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Genetik
Blind wie ein Gürteltier

Menschen, die an Achromatopsie leiden, sind farbenblind, extrem lichtempfindlich und sehen meist nur schemenhaft. Forscher aus den USA haben herausgefunden, dass das Neunbinden-Gürteltier von Natur aus offenbar genauso eingeschränkt ist. Das Tier könnte als Modell für menschliche Sehstörungen dienen.

Von Katrin Zöfel | 04.12.2013
    Seitenansicht eines Gürteltiers in Kalifornien. Das Dasypus novemcinctus (Neunbindengürteltier) ist ein Weichgürteltier. Im Gegensatz zu den Hartgürteltieren hat es einen lederartig biegsamen Hautknochenpanzer, Brust- und Beckenschild sind hochgewölbt und der fast körperlange Schwanz ist mit Knochenringen bedeckt. Dieser flexible Panzer erlaubt es dem Gürteltier, sich zusammenzurollen, um Gesicht und Bauch vor Angreifern zu schützen.
    Das Neunbindengürteltier sieht sehr schlecht: ein Gendefekt ist schuld. (picture alliance / dpa / Henk Wijnja)
    Wer noch nie ein Neunbinden-Gürteltier gesehen hat, der soll sich Folgendes vorstellen, sagt der Biologe Christopher Emerling:
    "Es sieht aus wie eine Mischung aus Schildkröte und Kaninchen. Auf dem Rücken hat es einen Panzer aus kleinen verknöcherten Platten, das gibt ihm Schutz, und dazu hat es sehr lange Ohren und eine lange Schnauze. Wirklich sehr nette Tiere und gleichzeitig sehr, sehr seltsam."
    Christopher Emerling von der Universität von Kalifornien Riverside interessiert sich allerdings weniger für das Aussehen der Tiere, sondern mehr für ihren Sehsinn.
    "Wir glauben, dass sie nicht viel sehen können. Alles ist sehr verschwommen für sie, und sie sehen keine Farben. Und tagsüber, also bei hellem Licht, sind sie so gut wie blind."
    Kein Forscher kann ein Tier fragen, was es sieht. Doch ein Blick ins Erbgut der Tiere ergibt ein eindeutiges Bild. Wie der Mensch auch haben Gürteltiere zwei Arten von Lichtsinneszellen in ihren Netzhaut: Stäbchen und Zäpfchen. Erstere sind für das Sehen bei schwachem Licht zuständig und können keine Farben wahrnehmen, Letztere ermöglichen farbiges, scharfes Sehen bei Tageslicht. Emerling und seine Kollegen kämmten nun das Gürteltiergenom auf Fehler hin durch und fanden: Insgesamt neun Gene, die für das Sehen wichtig sind, sind bei den Gürteltieren defekt, sieben davon betreffen ausschließlich die Funktion der Zäpfchen:
    "Wir glauben, dass die erste Genmutation sehr alt ist: Ungefähr 66 Millionen Jahre. Nachdem die erste Mutation die Funktion der Zäpfchen komplett zerstört hatte, haben sich vermutlich nach und nach weitere Mutationen angesammelt. Den Tieren blieb nur das schwarz-weiße Sehen im Dämmerlicht."
    Damit ähnelt ihre visuelle Wahrnehmung jener von Menschen, die an Achromatopsie oder anderen Störungen des Zäpfchensehens leiden. Und deshalb, so Emerling, könnten diese Tiere helfen, den Defekt erstens besser zu verstehen, und zweitens womöglich Heilmethoden zu finden:
    "Bisher hat man das an Mäusen gemacht, bei denen der Gendefekt künstlich hergestellt wurde. Dann versucht man per Gentherapie, die Funktion der defekten Gene wieder herzustellen. Aber das wird immer nur für ein Gen auf einmal gemacht. Also: künstlicher Defekt in einem Gen und dann der Reparaturversuch in genau diesem Gen. Mit dem Gürteltier haben wir ein viel komplexeres System, dass der Situation in Menschen mit Sehdefekten vielleicht viel besser entspricht. Man könnte im Gürteltier untersuchen, was genau passiert, wenn man die Genfunktion von einem Gen nach dem anderen wieder herstellt."
    Klappt der Wiederherstellungsversuch, ließe sich das an elektrischen Signalen am Auge messen, ohne dass die Tiere Auskunft geben müssten, was sie wahrnehmen können. Gürteltiere, die auf ihren Sehsinn offenbar nicht sonderlich angewiesen sind - sie haben einen ausgezeichneten Geruchssinn - liefern der Medizinforschung also vielleicht genau das Testfeld, das sie braucht, um für eine bisher unheilbare Krankheit tatsächlich Medikamente zu entwickeln.