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"Ich nenne das eine gefällige Abitur-Vollkasko-Politik"

Einer Forsa-Umfrage zufolge halten es 85 Prozent der Schüler und Studenten in Deutschland für falsch, das Sitzenbleiben abzuschaffen. Mehrere rot-grün geführte Länder verfolgen dieses Ziel dennoch. Josef Kraus, Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbands, vermutet dahinter den Weg zur Einheitsschule, "in der sozusagen jeder bis oben durchgeschoben wird".

Josef Kraus im Gespräch mit Christoph Schmitz | 08.03.2013
    Christoph Schmitz: Seit in Niedersachsen eine rot-grüne Regierung am Ruder ist, wird nicht nur dort über etwas diskutiert, was die Koalitionäre in ihren Vertrag geschrieben haben: dass nämlich mittelfristig das Durchfallen in der Schule, das Sitzenbleiben, die berühmte Ehrenrunde, überflüssig, weil abgeschafft wird. In den Gemeinschaftsschulen des grün-rot regierten Baden-Württembergs ist sie längst gestrichen, im rot-grünen Rheinland-Pfalz wird die Schule ohne Sitzenbleiben getestet. Die SPD in Bayern will es im Falle eines Wahlsieges abschaffen. Was manchen Politikern ein Herzensanliegen ist, stößt in der Bevölkerung auf wenig Verständnis. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat sich im Auftrag des Deutschen Philologenverbandes umgehört, etwa unter Schülern und Studenten. 85 Prozent von ihnen halten es für falsch, das Sitzenbleiben abzuschaffen. Nur 14 Prozent sind dafür. Wie kann das sein, habe ich den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes gefragt, Josef Kraus.

    Josef Kraus: Die Schulpolitik ist ja oft weit von dem weg, was Schulrealität ist. Ich habe oft genug auch das Gefühl, dass die jungen Leute vor Ort und die Schulen vor Ort viel bodenständiger und vernünftiger analysieren und handeln, als es die Schulpolitik tut. Ich sehe hinter dieser Schulpolitik gewisser Länder und gewisser Parteien einfach den Versuch, eine populistische, gefällige Erleichterungspolitik und Pädagogik zu betreiben, die aber unterm Strich nicht ankommt. Im Übrigen habe ich es immer schon für lächerlich gehalten, das Thema so hochzujubeln, angesichts der Tatsache, dass gerade eben 1,5 Prozent aller Schüler pro Jahr davon betroffen sind.

    Schmitz: Sie sprechen von Populismus. Aber auch unter den Deutschen allgemein, also nicht nur unter den jungen Deutschen, hat das Sitzenbleiben gar keinen so schlechten Ruf. 73 Prozent wollen daran festhalten. Was treibt also sozialdemokratische und grüne Schulpolitiker dazu, das Druckmittel Ehrenrunde abzuschaffen, wenn es doch gar nicht populär ist?

    Kraus: Ich glaube, dass rot-grüne Schulpolitik ganz andere Ziele hat und dass die Abschaffung des Sitzenbleibens, eines Tages die Abschaffung der Noten, nur so kleine Schritte sind im Verfolgen eines Endzieles. Und dieses große Endziel der Schulpolitik von Rot-Grün, das unterstelle ich einmal, ist die einheitliche Schule. Da man die einheitliche Schule, weil sie ein schlechtes Image hat, aber nicht im Handstreichverfahren hinkriegt, versucht man nun, die bestehenden Schulen von innen sozusagen so weit zu liberalisieren, so auszuhöhlen, dass eines Tages dann das Gymnasium mit einem obendrein schönen und wohlklingenden Namen als Einheitsschule übrig bleibt, in der es kein Sitzenbleiben, keine Leistungsanforderungen mehr gibt, in der sozusagen jeder bis oben durchgeschoben wird. Ich nenne das eine gefällige Abitur-Vollkasko-Politik.

    Schmitz: Das heißt, der alte Traum der Wohlfühlschule, ohne Anstrengungen gute Noten für alle?

    Kraus: Dieser Traum war immer falsch. Und ich habe es, mal sehr heftig ausgedrückt, immer als ein Vergehen, wenn nicht ein Verbrechen an Kindern gehalten, sie sozusagen bis zum 18. Lebensjahr in Watte zu packen, so zu tun, den Kindern immer vorzugaukeln, ihr könnt alles und ihr seit die Tollsten, und sie dann plötzlich im 18. oder 20. Lebensjahr dem rauen Wind der Wirklichkeit auszusetzen. Nein, es gehört mit zur Entwicklung eines jungen Menschen, mit zur Sozialisation, mit zum Hineinwachsen in diese Gesellschaft gehört das Risiko des Misserfolges und das Risiko des Scheiterns mit hinzu. Damit müssen die jungen Leute natürlich in altersgemäßer Herausforderung auch umgehen lernen, weil nur dann erstens Mündigkeit, zweitens Eigeninitiative, drittens Eigenverantwortung entsteht.

    Schmitz: Aber, Herr Kraus, sogar bei den Parteimitgliedern in SPD und auch bei den Grünen ist eine Mehrheit nach dieser Umfrage von Forsa für das Sitzenbleiben. Also wird in den Regierungsetagen im Schulwesen nach wie vor allzu gerne herumreformiert wie über Jahrzehnte. Wie kommt es zu dem Widerspruch?

    Kraus: Schulpolitik ist die letzten Jahre und Jahrzehnte, übrigens nicht nur Schulpolitik, sondern auch erhebliche Teile der sogenannten wissenschaftlichen Pädagogik sind völlig abgehoben, und zum Trost kann ich sagen: Gott sei Dank funktioniert Schule vor Ort besser, als es so manche Schulpolitik überhaupt zulässt. Nein, ich unterstelle: Da steckt eine Ideologie dahinter mit einem gewissen Endziel, und das wäre jetzt wieder so ein Zwischenschritt, um zum Endziel zu gelangen.

    Schmitz: Sie sind Direktor eines Gymnasiums in Bayern und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Was bringt das Sitzenbleiben pädagogisch?

    Kraus: Es ist eine Chance zur Konsolidierung. Es ist eine Chance, die eigene Schullaufbahn zu stabilisieren, Lücken zu schließen, neu Anlauf zu nehmen, sich in neuer Lernumgebung auch zu festigen, um dann doch noch den Abschluss einer Schule, einer Schulform, einer Schullaufbahn zu erreichen. Kinder einfach durchzuschieben, durchzuschieben und durchzuschieben und beim Schulabschluss dann auf die Nase fallen zu lassen, halte ich für sehr inhuman. Ich bin dafür, dass man die Wegweiser und die Warnschilder eben früher aufstellt, meinetwegen beim 12-Jährigen, beim 14-Jährigen, und ihm nicht bis zum 18. Lebensjahr vorgaukelt, du kannst ja alles.

    Schmitz: Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, über Sinn und Unsinn, das Sitzenbleiben abzuschaffen.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.