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"Ich beneide Frau Merkel als Bundeskanzlerin nicht"

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer hat das Spitzenpersonal der Bundesregierung für die Probleme der Koalition verantwortlich gemacht. Der CDU-Politiker sagte, der Erfolg eines Regierungsbündnisses hänge weniger von den Parteien und Parteiprogrammen ab als von den Personen, die diese umsetzten.

Wolfgang Böhmer im Gespräch mit Stephan Detjen | 27.06.2010
    Stephan Detjen: Herr Ministerpräsident, am kommenden Mittwoch fahren Sie nach Berlin, nehmen an der Bundesversammlung teil. Da steht ein Kandidat zur Wahl, der wie kein anderer Präsidentschaftskandidat in der Geschichte der Bundesrepublik zuvor Menschen politisch begeistert, motiviert, mobilisiert hat. Wenn der Bundespräsident direkt gewählt werden würde, dann wäre das Ergebnis nach allen Umfragen klar. Trotzdem – Sie wollen den anderen wählen. Warum wählen Sie Wulff und nicht Gauck?

    Wolfgang Böhmer: Erstens unterstellen Sie, dass ich mich schon entschieden hätte. Ich hab mich aber schon entschieden und widerspreche Ihnen ausdrücklich nicht. Aber ich weiß, dass es bei dieser Wahl eben nicht nur darum geht, zwischen zwei sehr honorigen Persönlichkeiten zu unterscheiden, sondern auch eine gewisse Stabilität in das politische System mit zu bringen. Dass ein Bundespräsident während der Legislaturperiode aufgibt, das ist ja nun neu in Deutschland und hat zu weit über dieses persönliche Ereignis hinausgehenden Verunsicherungen auch geführt. Und deswegen denke ich, ist es auch wichtig, dass jemand innerhalb dieses Systems sich nicht nur auskennt, sondern für Stabilität sorgen kann. Und das ist ein Randeffekt, den man nicht gering schätzen sollte.

    Detjen: Sie sagen, Sie haben sich entschieden. Das klang jetzt so, als sei Ihnen das gar nicht so leicht gefallen?

    Böhmer: Ich widerspreche der Aussage nicht, dass Herr Gauck eine sehr honorige Persönlichkeit ist, die durchaus auch eines solchen Amtes würdig wäre.

    Detjen: Gab es, als Sie gehört haben, wen SPD und Grüne da nominieren, einen Augenblick, wo Sie sich gefragt haben, warum nicht Angela Merkel diesen Joachim Gauck, den sie auch so sehr schätzt, wie wir wissen, nominiert hat?

    Böhmer: Einen solchen Augenblick gab es, aber ich gehe davon aus, dass sie ihre Gründe gehabt hat. Es muss ja nicht nur ihr persönlicher Vorschlag sein, sondern der Vorschlag der gegenwärtigen Koalition.

    Detjen: Aber vielleicht ist ja gerade das das Problem und auch einer der Gründe, der hinter dieser Begeisterung für Joachim Gauck steckt: Dass die Menschen einfach genau diese parteitaktischen Kalküle satt haben, die hinter der Nominierung für Christian Wulff standen?

    Böhmer: Ja, das wird in den Medien häufig kolportiert, ich kenne auch die Stellungnahme von Herrn Biedenkopf zum Beispiel, der sich in der Öffentlichkeit dazu geäußert hat. Das sind ja alles ...

    Detjen: Der gefordert hat, keine Fraktionierung zu bilden, keinen Fraktionszwang in der Bundesversammlung.

    Böhmer: Den gibt es ja auch nicht direkt, sondern nur indirekt. Das sind ja alles überlegenswerte Argumente, die man durchaus nicht gering schätzen soll, aber am Ende muss dann entscheiden. Und da es nur zwischen diesen beiden Personen eine Entscheidung gibt, muss jeder sich nach den Prämissen orientieren, die für ihn auch wichtig sind. Und es gehört auch zur Demokratie, dass man das mit sich selbst ausmachen kann und sich nicht in der Öffentlichkeit für seine eigene Entscheidung auch noch entschuldigen müsste, auch nicht den Medien gegenüber.

    Detjen: Nicht entschuldigen, aber erklären. Erklären sie doch noch mal, warum.

    Böhmer: Das habe ich doch gerade versucht.

    Detjen: Warum befürchten Sie, dass ein Joachim Gauck nicht die Stabilität gewährleisten könnte und nicht vielleicht gerade eine Chance wäre, Menschen, die ihrem Verdruss auch an der politischen Landschaft, an Politik so, wie sie sie erleben in dieser Zeit Ausdruck geben, also Menschen für Politik zu begeistern?

    Böhmer: Ich will ja Ihnen gerne unterstellen, dass Ihnen Herr Gauck lieber wäre als Herr Wulff.

    Detjen: Das habe ich nicht gesagt.

    Böhmer: Aber die Intention Ihrer Fragen gehen darauf hinaus. Ich betrachte und sehe in Herrn Gauck eine sehr ehrenwerte Persönlichkeit, die ich sehr schätze. Das will ich überhaupt nicht verleugnen. Aber jetzt geht es eben nicht nur darum, sondern auch jemanden in dieses Amt zu bringen, der Erfahrungen mit unserem politischen System mitbringt. Und da habe ich mich eben so festgelegt, wie ich es Ihnen gerade erläutert habe.

    Detjen: Dann lassen Sie mich dennoch einmal fragen, Herr Dr. Böhmer, wie erklären sie sich diese wirklich bemerkenswerte und ungewöhnliche, so noch nie dagewesene Mobilisierung für den Kandidaten Joachim Gauck? Manche Medien vergleichen dieses Phänomen nicht zu Unrecht mit der Begeisterung für Barack Obama im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf.

    Böhmer: Weil Herr Gauck aufgrund seiner Biografie und seiner Haltung im Grunde genommen auch eine außergewöhnliche und auch ungewöhnlich vom Leben geprüfte Persönlichkeit ist, in der er Haltung bewiesen hat. Dem bringe auch ich Respekt entgegen. Und ich habe Verständnis dafür, dass viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes dies genau so sehen. Aber ich sagte Ihnen ja bereits, das ist nicht die einzige Entscheidungsprämisse bei der jetzigen Personalentscheidung.

    Detjen: Erkennen Sie hinter der Zustimmung für Gauck auch einen Überdruss, einen Unmut über die Politik, die die schwarz-gelbe Koalition zurzeit in Berlin bietet?

    Böhmer: Davon leben nicht nur die Medien, dafür bietet die Koalition auch manchen Anlass. Das wird man ja nicht wegdiskutieren können. Und da wir gerade in solchen Zeiten leben, halte ich eben Stabilität für wichtig, auch um wieder das Vertrauensverhältnis zu denjenigen, die Gestaltungsverantwortung in der Politik haben, aufbauen zu können.

    Detjen: Konkret, Herr Ministerpräsident, was machen Guido Westerwelle und Angela Merkel falsch?

    Böhmer: Es steht mir nicht zu, dies öffentlich zu bewerten und mich zum Oberlehrer der Bundesregierung aufzuspielen. Aber fest steht, dass sind interne Meinungsunterschiede, nach meiner Meinung wenigstens, zu sehr in der Öffentlichkeit austragen. Ich habe schon mehrfach gesagt, die Koalitionsverhandlungen gingen relativ rasch, und wir haben jetzt den Eindruck, dass manche Probleme nur mit Formulierungen überdeckt worden sind und jetzt erst zu Ende ausdiskutiert werden. Das hat sich nicht als besonders glücklich erwiesen, das muss man schon so sagen.

    Detjen: Sie haben eben betont, wie wichtig Stabilität zurzeit ist. Sie, Herr Böhmer, regieren in Sachsen-Anhalt in einer großen Koalition mit der SPD. Zeigt der Vergleich mit Berlin, dass das im Augenblick das bessere Regierungsmodell ist?

    Böhmer: Das hängt nicht unmittelbar von den Parteien ab, sondern aus meiner Sicht eher von den Persönlichkeiten. Ich habe auch schon einmal eine Legislaturperiode eine Landesregierung mit einer Koalition CDU/FDP geführt, auch da sind wir gut ausgekommen. Und wir sind jetzt in einer Koalition mit der SPD, und ich brauchte das ja auch – richtig gut zusammenarbeiten im Interesse des Landes. Das hängt weniger von den einzelnen Parteiprogrammen ab als von den Menschen, die sie umsetzen – wie diese Betroffenen damit umgehen.

    Detjen: Also auf Berlin gemünzt – persönlich Angela Merkel und Guido Westerwelle. Das sind die beiden Führer der Koalition!

    Böhmer: Ja, ich muss auch ganz deutlich sagen: Ich beneide Frau Merkel als Bundeskanzlerin nicht – mit den Schwierigkeiten, die die Koalitionspartner zur Selbstprofilierung gelegentlich machen.

    Detjen: Das gilt für alle Koalitionspartner, für alle Parteien, also auch für die CSU?

    Böhmer: Das gilt immer für alle Koalitionsparteien.

    Detjen: Auch Sie haben in Sachsen-Anhalt eine Menge Probleme zu bewältigen. Sie haben in der vergangenen Woche eine Regierungserklärung abgegeben, drastische Sparmaßnahmen für den Landeshaushalt angekündigt. Sie müssen in diesem und im nächsten Jahr 1,3 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen. Länder wie Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern haben in der Vergangenheit offenbar besser gewirtschaftet, sie können ausgeglichene Haushalte vorlegen. Was ist in Sachsen-Anhalt da falsch gelaufen?

    Böhmer: Wir haben in den Zeiten, als wir bessere Steuereinnahmen hatten, keine Rücklagen gebildet. Die Kollegen sowohl in Sachsen als auch in Mecklenburg-Vorpommern haben dies getan und brauchen deshalb zurzeit weniger neue Kredite. Aber aufgrund der Steuereinnahmen, wie sie sich jetzt im laufenden Jahr entwickeln, hoffe ich sehr, dass wir die Berechtigung zur Aufnahme von Krediten in der im Haushalt angegebenen Höhe nicht werden in Anspruch nehmen müssen.

    Detjen: Trotzdem müssen Sie dem Land große Sparanstrengungen verordnen. Was können Sie tun, was müssen Sie tun, damit in dieser Sparnot nicht die notwendigen Hilfen für die Konjunktur in einem strukturschwachen Land wie Sachsen-Anhalt erstickt werden?

    Böhmer: Ja, das heißt, dass wir nicht im investiven Bereich bevorzugt, sondern mehr in dem konsumtiven Bereich bei den Ausgaben sparen müssen, damit das Land von diesem Nachteil, den Sie angeführt haben, möglichst verschont bleibt. Wir müssen selbstverständlich etwas für die Wirtschaft weiterhin tun, und wir können keinen Zustand herbeiführen, der dazu führt, dass noch mehr als bisher vom Steueraufkommen für Zinsen ausgegeben werden muss. Das heißt, wir müssen im Bereich der konsumtiven Ausgaben sparen.

    Detjen: Welche sind das – konkret?

    Böhmer: Das sind letztlich alle Leistungen des Landes, alle freiwilligen Leistungen des Landes. Denn die meisten Leistungen sind durch Bundesgesetze vorgeschrieben und entziehen sich unserer Gestaltungsmöglichkeit. Nur dort, wo wir überhaupt die Möglichkeiten haben, Ausgaben selbst zu bestimmen, können wir sparen. Und das wird bedeuten, dass wir bei allen versuchen, ein bisschen Geld einzusammeln, damit uns auch nichts wegbricht. Das wollen wir natürlich auch nicht.

    Detjen: Auch der Bund muss bei den variablen Ausgaben sparen. Er will zum Beispiel die Förderung beim Solarstrom kürzen. Ab Donnerstag nächster Woche sollen die Einspeisevergütungen für Solarstrom aus neu gebauten Fotovoltaikanlagen nach dem Willen von Bundesumweltminister Röttgen um 16 Prozent sinken. Er begründet das damit, dass sich die staatliche Förderung als unwirtschaftlich erwiesen hat und die Strompreise damit unnötig verteuert würden. Sie haben sich mit einem Einspruch dagegen im Bundesrat gewandt. Sachsen-Anhalt ist ein Land, in dem sehr stark Industrie im Bereich erneuerbarer Energien angesiedelt ist. Warum?

    Böhmer: Weil wir wissen, dass es notwendig ist, diese Subventionen zu kürzen, weil wir aber wollen, dass sie nicht mit dieser Geschwindigkeit in diesem Umfang gekürzt werden. Und deswegen suchen wir schlicht einen Kompromiss. Es geht mir nicht – und ich habe keine Sorge um den Reichtum derjenigen, die diese Anlagen installieren und eine zweistellige Rendite damit erwirtschaften möchten, das ist nicht unser Anliegen. Uns geht es um die Arbeitsplätze in der Industrie – in jenen Betrieben, die diese Solarzellen herstellen. Die sind nicht nur in Sachsen-Anhalt, aber eben auch bei uns ansässig. Und wir möchten, dass diese Arbeitsplätze erhalten bleiben. Und so sehr ich im Prinzip Herrn Röttgen recht gebe, dass das notwendig ist, so sehr sind wir daran interessiert, dass es den Betrieben zumutbar gestaltet wird. Und ich denke, wir werden uns im Laufe der nächsten Woche darüber einigen.

    Detjen: Haben Sie das Gefühl, dass Sie da von der Bundesregierung, von Vertretern der Bundesregierung angemessen gehört und beachtet werden?

    Böhmer: Ob man immer das Gefühl hat, angemessen gehört zu werden, das ist nicht exakt beurteilbar. Wir haben uns gemeldet, auch in den Bundestagsausschüssen ist dieses Thema diskutiert worden. Wir sitzen am Dienstagabend noch mal mit diesem Thema zusammen, und es gibt auch vonseiten der Bundesregierung die Bereitschaft, auf einen Kompromiss zuzusteuern.

    Detjen: Sie vertreten damit natürlich ganz regionale Interessen mit Blick auf die Industrie Ihres Landes. Das ist im Grunde nichts anderes als das, was Bayern in den Koalitionsverhandlungen getan hat, als Bayern im Interesse des bayerischen Gastgewerbes die Mehrwertsteuer-Vergünstigungen für die Hotels und Gasthöfe in Bayern durchgesetzt hat. Wie kann da Sparen gelingen, wenn jeder eben am Ende doch auf seine ganz eigenen Interessen guckt und versucht, sie durchzusetzen?

    Böhmer: Der Vergleich hinkt. In Bayern ging es darum, dass eine vorhandene Branche unterstützt werden sollte, die den Nachweis erbracht hat, dass es auch mit dem früheren Mehrwertsteuersatz einigermaßen ging. Und die Behauptung, dass die Leute alle in Österreich übernachtet hätten oder in Frankreich, wo die Mehrwertsteuer niedriger ist, die ist nicht mal statistisch belegbar. Hier geht es darum, dass eine Zukunftsbranche, die wir gefördert haben, die auch die Bundesregierung gefördert hat und die einen notwendigen Abbau dieser Förderung hinnehmen muss und will – das wissen die, dass das nicht auf Dauer so bleiben kann –, dass die nicht mit dem Tempo des Subventionsabbaus überfordert wird. Nur darum geht es, nicht um mehr, nicht um prinzipielle Fragen, sondern um eine Anpassung des Abbaus der Subventionierung an die technologische Entwicklung.

    Detjen: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit dem Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, mit Wolfgang Böhmer. Herr Ministerpräsident, Ihr hessischer Kollege Roland Koch hat kurz vor seiner Rücktrittsankündigung gefordert, bei den Bildungsausgaben zu sparen. Er ist dafür heftig kritisiert worden. Kaum jemand hatte in Erinnerung, dass der Vorschlag ursprünglich von Ihnen kam.

    Böhmer: Da bin ich gut weggekommen, aber ich bekenne mich trotzdem dazu. Dabei geht es mir oder uns in Sachsen-Anhalt nicht darum, die Ausgabenansätze rein zahlenmäßig zu kürzen, sondern darum, erst einmal zu klären, ob man nicht mit dem vorhandenen Geld einen besseren Effekt erreichen kann. Wenn Sie sich die Zahlen zwischen den einzelnen Bundesländern anschauen, steht fest, dass pro Student, pro Schüler, pro Einwohner – wie man auch die Bezugszahl wählt – unterschiedliche Ausgaben getätigt werden für die einzelnen Bereiche in der Bildung, dass aber die mit den PISA-Studien und anderen Vergleichen gemessenen Leistungsergebnisse nicht mit der Höhe der Finanzaufwendungen korrelieren. Und deswegen sage ich ganz nüchtern, wenn andere Länder in der Lage sind, mit weniger Geld bessere Leistungen zu erreichen, müssen wir erst einmal über die Effizienz der Mittelverwendung nachdenken, bevor wir neues Geld in dieses System geben, damit ein höherer Finanzaufwand auch bessere Leistungen erbringt. Und dieser Diskussion haben wir uns bisher nicht gestellt.

    Detjen: Das heißt, Sie werden diese Diskussion aber weiter voran treiben und sich dafür einsetzen, das Ziel, das ja dahinter steckt, den Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt auf zehn Prozent zu steigern, dieses Ziel zeitlich zu strecken?

    Böhmer: Ja, und zwar aus anderen Gründen. Wenn wir die Ausgaben für die Bildung nehmen, dann liegen wir schon deutlich höher als manche andere Bundesländer. Wenn wir die Ausgaben für die Hochschulen nehmen, liegen wir im deutschen Mitteldurchschnitt. Die Ausgaben aus der Wirtschaft für die Forschungsförderung, da liegen wir im Ländervergleich an letzter Stelle, weil wir viel zu kleine Betriebe haben, die fast alle keine eigenen Forschungs- und Entwicklungspotenziale überhaupt haben. Und deswegen müssen wir in diesem Bereich nachholen. Und was nicht geht, dass das, was die Wirtschaft im Lande nicht leisten kann zum Erreichen dieses Zehnprozentzieles, das wir das aus dem Landeshaushalt mit öffentlichen Mitteln ausgleichen. Das ist eine völlig andere Situation, als sie die Kollegen in Baden-Württemberg haben oder in Bayern, wo mir der Ministerpräsident sagt: Wir haben überhaupt kein Problem, unsere Wirtschaft investiert so viel in Forschung und Entwicklung, dass wir mühelos dieses Ziel erreichen werden. Und dieser Unterschied verhindert, dass wir im überschaubaren Zeitraum das Zehnprozentziel werden erreichen können. Und deswegen brauchen wir ein bisschen mehr Zeit dazu und müssen vor allen Dingen die Kapazitäten für Forschung und Entwicklung in unserer regionalen Wirtschaft unterstützen und aufbauen.

    Detjen: Es kommt, Herr Dr. Böhmer, natürlich noch eine andere landesspezifische Besonderheit in Sachsen-Anhalt hinzu, nämlich der Bevölkerungsschwund, der Ihr Bundesland besonders trifft. Das heißt, Sie verlieren auch Schüler, das heißt, Sie können auch bei gleichbleibenden Ausgaben, gerade im Schulbereich, die Bildungsausgaben pro Kopf gleichhalten. Das ist aber eine Besonderheit in Ihrem Land.

    Böhmer: Das ist ein statistischer Effekt, der aber auch nur sehr begrenzt möglich ist, denn mit jedem Einwohner, den wir verlieren, verlieren wir auch Geldzuweisungen im horizontalen Finanzausgleich. Und das macht Millionenbeträge pro Jahr aus.

    Detjen: Sie haben in den letzten zehn Jahren gut 17 Prozent der Bevölkerung in Sachsen-Anhalt verloren. Das wird sich in den nächsten Jahren noch weiter entwickeln. Wie kommen Sie aus diesem Teufelskreis eigentlich heraus?

    Böhmer: Aus diesem Teufelskreis kommen wir nur langsam heraus. Bisher war es so, dass der Bevölkerungsrückgang insbesondere durch Wanderungsverluste bedingt war. Das hing mit der schlechten wirtschaftlichen Situation und der hohen Arbeitslosigkeit zusammen. Dies wird sich, wie ich hoffe, bald ändern. Es ist jetzt schon so, dass wir in einigen Bereichen einen Mangel an Facharbeitern spüren und dass die Ausbildungssituation, die Lehrlingsausbildung, sich deutlich verbessert hat. In dem Maße, in dem es uns gelingt, hier im Land zukunftssichere und auch gut bezahlte oder ordentlich bezahlte Arbeitsplätze anzubieten, wird sich die Wanderungsbilanz, wie ich hoffe, ausgleichen. Dann bleibt aber nach wie vor ein hohes Geborenendefizit übrig, auch deswegen, weil wir uns während der letzten 20 Jahre fast die Hälfte der zukünftigen Müttergeneration verloren gegangen ist. Und deswegen werden wir ein Geborenendefizit noch über längere Zeit haben und uns da anpassen müssen. Das kann ich aber beim besten Willen nicht ändern.

    Detjen: Das ist ein Symptom eines strukturellen Problems. Es gibt viele Strukturprobleme in Ihrem Bundesland. Immer wieder ist darüber nachgedacht worden, ob der Zuschnitt dieses Bundeslandes Sachsen-Anhalt nach der Wiedervereinigung vor 20 Jahren eigentlich richtig gewählt worden ist. Ist es Zeit, 20 Jahre später, diese Diskussion noch mal neu zu beleben und über ein neues Land, Mitteldeutschland etwa, nachzudenken, zu dem dann Sachsen-Anhalt, Thüringen, vielleicht Sachsen gehören könnten?

    Böhmer: Diese Diskussion ist so alt, wie die Bundesrepublik alt ist. Sie bezog sich bisher auf Bremen und das Saarland, und jetzt bezieht sie sich auf uns. Auch wir werden das aushalten müssen. Ich will das auch ganz deutlich sagen, wie ich es sehe. Für Sachsen-Anhalt, ein Land ohne eigene Geschichte, ist das ein eher theoretisches Problem, über das man durchaus reden kann. Sie werden aber weder in Sachsen noch in Thüringen eine Mehrheit dafür bekommen, dass die nicht mehr Sachsen oder nicht mehr Thüringer sein sollen, sondern nur noch Mitteldeutsche. Und wenn wir davon ausgehen, dass wir die Bevölkerung auf diesen Weg mitnehmen wollen und dass es eine Mehrheit dafür geben muss, bin ich der Meinung, wird es kaum in absehbarer Zeit eine Lösung dieser Frage geben. Sonst müssten das die Bremer oder die Saarländer ja schon vor vielen Jahren oder Jahrzehnten gelöst haben.

    Detjen: Herr Ministerpräsident, lassen Sie mich noch mal auf die Haushaltssituation zurückkommen. Kann die Krise der öffentlichen Haushalte, die wir im Augenblick erleben, eigentlich nur durch Maßnahmen auf der Ausgabenseite gelöst werden, oder müssen nicht auch die Einnahmen, sprich die Steuern erhöht werden?

    Böhmer: Das ist eine Diskussion, über die man sich trefflich streiten kann.

    Detjen: Die Kronzeugen kommen ja aus Ihren eigenen Reihen. Der Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrats Lauk hat sich dafür ausgesprochen, und Ihr Wirtschaftsminister.

    Böhmer: Ja, ich habe das ja alles mitbekommen. Ich finde das auch nicht ehrenrührig, dass wir darüber nicht sofort alle einer Meinung sind. Und wenn sich die Vertreter des Wirtschaftsrates öffentlich dazu bekennen, dass sie solidarisch auch einen Teil dieser Last übernehmen wollen, dann finde ich das für sehr ehrenwert und diskussionswürdig. Natürlich muss man zunächst beim Sparen auf der Ausgabenseite anfangen. Aber dass man auch darüber nachdenken muss, die Einnahmen zu verbessern, dort wo es möglich und zumutbar ist und der wirtschaftlichen Entwicklung nicht abträglich – auch das gehört dazu –, dort würde ich das auch zukünftig nicht ausschließen.

    Detjen: Es geht ja nicht nur um die Zumutbarkeit, es geht auch um die Ausgewogenheit der Gesamtmaßnahmen, die eine Regierung ergreift. Ihr Wirtschaftsminister Haseloff sagt – Zitat –, wenn zehn Prozent der Oberschicht keinen steuerlichen Beitrag zur Sanierung des Bundeshaushaltes leistet, dann sei die politische Glaubwürdigkeit gefährdet. Sehen Sie diese Gefahr genau so?

    Böhmer: Also auf alle Fälle ist aus meiner Sicht die politische Glaubwürdigkeit gefährdet, wenn wir uns weigern würden, darüber zu diskutieren. Dass wir öffentlich darüber reden, die Argumente pro und kontra austauschen, das ist meiner Ansicht nach notwendig, um die Glaubwürdigkeit zu erhalten, ohne dass man ein bestimmtes Ergebnis vorwegnehmen muss. Ich würde aber nicht zustimmen, wenn nur ein von einer bestimmten Seite gewolltes Ergebnis Glaubwürdigkeit begründet. Das ist dann mir zu einseitig.

    Detjen: Der erwähnte Wirtschaftsminister Reiner Haseloff soll Ihnen im nächsten Jahr nachfolgen. Sie haben angekündigt, dass Sie zur nächsten Landtagswahl im März kommenden Jahres nicht mehr antreten werden. Sie sind, das darf man sagen, 74 Jahre alt. Sie waren seit 2002 Ministerpräsident hier in Sachsen-Anhalt. Wenn Sie zurückblicken, und ich vermute, das fängt jetzt neun Monate vor dieser Zäsur für Sie für das Land an, wenn Sie zurückblicken, was haben Sie erreicht, was werden Sie in den kommenden neun Monaten nicht mehr schaffen?

    Böhmer: Also, ich quäle mich nicht allzu sehr mit solchen Überlegungen, aber es ist natürlich logisch, dass man gelegentlich sich selbst mal befragt, ob man das, was man vorhatte, erreicht hat oder nicht. Und da sage ich ganz deutlich, alles, was ich mir erhofft hatte zu erreichen, habe ich nicht geschafft. Ich hätte mir gewünscht, dass die Steuerkraft des Landes viel schneller steigt. Ich hätte mir gewünscht, dass wir die Arbeitslosigkeit viel schneller und deutlicher würden abbauen können. Auf beiden Wegen haben wir Erfolge erreicht, aber nicht die, die ich mal als Hoffnung oder Illusion vor neun Jahren hatte, als ich das Amt übernommen habe. Und so ehrlich bin ich auch zu mir selbst.

    Detjen: Lassen Sie mich mit der letzten Frage den Bogen noch mal zum Anfang unseres Gesprächs, Herr Böhmer, schlagen. Als Sie 1989/90 in die Politik eingestiegen sind, sind Sie als Außenseiter in die Politik gekommen. Sie waren vorher Arzt in einem Krankenhaus. Heute gilt der Leitsatz: Außenseiter bringen nicht die politische Kenntnis mit, die es zum Überleben in diesem politischen System braucht. Sie haben das am Anfang unseres Gesprächs selber mit Blick auf Joachim Gauck gesagt. Ist die Zeit für solche Karrieren, wie Sie sie in der Politik hatten, für Außenseiter, für Neueinsteiger, für Quereinsteiger nicht mehr gegeben? Ist das heute gar nicht mehr möglich?

    Böhmer: Es ist auf alle Fälle deutlich schwieriger möglich als in den Anfangsjahren nach der Wiedervereinigung. Da war so viel Anfang wie noch nie und da war natürlich die Möglichkeit für Außeneinsteiger. Die waren sogar gesucht, weil man mit den alten politischen Kadern gar nicht mehr weiterarbeiten konnte. Die waren damals viel, viel größer, als das jetzt der Fall ist. Und dass Außeneinsteiger auch Unsicherheiten mitbringen, das haben wir auch erlebt. Wir haben also in der ersten Legislaturperiode nicht nur geglänzt, das darf man nicht denken. Da gab es auch viele Anfängerfehler, die in einem stabilen System gar nicht denkbar gewesen wären. Das hat also Vor- und Nachteile. Trotzdem bin ich der Meinung, dass Außeneinsteiger immer etwas Erfrischendes mitbringen, auch wenn es gelegentlich mit Fehlern verbunden sein könnte, die dann von denjenigen, die schon Erfahrung haben, natürlich auch vermieden werden können.

    Detjen: Herr Ministerpräsident, vielen Dank für das Gespräch.

    Böhmer: Bitte schön.