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"Ich glaube an die Magie der Sprache"

Spätestens mit seinem Roman "Flughunde" 1995 machte sich Marcel Beyer einem größeren Publikum bekannt. Wie der medienhistorisch versierte Dichter und Romancier arbeitet - und warum für ihn ein Bügelbrett produktiver als ein Tapeziertisch ist, offenbart ein Blick in die Werkstatt des 46-Jährigen.

Von Mirko Schwanitz | 11.08.2012
    "Wir sind hier in meinem Zimmer, das eigentlich vorwiegend das Zimmer für die Schallplatten ist mittlerweile. Und hier finden sich meine Arbeitsmaterialien, hier findet man Stapel Manuskripte."

    Zu Besuch in der Schreibwerkstatt von Marcel Beyer. Eine Dresdner Altbauwohnung im zweiten Stock. Eine breite Treppe muss hinauf, wer Einlass begehrt. Dann, hinter der Tür, knarrende Dielen und nicht nur im Arbeitszimmer Regale bis zur hohen Decke und Zeitungsstapel die offensichtlich auch dahin wollen.

    "Ich weiß, dass viele Autoren sagen, das gibt‘s doch alles im Netz. Das zeigt mir aber, dass wir eine völlig verschiedene Haltung haben zum Material, bin jetzt aber gerade in so einer Phase, in der will ich eigentlich alles weghauen, und griff da zuletzt hinein vor ein paar Tagen und zog heraus die 'Süddeutsche' und die 'FAZ' mit den Aufmachern 'Angela Merkel ist Bundeskanzlerin'"

    Es dürfte die Mitte des leicht schwankenden Papierbergs gewesen sein, die Beyer da anvisiert hatte. Doch wehe man fragt, ob die sich stapelnden Stapel und sich türmenden Türme denn eine Ordnung hätte.

    "Sie sind lustig! Hat das eigentlich eine Ordnung für Sie?! Ja selbstverständlich hat das eine Ordnung. Und wie Joseph Beuys gesagt hat: 'Jeder Griff muss sitzen'. Und das gilt auch für den Griff ins Regal oder in den Materialstapel."

    Belustigt bemerkt Beyer auch meinen Blick auf das, was er seinen Schreibtisch nennt, während er in einem Stapel Papier nach einer Variante jenes Gedichts sucht, an dem er gerade arbeitet.

    "Es war so, dass ich irgendwann mal dachte, man muss möglichst viel Tischfläche haben für seine Sachen und habe angefangen Tapeziertische aufzustellen, so von drei bis sechs Metern. Dann waren wir mal auf Reisen und diese Tapeziertische waren zusammengebrochen unter der Last des Materials. Sobald man einen Schreibtisch hat, hat man immer sehr viel unerledigtes Zeug da liegen. Das macht mich verrückt, wenn ich an einen Arbeitsplatz gehe, der eigentlich immer nur ruft, du müsstest eigentlich dringend ganz andere Dinge tun, als zu schreiben. 1999 bin ich zu Hertie gegangen und habe für 35 Mark dieses Bügelbrett gekauft, das höhenverstellbar ist. Ich kann im Sitzen daran arbeiten. Ich kann im Stehen daran arbeiten."

    Meistens aber wandert Beyer, den Laptop vom Bügelbrett nehmend, hinüber in die kleine Küche, wo vor der offenen Balkontür der Wind in zwei alten Eichen rauscht und der Aschenbecher auf einem Tisch steht, der noch kleiner ist, als das Bügelbrett.

    "Also das ist etwas sehr Ungewöhnliches. Ich lese schon ganz gerne aus noch entstehenden Manuskripten vor. Aber aus einem entstehenden Gedicht habe ich noch nie vorgelesen – schon sicher mal habe aus beginnenden Gedichten vorgelesen und hinterher habe ich dann einfach gemerkt, nein, so stimmt es einfach nicht, und dann sind diese Gedichte noch einmal neu geschrieben worden oder völlig verschwunden. Aber dieses ist nun wirklich ein Teil, der den Anfang macht eines mehrteiligen Gedichtes:


    Sankt Petersburg, im Juli 2007,
    gegen zwei Uhr früh,
    Aufnahme nachgestellt.
    An der Eremitage herrscht,

    wie im Rest der Welt, gepflegte
    Endreimstimmung unter
    allen, die noch auf der Straße
    sind. Vokale, Konsonanten –

    Unbekannte. Von rechts nach
    links: ein Fleischerhund,
    ein nüchterner Kadett, hinter
    ihm an der Mauer nicht

    seine Braut, nur eine zufällige
    Passantin in Alu-Optik,
    schlicht, hell, mit
    Reißverschluß, ein Cosmo-,

    Kosmonautenjäckchen, -traum,
    und kaum von Dauer.
    Bleibt noch das Kind an
    ihrer Hand, zehn oder elf

    vielleicht, die Seemannsaugen.
    Stehen da am Newa-Ufer
    wie Verwandte. An
    dieser Stelle die Zäsur."
    "

    Ein Fotograf reist um die Welt, willkürlich greift er sich Passanten in Schanghai, oder New York oder in Sankt Petersburg. Ein Fotogedichtband soll entstehen. Beyer durfte sich eines heraussuchen.

    ""Ich bin jemand, der gern auf Zuruf arbeitet. Ich habe in den letzten Jahren verstärkt auch gerne Arbeiten zur Bildenden Kunst geschrieben, für Fotografen insbesondere in den letzten Jahren. Und das Gedicht, das dabei ist zu entstehen, das hat einfach Zeit, das darf auch so vor sich hin mäandern und sich entwickeln und auch ausfransen auf der Strecke."

    Beyer kennt die Begriffe, mit denen Kritiker seinen Stil zuweilen beschreiben, dieses überbordend Assoziative, diese langen Gänge, in denen sich hinter jeder Tür gleich die nächste öffnet, gespeist von Recherchen, die für vier Zeilen schon mal mehr als 30 Seiten ausmachen können. Der Schlüsselreiz, den er dafür stets benötige, könne so aussehen, wie dieses schwarzweiße Bild da vor uns auf dem Tisch.

    "In diesem Bild gibt es ganz, ganz viel Spuren, die einen in imaginäre Räume führen können. Vielleicht gehören die Füße, die man von oben ins Bild ragen sieht ja Sergej Eisenstein. Es wird sich ein Raum öffnen, so stell ich mir das vor, in zwei Bereiche, deren Reibung mich immer fasziniert, das ist zum einen die Welt der Kunst, zum anderen die Welt der Politik. Vielleicht werden Sergej Eisenstein und Vladimir Putin aufeinandertreffen. Es wird, schwebt mir vor, irgendwann ein U-Boot ins Bild geraten, ein großes PR-Desaster für Putin."

    Mäandern, sich entwickeln, ausfransen – es geht schon wieder los. Dabei geht es Beyer doch nie um das Mäandern an sich. Eigentlich, sagt er sinnierend, während er der Stieglitz-Familie, die sich seit ein paar Tagen in einer der beiden Eichen im Hof eingenistet hat, Krumen auf den Balkon wirft - eigentlich gehe es ihm immer um die Metamorphose von Geschichte in Gegenwart, wobei für ihn die Sprache jenes Medium sei, das diese Verwandlung erst ermögliche. Was aber, wenn dieses Medium nicht verantwortungsbewusst eingesetzt werde?

    "Es gibt da einen kurzen Text von Michel Leiris. Leiris war ein Autor, der zu den französischen Surrealisten gehörte, 1944, der neben der Alltagsrealität auch an eine magische Realität glaubte, die sich aber in der Alltagsrealität manifestiert. Der Text heißt: 'Was Sprechen heißt' und da geht es um die Magie und die Gefahren, die mit der Sprache verbunden sind. Er sagt da zum Beispiel: 'In den zurückliegenden Jahren hat manchmal ein Wort genügt, um jemanden in den Tod zu schicken', also er, der zur Résistance gehörte. Nun sagt er aber nicht, die Konsequenz, die wir ziehen müssen, ist, Sprache nur noch politisch zu betrachten und uns als Schriftsteller in den Dienst der Gesellschaft zu stellen – diese Bewegung gab es ja auch. Sondern wir müssen eigentlich immer an die Spannung zwischen meiner Sprache, einer ganz individuellen, um das Ich herumspinnende, ins Spekulative gehende, keine Grenzen akzeptierende Sprache denken und zugleich an die gesellschaftliche Dimension. Das scheint unvereinbar, aber das ist das tolle an der Literatur. Ich will nichts anderes sein als Schriftsteller, ich glaube an die Magie der Sprache und zugleich glaube ich aber auch, dass man Sprache brauchen muss, um die Welt zu verbessern. Wir sprechen immer auch nach draußen zu anderen."