Sonntag, 05. Mai 2024

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Glauben auf der Bühne
"Das Publikum kann die Zeichen nicht mehr lesen"

Religion ist Teufelszeug. Das zeigt zumindest die aktuelle Bayreuther Parsifal-Inszenierung, und das liegt angesichts der Weltlage im Deutungstrend. Wie passt dazu, dass die Kultursinnigen zu Festspieltempeln pilgern? Ist das nicht ein religiöses Ritual? Der Musikexperte Holger Noltze warnt: Wer in der Kunst Erlösung sucht, hat etwas falsch verstanden, wenn er überhaupt etwas versteht.

Holger Noltze im Gespräch mit Susanne Fritz | 11.08.2016
    Eine Gruppe von Männern auf einer Theaterbühne stehen um einen aus einzelnen Wunden blutenden Mann herum. Die Operlamm-Szene.
    Probenfoto der Parsifal-Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg (Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath)
    Susanne Fritz: Herr Noltze, unser Rezensent Christoph Schmitz zieht als Fazit aus der Parsifal-Inszenierung von Laufenberg: "Religion ist Teufelszeug und gehört in die Tonne." Richard Wagner hat sich mit dem Christentum und mit dem Buddhismus beschäftigt. War Religion für ihn Teufelswerk?
    Holger Noltze: Es war für ihn das alte Denken. Es gibt eine interessante Schrift von Richard Wagner "Kunst und Religion" und die beginnt mit dem sehr zugespitzten Satz: "Wo die Religion künstlich geworden ist, ist es eine Sache der Kunst sozusagen in die Funktion der Religion einzutreten." Das war Wagners Idee, das ist die Geburtsstunde oder eine der Geburtsstunden dessen, was man Kunstreligion nennt. Im 19. Jahrhundert übernimmt die Kunst Funktionen, die vorher die Religion erfüllt hat: Sie ist Sinnlieferant, etwas, das man anbeten kann, etwas, wohin man pilgert. Nach Bayreuth pilgert man. Das ist eine von heute aus gesehen doch problematische Idee und die ist aber sehr eng verknüpft mit dem Parsifal und eben mit den späten Schriften zur Religionsphilosophie von Richard Wagner. Er wollte das eine an die Stelle des anderen setzen. Das eine vom anderen ablösen lassen.
    Fritz: Wagner selber bezeichnete den Parsifal als "Bühnenweihfestspiel" und verfügte, dass es ausschließlich im Bayreuther Festspielhaus aufgeführt werden sollte. Eine Weihe erhebt den Menschen. Wie gehen die Besucher in den Parsifal hinein und wie kommen sie hinaus?
    Noltze: Ganz unterschiedlich. Es gibt natürlich das intellektuelle Wagner-Publikum, es gibt das touristische Wagner-Publikum. Die einen sind durchdrungen vom Gedanken der Aufklärung und lassen das nicht so nah an sich rankommen, die anderen wollen einfach so eine Art von Wagner-Folklore mit Original Fränkischer Wurst in der Pause erleben und dann gibt es aber auch wirklich die, die zum größten Teil von sich sagen, sie sind Wagnerianer, die das glauben. Und es gibt einen Lackmustest: Das können Sie nach dem ersten Akt sehen. Der endet ja mit einer liturgischen Handlung. Da wird der Gral enthüllt. Alle Zutaten einer Eucharistie-Feier werden auf die Bühne gebracht und das führt dann dazu, es gibt dann so ein Zögern, heißt es dann, man darf danach nicht klatschen, was ich für ein komplettes Missverständnis halte, denn es ist keine Eucharistie-Feier, sondern es ist eine Oper, auch wenn sie sich "Bühnenweihfestspiel" nennt. Aber genau an diesem Punkt ist natürlich ein Reiz für viele, die sozusagen den Glauben an eine institutionalisierte Kirche verloren haben, dann zu Wagner zu pilgern und zu sagen, hier bekomme ich ja die Essenz. Die Essenz wäre dann eine Priorisierung des Gedankens des Mitleidens. Der war für Wagner sehr wichtig, das war sein Zugang auch zum Religiösen. Aber es war eben nicht Religion, sondern wenn, dann war es eine neue und die war er selber.
    Fritz: Sie haben ihn selber jetzt schon angesprochen: In welcher Rolle hat sich Wagner als Komponist eines Bühnenweihfestspiels Parsifal denn gesehen, in welcher Beziehung sieht er sich selbst zu Gott?
    Noltze: Es steht mir nicht zu, zu sagen: "Das bisschen Gott, was er brauchte hat er sich selbst beschafft." Viele haben ihn vergöttert, er wurde Meister genannt, er war sicher eine herausgehobene Figur seiner Zeit. Es wurde ihm gespiegelt eine Art von Übergenie zu sein. Ja, im 19. Jahrhundert hat es wahrscheinlich keine Künstlerfigur gegeben, die eine solche Wirksamkeit entfaltet hat und ja sicher er war auch ein Genie. Aber ich glaube in dem Gedanken, wir machen jetzt Bayreuth zum Zentrum eines neuen Glaubens, wenn man‘s ein bisschen zuspitzt und übertreibt, da hat er sich dann doch überhoben. Übrigens gibt es gibt es eine für Wagner sehr einnehmende Anekdote. Als er Nietzsche das Textbuch zu Parsifal geschickt hat, tat er das mit dem Hinweis: "Ihr sehr verehrter Oberkirchenrat Richard Wagner." Dass er da auch noch in der Lage war, ironisch umzugehen, das finde ich spricht für ihn.
    Fritz: Um auf die Laufenberg-Inszenierung zurückzukommen: Die negative Figur des Klingsor in dieser Inszenierung wird ja zunächst als Muslim eingeführt und ist von einem Harem aus Burka-Trägerinnen umgeben. Kommt der Islam eigentlich schlechter weg als das Christentum?
    Noltze: Nein, am Ende kommt alles in die Tonne, Sie haben’s ja schon gesagt. Klingsor wird so ein bisschen psychologisch gedeutet. Er ist ja derjenige, der in der Grals-Gesellschaft nicht mitspielen darf und Laufenberg macht das deutlich, indem er als Überläufer gezeigt wird zum Islam. Aber im Hinterzimmer hat er dann eine Sammlung von Kruzifixen, also heimlich übt er doch den christlichen Glauben weiter aus. Die Kruzifixe fallen dann aber, als das Klingsor-Schloss in Schutt und Asche gelegt wird von Parsifal, von der Wand und sind dann nicht mehr da. Das ist keine Islam-Kritik, und wir sind mittlerweile alle so übersensibilisiert, dass wenn wir Burka, Tschador oder eine Art von Verhüllung sehen, sofort rufen: "Oje das ist jetzt wahrscheinlich Islam-Kritik und sind wir eigentlich alle noch sicher?" Da gibt es eine gewisse Hysterie, aber ich glaube eigentlich nicht, dass damit spekuliert wurde, das wird auch sehr zurückgenommen und die Schleier werden auch runtergenommen. Hinter dem Schleier kann man auch nicht gut singen. Und dann gibt es auch noch ganz andere Blumenmädchen, die Bikinis tragen. Nein, ich würde das nicht als Islamkritik sehen, es ist ein wie gesagt etwas banaler, banalisierender, allgemein religionskritischer Ansatz.
    Fritz: Trotzdem wurde vorher ja geraunt, es handle sich um ein islamkritisches Stück. War das nur eine medienwirksame Strategie?
    Noltze: Das würde ich nicht unterstellen. Man kann viel gegen diese Inszenierung sagen, übrigens auch, dass sie total langweilig ist, wenn die Neuigkeit ist, dass da mal wieder ein Grals-Kelch gezeigt wird und dass in der Wunde von Amfortas, der als Christus gezeigt wird mit Dornenkrone, herumgewühlt wird. Und dann wird da Blut abgenommen, alles in dieser etwas obszönen Deutlichkeit, aber am Ende ist sie sehr langweilig. Sie möchte vielleicht gerne kontrovers werden, und es gibt andere Inszenierungen von Laufenberg, wo er das auch mal versucht hat, aber ich finde, so hoch darf man’s gar nicht hängen. "Nicht mal provozieren lassen" wäre meine Devise.
    Fritz: Trotzdem kommen sehr viele religiöse Motive in dem Stück vor, es gibt christliche, buddhistische Motive, die Wiedergeburt. Ist das ein Kunstwerk auch über eine religiöse Sinnsuche, die sich nicht mehr einer bestimmten Religion verpflichtet fühlt?
    Noltze: Ja, ich glaube, dass das so ist. Es ist ein Dokument einer Suche, wo können wir Halt finden, wer gibt uns Antwort auf die ganz großen Fragen, wenn wir mit dem institutionalisierten Christentum nicht mehr weiter kommen können. Ich glaube, darin liegt auch ein großes Angebot für viele Leute, die da hingehen und ich will das gar nicht in Abrede stellen, dass man da auch was finden kann, dass man sich auch an dem Gedanken, wenn wir doch zu einer Humanität des Mitleidens kämen, wie anders wäre die Welt. Das ist nicht per se ein schlechter Gedanke. Aber man muss immer sehen: Es handelt sich um ein Kunstwerk, und ein Kunstwerk ist Kunst und man darf es nicht mit einer Religion verwechseln. Das ist eine große Erfahrung des 20. Jahrhunderts und hinter die dürfen wir nicht zurückfallen. Das ist auch ein Wissen der Aufklärung. Aber dass viele Aufklärungsköpfe müde geworden sind und sich gerne in den Harmoniestrom von Parsifal hineinbetten und dann auf einmal sich in so einer Liturgie wiederfinden, das ist ja auch höchst suggestiv komponiert, das kann ich schon verstehen. Aber bitte am Ende immer wieder Hirn einschalten und sagen: "Nicht nachmachen."
    Fritz: Viele Theater haben in der vergangenen Saison Religion zum Thema gemacht. Es gab Stücke über Konvertiten und Salafisten. Wir haben hier in Tag für Tag über "Nathan der Weise" mit einem Chor muslimischer Schüler berichtet. Warum ist Religion so angesagt, obwohl ein Drittel der Deutschen gar keiner Religion mehr angehört?
    Noltze: Naja, weil wir sehen, dass große Konflikte in der Welt zumindest im Namen der Religion geführt werden. Ich halte das zwar immer noch für einen Missbrauch des Religiösen, aber es beunruhigt uns. Das ist eine wichtige Frage, die dahinter steht und deshalb finde ich es sinnvoll, dass sich das Theater, dass sich die Kunst, damit beschäftigt. Aber doch immer im Sinne von: Wir beugen uns über etwas. Und nicht: Wir sind es. Das ist der Unterschied.
    Fritz: Eines Ihrer Bücher heißt "die Leichtigkeitslüge". Was kann man eigentlich beim Publikum an religiösen Wissen voraussetzen? Was weiß der bildungsbürgerliche Operngänger über eine heilige Messe? Weiß er, wie die abläuft?
    Noltze: Ich glaube, das ist sehr unterschiedlich. Ich glaube, dass die Älteren mit diesem Anspielungsapparat zurechtkommen, dass die das dechiffrieren können und dass ein jüngeres Publikum das zum größeren Teil nicht mehr kann. Die Bildungsfundamente, die dazu führen, dass wir Zeichen deuten können, sind sehr porös geworden. Das ist ein Erfahrungswert, traurigerweise. Die absurde Situation ist ja, dass uns viele Regisseure sozusagen ein Allusionstheater vorführen, wo wir dann Zeichen dechiffrieren sollen. Aber das Publikum kann die Zeichen nicht mehr lesen. Und am Ende kommt dann so was raus, wie der Parsifal, über den wir da gerade geredet haben. Der dann einfach mit einer platten Botschaft endet und dann können alle sagen: "Ja das hab ich jetzt mal wirklich verstanden. Aber was der Schlingensief gemacht hat damals das hab ich nicht verstanden." Dass das eine Kunst war und das andere bestenfalls Kunstgewerbe, ist dann die andere Geschichte.
    Fritz: Derzeit ist ja Saison der Festspiele, Bayreuth und Salzburg sind die berühmtesten. Die Menschen pilgern dorthin. Ist das ein religiöses Ritual, eine Ersatzreligion?
    Noltze: Ja, für manche ist es wirklich ein Gang, der einer Pilgerreise sehr ähnlich ist, Man muss den grünen Hügel hochgehen, das geht schon ein bisschen bergauf und das sind auch andere Rituale, die da eine Rolle spielen. Salzburg und Bayreuth ist, glaube ich, ja auch immer noch ein bisschen anders. Also in Salzburg ist dann doch Gourmet-Programm, und in Bayreuth geht es immer um den Ernst der Sache. Dass sich manche da ganz gut amüsieren, ist dabei nicht ausgeschlossen, aber das war ja auch das Geniale an Wagners Idee: diesen Festspielort zu schaffen, dass er sagte: "Ich errichte ein neues System jenseits des normalen Stadttheater-Systems. Zu mir sollen die Leute kommen mit einer anderen Rezeptionshaltung mit einer anderen Disposition, um dann wirklich entscheidende Botschaften mitzunehmen." Damit gerät er in die Nähe des Religiösen.
    Fritz: Inwiefern soll denn Kunst Erlösung bringen und ist das überhaupt möglich, wenn vorher die Taschen durchsucht werden aus Angst vor Anschlägen?
    Noltze: Ja, man kann auch sagen, das Taschendurchsuchen ist eine Vorbereitungsmaßnahme der Liturgie der Moderne. Also ich bin dreimal durchsucht und durchleuchtet worden und dann gehe ich in den Raum und dann passiert aber das ganz andere. Aber Spaß beiseite: Ich glaube, dass es ein nicht glücklicher Gedanke ist, der Kunst so was wie Erlösungsfunktionen aufzuerlegen. Dass wir alle das mal haben, dass wir das auch bei Wagner immer wieder haben, das Gefühl, dass ich aber nicht als Erlösung bezeichnen würde, sondern als eine Erfahrung der Aufhebung der Schwerkraft, wenn man auf einmal das Gefühl hat, man fliegt und gerade der Parsifal, den er ja für das Festspielhaus für diesen Raum komponiert hat, da kann man das schon erfahren, wie man auf einmal man inmitten eines riesigen Resonanzkörpers ist, es ist ja auch alles aus Holz, man resoniert sozusagen mit. Das sind besondere Erfahrungen und da sind die beiden Hirnhälften, also das kognitive und das emotionale auf eine wunderbare Weise miteinander verbunden, aber zu glauben, das sei jetzt die Erlösung von aller Erdenschwere, das scheint mir doch naiv zu sein, so wie diese Parsifal-Inszenierung eine naive Inszenierung ist.
    Holger Noltze ist Professor für Musik und Medien an der Universität Dortmund.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.