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"Himmelsbürger" und bittere Armut

Indien ist die größte Demokratie der Welt und eine Wirtschaftsmacht mit schwindender Armut. Das ist die Erzählung, die sich seit Langem ganz hartnäckig in den hiesigen Medien findet. Liest man die Bücher von Arundhati Roy, dann könnte man glauben, es müsse zwei Indiens geben.

Von Ulrich Breitbach | 26.07.2010
    Nein, dies ist keine nüchtern abwägende Analyse, dies ist eine Anklageschrift. In zwölf unter dem Titel "Aus der Werkstatt der Demokratie" versammelten Aufsätzen und Vorträgen unterzieht die Globalisierungskritikerin Arundhati Roy die Institutionen des indischen Staates und deren Politik einer vernichtenden Kritik. Seit Mitte der achtziger Jahre treiben die indischen Regierungen, unabhängig von ihrer Zusammensetzung, einen Kurs der Öffnung der ehedem abgeschotteten Wirtschaft zum Weltmarkt voran. In diesem Zusammenhang werden große Gebiete für Industrieansiedlungen und zur Ausbeutung von Bodenschätzen auf Kosten der dort ansässigen Menschen an auch ausländische Investoren übertragen. Arundhati Roy schildert die dramatischen Folgen:

    In Indien gibt es eine neue sezessionistische Bewegung. Bei dieser Art von Sezession wird ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung ungeheuer reich, indem er der Mehrheit der Bevölkerung alles wegnimmt – Land, Flüsse, Wasserressourcen, Freiheit, Sicherheit, Würde, Grundrechte. 70 Prozent der indischen Bevölkerung – 700 Millionen – leben auf dem Land. Ihr Lebensunterhalt hängt ab vom Zugang zu natürlichen Ressourcen. Sie ihnen wegzunehmen und an private Firmen zu verkaufen heißt, in einem barbarischen Maßstab einen Prozess der Enteignung und Verarmung in Gang zu setzen.
    In der Tat, es gibt das boomende Indien, in dem 54 Milliardäre mehr als 20 Prozent des Volkseinkommens unter sich aufteilen und in dem 300 Millionen zu meist bescheidenem Wohlstand gelangt sind. Ihnen gegenüber steht die Mehrheit der 1,1-Milliarden-Bevölkerung, die mit weniger als zwei Dollar am Tag in bitterer Armut lebt. Der Glanz der einen, der "Himmelsbürger", wie sie Roy spöttisch nennt, ist das Elend der anderen, zum Beispiel das der Adivasis, der indischen Ureinwohner.

    Wenn man die Karte von Indiens Wäldern und Bodenschätzen mit der Karte des Landes, das den Adivasis gehört, vergleicht, sieht man, dass sie identisch sind. Tatsächlich sind also die, die wir arm nennen, die wahrhaft Reichen. Doch die Himmelsbürger lassen den Blick über das Land schweifen und sehen überflüssige Menschen auf wertvollen Ressourcen sitzen.
    Systematisch wird den Ureinwohner das Land zugunsten von Industrieprojekten gestohlen, die angestammte Bevölkerung zur Flucht in die städtischen Slums gezwungen, Widerstand blutig niedergeschlagen. Arundhati Roy beschreibt Indien als ein in religiöse Segmente, Kastensegmente, nationale Segmente zerrissenes Land. Die Not der Adivasis, der früher "unberührbar" genannten Dalits und der anderen hunderter Millionen Armen heizt andere Konflikte zusätzlich auf. Religiöse und nationale Antagonismen werden missbraucht, um die Empörung der Elenden von den Nutznießern des marktliberalen Kurses der Regierung abzulenken. Hier spielt der Hindu-Nationalismus der Bharatiya Janata Party - neben der Kongresspartei die zweite große politische Formation Indiens - eine verhängnisvolle Rolle. Er suggeriert den Hindumassen, den religiösen Minderheiten überlegen zu sein, lockt sie mit der Vision eines totalitären Hindustaates und lenkt ihren Hass vor allem gegen die 150 Millionen Muslime.

    Menschen, die die Kontrolle über ihr Leben verloren haben, die entwurzelt sind und Heim und Gemeinschaft, Kultur und Sprache verloren haben, wird etwas gegeben, worauf sie stolz sein können. Nicht etwas, wofür sie erfolgreich gekämpft haben, nicht etwas, was sie als persönliche Errungenschaft betrachten können, sondern etwas, was sie aus purem Zufall sind. Und dieser falsche, dieser leere Stolz heizt eine Gladiatorenwut an, die sich schließlich an einem in die Arena getriebenen angeblichen Gegner entlädt.
    Diese Gladiatorenwut – mit angefacht durch nicht weniger verblendete islamistisch-fundamentalistische Kräfte – macht Roy verantwortlich für die Ermordung von 2000 Muslimen im Jahr 2002 im Bundesstaat Gujarat. Weitere 150.000 wurden damals von den Hindu-Nationalisten vertrieben, und auch heute noch entzünden sich immer wieder pogromartige Exzesse. Die Sicherheitsorgane schauen entweder zu oder sind direkt in zwielichtige Machenschaften verstrickt. Zum Beispiel – so Roy – in den Anschlag auf das indische Parlament vom Dezember 2001, der von der Regierung umgehend genutzt wurde, um im Namen des Antiterror-Kampfes gegen politische Gegner vorzugehen. Arundhati Roy sieht Indien am Scheideweg:

    Wir stehen an einer Weggabelung. Ein Schild deutet in die Richtung "Gerechtigkeit", auf dem anderen steht "Bürgerkrieg". Es gibt kein drittes Schild. Wir müssen uns entscheiden.
    Roys Anklage ist messerscharf, kompromisslos und zornig. Ihre Lösungsansätze bleiben demgegenüber blass. Deutlich wird: Von den staatlichen Institutionen erwartet sie nichts. Kongresspartei und Bharatiya Janata Party sieht sie trotz allen Wahlkampfgetöses in einem parteiübergreifenden wirtschaftsliberalen Konsens. Sie setzt dagegen auf eine Bewegung von unten, auf Graswurzelinitiativen und Massenaktionen der Armen. Die im Titel des Buches angesprochene Werkstatt der Demokratie sieht sie genau hier.

    Armut ist nicht gleichbedeutend mit Schwäche. Die Armen sind nicht im Innern von Bürohäusern oder Gerichtsgebäuden stark, sondern draußen auf den Feldern, in den Flusstälern, den Straßen der Städte und den Universitäten des Landes. Dort muss verhandelt werden. Dort muss der Kampf ausgefochten werden.
    Ein ausgefeiltes Programm zur Behebung der indischen Malaise ist das ganz gewiss nicht. Aber vielleicht ein Vorschlag zum Neubeginn jenseits der ausgetretenen Pfade indischer Parteipolitik. Kein Zweifel: Arundhati Roys Buch rüttelt auf. Aber sie macht es ihren Lesern nicht einfach. Wer nur geringe Vorkenntnisse über Indiens Geschichte und Gegenwart mitbringt, wird Mühe haben, sich bei all den Namen, Begriffen und Ereignissen zurechtzufinden. Eins leistet das Buch aber ganz ohne Zweifel: Es regt zur weiteren Beschäftigung mit dem hierzulande unterbelichteten Thema Indien an. Und das ist ja nicht das Schlechteste, was sich von einem Buch sagen lässt.

    Arundhati Roy: Aus der Werkstatt der Demokratie. 335 Seiten, erschienen bei S. Fischer, gibt´s für 19 Euro 95, ISBN: 978-3-10066-066-4.