Andrea-Maria Wolf, seit 35 Jahren Grundschullehrerin in Kreuzberg. Die Entscheidung, die Vorschule abzuschaffen und das Einschulungsalter abzusenken, war falsch und sollte zurückgenommen werden, sagt sie.

    "Meine Erfahrung ist, und das ist jetzt schon über mehrere Jahre, dass die Kinder, die zu früh kommen und wir in der ersten Woche schon sagen können, die sind nicht schulreif, dass die das nicht aufholen können."

    Wissenschaftliche Unterstützung bekommt Lehrerin Wolf von der Freien Universität Berlin. Der Erziehungswissenschaftler Hans Merkens hat die Leistungen der Berliner Grundschüler verglichen – vor der Absenkung des Einschulungsalters und danach. Das Ergebnis – in Mathe und Deutsch schneiden die früher Eingeschulten schlechter ab. Hans Merkens ist der Ansicht, dass die Lehrer zu wenig vorbereitet wurden auf die frühe Einschulung und den jahrgangsübergreifenden Unterricht.

    "Ich denke, es ist eines der Kernprobleme, das man bei allen Veränderungen im Schulsystem sehen kann. Erst wird die Organisation verändert und dann wird erwartet, dass sich das Personal schon anpassen wird."

    Die Senatsbildungsverwaltung zweifelt die Studie der Freien Universität an – die Wissenschaftler seien methodisch unsauber vorgegangen. Trotzdem hat man auf die Kritik an der zu frühen Einschulung reagiert – Eltern können ihre Kinder zurücksetzen lassen, wenn sie diesen Wunsch plausibel begründen. Bildungsstaatssekretär Rackless:

    "Die frühe Einschulung an sich ist dann, wenn sie ein Problem sein sollte, jederzeit korrigierbar von den Eltern und der Schulverwaltung, das ist kein Zwang, das haben wir geändert, aber auf dieser freiwilligen Basis halte ich das für sehr vertretbar."

    Erstklässler, die es nicht rechtzeitig auf die Toilette schaffen – sie werden also weiterhin zum Alltag der Grundschullehrer in Berlin gehören.