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Gibt es einen Plan?

Gottesbeweise, Paralleluniversen und kleine Welten-Theorien, Schrödingers Katze und die Frage, ob der Gang der kleinen Dinge von einem großen Plan bestimmt sind: Das ist das theoretische Unterfutter, aus dem der 1976 in Stuttgart geborene Autor Norbert Zähringer seine so wundersamen wie unterhaltsamen Romane erschafft. Nun liegt "Bis zum Ende der Welt" vor – Claudia Kramatschek hat den Roman gelesen und sich mit Norbert Zähringer unterhalten.

Ein Beitrag von Claudia Kramatschek | 03.09.2012
    Der Schriftsteller Norbert Zähringer
    Der Schriftsteller Norbert Zähringer (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    "Nach dem Ende ihrer Großmutter hatte Anna Tschertschenko keinen Menschen mehr auf der Welt, sah man einmal von ihrem Vater ab, einem einbeinigen Säufer, den sie das letzte Mal bei ihrer Abiturfeier einige Jahre zuvor gesehen hatte, zu welcher er nur erschienen beziehungsweise herangehumpelt war, um sich kostenlos vollaufen zu lassen. Sie beerdigte die Großmutter zwischen ihrer Mutter und dem Großvater, einem Oberst der glorreichen Sowjetarmee, der als junger Mann an der Eroberung Berlins teilgenommen hatte und dann – bevor man ihn nach Kasachstan versetzte – eine Weile lang Aufseher im Kriegsverbrechergefängnis Spandau gewesen war."

    Treue Fans und begeisterte Leser von Norbert Zähringers Romanen wissen bereits, dass man sich bei diesem Autor auf Schallgeschwindigkeit einstellen muss. Auch der neue Roman bildet da keine Ausnahme: Wieder verlötet Zähringer seine Figuren und deren Geschichten, Vergangenheit und Gegenwart, abgelegene Orte und unerwartete Settings in der Flugbahn weniger Sätze. War jedoch sein letzter Roman ein fast filmisches Panorama amerikanischer Geschichte und stärker in der Vergangenheit verankert, befinden wir uns nun maßgeblich auf europäischem Boden und in der jüngsten Gegenwart. Anna Tschertschenko – eine der drei Hauptfiguren – ist gebürtige Ukrainerin und soeben auf der Flucht vor ihrem Vater. Um ihm und den schmierigen Händen seiner dubiosen Freunde zu entkommen, ist sie sogar bereit, die Frau eines Unbekannten zu werden, den sie mit Hilfe einer der unzähligen Partneragenturen kennenlernt, die auch in der Ukraine wie Pilze aus dem Boden schießen. So kommt Anna nach Berlin in das Haus von Laska, einem Deutschen mit Vorfahren in Kaliningrad, der selbst ein dunkles Geheimnis hütet: Er ist krank, sterbenskrank – was er Anna erst in dem Moment offenbart, als er sie bittet, sie nach Portugal zu begleiten, wo er die letzten Monate seines Lebens verbringen will. Dort wiederum, am westlichsten Zipfels Europas, nimmt das, was wie eine zu Herzen gehende Achterbahnfahrt über die Sehnsucht nach Nähe und Liebe beginnt, eine unerwartete und auch romantechnisch verblüffende Wende – nicht zuletzt in Person eines portugiesischen Polizisten, dessen Vater 1964 als Arbeitsimmigrant nach Deutschland kam.

    "Die große Gemeinsamkeit ist, dass tatsächlich die Hauptfiguren auf einer gewissen Ebene heimatlos sind. Auch dieser Laska, der im Nachkriegsberlin, also kurz nach dem Ende des Krieges, geboren ist, kommt ja aus einer Flüchtlingsfamilie. Auch er hat – man würde heute sagen - einen Immigrationshintergrund. Und ich finde, das ist auch so eine große Verbindung zwischen vielen Menschen heute. Wer kann schon sagen, dass er in dem einen Dorf geboren wurde und am Ende seines Lebens dann auch dort stirbt. Und das war auch so ein bisschen meine Idee von so einer Art – ja ... ich möchte es jetzt nicht zu pathetisch 'europäischen Roman' nennen: dass ich im weitesten Zipfel im Osten jemanden gefunden habe und dann im weitesten Zipfel des Westen Europas jemand gefunden habe, deren Geschichte ich dann sozusagen freigelegt habe."

    Anna etwa wird eines Tages im Auftrag ihres Vaters von einem ukrainischen Menschenhändler entführt. Dieser Mann war einst Liquidator im Atomreaktor von Tschernobyl, nun verdient er sein Geld mit jungen Frauen aus Osteuropa. Laska, der seine Frau verloren und seinen Sohn schon lange nicht mehr gesehen hat, hegt noch einen letzten Traum: einmal noch einen Kometen zu entdecken. Yuri wiederum, der portugiesische Polizist, muss nicht nur das Rätsel um einen einzelnen Finger lösen, der eines Tages an den Strand in Sagres gespült wird. Er muss auch einen afrikanischen illegalen Immigranten dingfest machen, der sich im Hotelzimmer einer auffallenden Blondine versteckt, die aus jenem berühmt-berüchtigten Freierparadies namens Castrop-Rauxel stammt, vor dem Anna nicht allein von ihren ukrainischen Freundinnen, sondern auch von der Partnervermittlerin eindringlich gewarnt worden war ...

    "Bist du verblüht, mein Aschenbrödel, musst du die gläsernen Schuhe zum Pfandleiher bringen und einen Job als Bardame in einem billigen Puff in Castrop-Rauxel annehmen. Außer natürlich – hier machte die Vermittlerin eine vieldeutige, auch irgendwie gezierte Bewegung mit ihrer goldberingten rechten Hand – du gehörst zu dieser besonders ausgebufften Sorte Mädchen, die, wie man so sagt, über Leichen geht."

    Unterhalb der oft grotesken Situationskomik greift Zähringer somit schwergewichtige Themen auf, von denen jedes einzelne Stoff für einen ganzen Roman bieten würde: der Frauenhandel mit Osteuropäerinnen; die Flüchtlingsdramen an den südlichen Rändern unseres Kontinents; der Zweite Weltkrieg samt seiner Vertreibungen; die Atomkatastrophe von Tschernobyl – selbst der Tag der Nuklearkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011 spielt am Ende des Romans eine entscheidende Rolle.

    Doch Zähringer verwebt all diese so unterschiedlichen Sedimente dessen, was eine kollektive europäische Erinnerung sein könnte, mit leichter Hand in einen einzigen Erzählfluss, und das gleichermaßen mit einem spielerischen Drift in den kriminalistischen "Suspense" wie ins surreal Märchenhafte hinein. Was sich dem Leser dabei eröffnet, ist ein Schatz an so entlegenen wie subkutanen Verbindungslinien und Geschichten, die Zähringer teils in nur wenigen, aber plastischen Strichen anreißt: Erinnert sich noch wer, dass jenes Lied, mit dem Portugal 1974 schmachvoll beim Eurovision de la Chanson den letzten Platz belegte, in der Nelkenrevolution zu Ehren gelang? Dass dieses Land, im 15. Jahrhundert eine der reichsten Nationen Europas, vor nicht einmal 60 Jahren noch einen Kolonialkrieg führte?

    "Ich glaube, das Problem, was wir heute haben ist, dass dieses Europa sich nur langsam mit Geschichten flutet. Damit meine ich nicht, dass es keine europäischen Geschichten gibt. Aber das reflektiert sich meiner Meinung nach nicht so oft in unserem eigenen Schreiben. Für mich war das so eine Entdeckungsreise. Als ich nämlich die Bilder dieser portugiesischen Soldaten gesehen habe, wie die da durch diese Savannenlandschaft stapften, da sahen die doch unseren deutschen Soldaten, die da durch die afghanische Steppe stapfen, gar nicht so unähnlich. Das heißt, es gibt unheimlich viele Gemeinsamkeiten. Und wir sollten uns jetzt gerade, wo jeder Tag bedeutet, morgens das Radio anzuschalten und wieder die gleichen Neuigkeiten über die Eurokrise zu hören – wir sollten darauf achten, dass nicht Moody's oder die Europäische Kommission unsere Geschichten schreibt."

    Doch Zähringer wäre nicht Zähringer, hätte er seinem Roman, der diesmal auffallend geerdet ist, nicht zugleich auch eine wortwörtlich überirdische Perspektive eingeschrieben: den Blick ins All, hinauf zu den Sternen. Nicht umsonst ist Yuri nach dem berühmten Astronauten Gagarin benannt; nicht umsonst teilen Anna und Laska die Liebe zur Astronomie.

    "Wenn die Welt ein endliches Alter hat und das Licht eine endliche Geschwindigkeit, so kann es Teile der Welt geben, deren Licht uns während des bisherigen Weltalters noch nicht erreicht hat. Diese Teile der Welt sind also für uns prinzipiell nicht beobachtbar, sie liegen außerhalb unseres Horizonts."

    Diese Aussage liest Anna eines Tages in einem dicken Buch, das sie in Laskas Bibliothek findet. Zähringer umkreist damit nicht nur die Frage: Was können wir wissen? Er spinnt diese Frage – letztlich die Frage nach der Unendlichkeit – weiter aus, hin zu der teleologischen Überlegung: Was verbirgt sich hinter dem Horizont, hinter dem, was wir wissen können? Sind wir nicht vielleicht immer schon Teil einer viel größeren Geschichte, die wir nicht überblicken – und in der wir nicht das Subjekt, sondern gar das Objekt des Erzählens sind? Das klingt zugegebenermaßen erst einmal banal. Doch Zähringer übersetzt dieses Theorem mit genialer Leichtigkeit in die formelle Struktur seines Romans. Denn etwa in der Mitte des Romans katapultiert er uns mit Jury in eine zweite, ganz eigene Geschichtes. Der Roman wechselt plötzlich Ort und Zeit, ja gar die Erzählinstanz. Lange weiß man nicht, wer spricht – und wie beide Teile der Geschichte zusammengehören. Am Ende des Romans ist offen: Wessen Geschichte hat man eigentlich gelesen? Und könnte das Ende nicht auch der Anfang einer ganz anderen, der eigentlichen Geschichte sein?

    "Anna hörte das leise Surren eines Motors. Auf Laskas Winken hin trat sie ans Okular. Sie sah einen kleinen, schwach leuchtenden Stern.
    '3C 273', sagte er. 'Kein Stern. Sondern ein Quasar. Ein Quasar ist...'
    'Ich weiß, was ein Quasar ist, entgegnete sie, aktive Galaxie, mit Schwarzem Loch in der Mitte.
    ... 'So ein Quasar habe eine Lebensdauer von einigen hundert Millionen Jahren, dann sei das Futter für das Schwarze Loch verbraucht, also gebe es 3C 273 gar nicht mehr.'
    'Wir schauen zurück, sagte sie, wir schauen immer zurück.'"


    "Sie wissen vielleicht, alle paar Jahre gibt es irgendeine neue Theorie, wie alles beschaffen ist. Mal ist es die Chaos-Theorie, dann ist es die String-Theorie, und das Neueste war jetzt, glaube ich, die Hologramm-Theorie. Die Idee ist, das wir quasi nur Hologramme, also dreidimensionale Abbilder sind eines Textes, einer Information im weitesten Sinne. Und da habe ich mir überlegt, wer wäre der Autor des Textes. Und die naheliegende Idee wäre natürlich für einen Gläubigen: Gott ist der Autor des Textes. Aber ... vielleicht ist das ja gar nicht so. Denn die eigentlich wichtige Frage ist ja gar nicht, wer hat ihn geschrieben. Sondern die Frage: Wer liest ihn dann? Und vielleicht ist es ja so, dass Gott unser einziger Leser ist und nur eine gute Geschichte hören will."

    Letztlich also dreht sich, wie schon in seinen vorherigen Romanen, auch in "Bis zum Ende der Welt" alles wieder um die große Frage: Gibt es einen Plan? Antworten liefert Norbert Zähringer auch diesmal nicht. Aber einen teuflisch guten Roman: Raffiniert konstruiert, motivisch fein verwoben, auf das Wesentliche konzentriert – und mit einem bittersüßen Showdown, der dem Leser ohne viel Worte Heilung und Katastrophe als janusköpfiges Doppelgestirn unserer Existenz ins Erinnerungsalbum schreibt.

    Norbert Zähringer: "Bis zum Ende der Welt". Roman.
    Rowohlt Verlag 2012. 272 Seiten, Euro19,95