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Ich kämpfe, also bin ich

"Die Nacht des Kiebitz" zählt zu den Höhepunkten im Werk des 1993 verstorbenen US-Autors Wallace Stegner. Für den Eheroman, in dem ein alternder Literaturagent auf sein Leben zurückblickt und Bilanz zieht, bekam Stegner 1977 den National Book Award zugesprochen.

Von Arne Rautenberg | 16.04.2010
    Hauptfigur in Wallace Stegners Roman "Die Nacht des Kiebitz" ist der ehemalige Literaturagent Joe Allston. Er ist ein alter Mann und seine Lebenserkenntnis gipfelt darin, sich als jemanden zu bezeichnen, "der die Zeit totschlägt, bevor die Zeit ihn totschlägt." Wer diesen Satz im Klappentext liest, in dem regt sich sofort ein Reflex: Soll ich mir mit einem solchen Romanhelden jetzt etwa auch die Zeit totschlagen?

    Er soll. Denn auf dem Markt der deutschsprachigen Neuerscheinungen wird er Mühe haben, ein vergleichbares Buch zu finden, in dem ein berührendes Eheleben so treffend abgeschildert und zudem auf eine warme Art den letzten Fragen nachgegangen wird; diese Fragen werden uns ohnehin alle irgendwann angehen. Mit Joe Allston lässt sich erleben, was Altsein im Freundeskreis bedeutet: Da gibt's dann nur noch Neid auf die Vitaleren - oder Mitleid mit denen, die kurz vorm Siechtum sind.

    Natürlich kennt kein Mensch Joe Allston besser, als seine langjährige Frau Ruth. Sie gibt dem Leben ihres Mannes Stabilität, auf ihr fußt seine Gelassenheit samt seinem brummigen Humor, den er der gemeinen Unbill des Lebens entgegenhält. Ruthie, wie er sie liebevoll nennt, umsorgt ihren Mann, steht ihm bei, reizt ihn, kurz: Diese gute alte Ehe atmet noch, auch wenn sie Joe Allston manchmal als etwas zu weich abgefedert scheint. Und trotz oder wegen der gemeinsamen Jahre hat er sich den zärtlichen Blick auf seine Frau bewahrt:

    "Sie wandte mir ihr Gesicht zu, ihr ernstes, noch immer schönes Gesicht mit den kecken, dunkel gebliebenen Augenbrauen unter dem weißen Haar. Sie hat so viel Glück mit ihrer Haut, die nicht runzelt, mit ihrer Figur, die sich in vierzig Jahren kaum verändert hat. Sie gehört zu denen, die von alten College-Freunden sofort wiedererkannt werden; ich nicht."

    Zu den dunklen Kapiteln der Ehe gehört der Umstand, dass sich ihr einziges Kind, der Sohn Curtis, von seinen Eltern abgewandt hat und frühzeitig verstorben ist. Diese dunkle Wolke drückt auf die Ehe; bohrende Fragen steigen in Joe Allston auf, Fragen, die ihm niemand beantworten kann:

    "Quält mich der Gedanke an Curtis' Tod deshalb so sehr, weil er nie Erfüllung gefunden hat, oder deshalb, weil er mir nie Erfüllung gegeben hat? Hat er gewusst, wie gern wir ihm die Tür geöffnet hätten, wie sehr wir uns bemüht hätten, seine Rückkehr nicht zur Kränkung seines Stolzes zu machen? Und kann ich wirklich so sicher sein, dass ich diese Klugheit und Offenheit aufgebracht hätte? Glaube ich etwa jetzt, dass ich mein Temperament und meine Zunge hätte zügeln können? Was ist stärker: Die Liebe eines Vaters oder die Verachtung eines enttäuschten Vaters?"

    Und dann gibt es im Roman noch die zunehmend spannender werdende Binnenerzählung, welche die Ehe zum Wackeln bringt. Denn Allston liest seiner Frau aus dem Tagebuch vor, welches er in den 50er-Jahren geführt hat, als das Ehepaar sich auf eine Reise nach Dänemark begeben hat. Joe spürt darin seinen familiären Wurzeln nach - denn seine Mutter Ingeborg musste im Alter von 16 Jahren Dänemark verlassen. Im Königreich bandeln sie mit der halb mittellosen, halb geheimnisvollen (dafür allerdings äußerst charmanten!) Gräfin Astrid an. Zunehmend tiefer dringen die Allstons ins düstere Schweigen von Astrids blaublütiger Familie ein und enthüllen einen plötzlich sehr heiß geplotteten Kern um Inzucht und rassistische Ideale.

    Die Rahmenhandlung spielt im Amerika der 70er-Jahre und umkreist das Altsein - die Binnenerzählung spielt im Dänemark der 50er-Jahre und behandelt die existenzielle Krise des Joe Allston. Leidenschaft und Mäßigung, beide Ebenen motivieren zu Erinnerungen, Kommentaren, Emotionen; in der Erzählerwelt drohen die Abschiede, in der Tagebuchwelt kneift die nicht ausgelebte Amour fou. Im Rückblick beginnt Joe Allston ganz schön der Kopf zu schwirren:

    "Fühlte ich mich betrogen? Hatte ich das Gefühl, mir die Chance zur Selbstverwirklichung, wie sie das nennen, verbaut zu haben? Zählte ich die Gipfelpunkte meines Lebens durch und stellte fest, dass es nur Gipfelchen waren? War ich der Mensch, den seine Mutter geliebt hatte, bis zu ihrem frühen Tod? Dessen Sohn eine Katastrophe für beide Eltern und auch für sich selbst gewesen war? Dessen Frau bis zum Alter von 20 Jahren ein nettes Mädchen und danach eine nette Frau gewesen war? Der in seinen Beruf hineingestolpert war, statt ihn sich auszusuchen, der ihn mit Verstand, aber ohne Freude ausgeübt hatte? Hatte ich mein ganzes Erwachsenenleben nach etwas anderem Ausschau gehalten, auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg, nach Rettung, Verklärung?"

    Verklärt wird nichts in diesem Roman, dessen ruhiger Atem sich auch aus dem Umstand speist, dass in der reflektierten Welt des Erzählers die kühlen 80er-Jahre, das Internet, die Jahrtausendwende, der 11. September noch gar nicht stattgefunden haben - man kann sich als heutiger Leser also dem entschleunigten Zeitgeist der Geschichte hingeben und in eine Welt eintauchen, in der Innigkeit, lakonischer Humor und ein wacher Geist dem drohenden Damoklesschwert des Lebens (nämlich am Ende doch wieder nur auf sich selbst zurückgeworfen zu sein!) die Stirn bieten.

    Gemessen an Stegners auf Deutsch erschienenen Vorgängerroman "Zeit der Geborgenheit" ist "Die Nacht des Kiebitz" nicht ganz so griffig und mitreißend - dafür ist er raffinierter erzählt und hat mit den Auswüchsen der dämonisch-dänischen Episode auch eine unerhörte Enthüllung zu bieten. Nicht zuletzt die schönen Ehe-Bilanzen werden in Erinnerung bleiben:

    "Es bedeutet schon etwas - und es kann alles bedeuten - einen Mitvogel gefunden zu haben, mit dem man in den Dachbalken sitzen kann, während unten gezecht, geprahlt, rezitiert und gestritten wird; einen Mitvogel, für den man sorgen kann, dem man Körner und Raupen bringen kann, der dir die Wunden salbt und die zerzausten Federn richtet und dich tröstet, wenn du zufällig in etwas hineingeflogen bist, was zu viel für dich war."


    "Die Nacht des Kiebitz" von Wallace Stegner ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen. Übersetzt wurden die 280 Seiten von Chris Hirte. Der Roman kostet 14,90,- Euro.