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In mehreren Kulturen zu Hause

Viele Menschen in Deutschland fühlen sich mehr als einer Kultur zugehörig. Jeder Fünfte hat einen Migrationshintergrund. Ein Forschungsprojekt der Berliner Humboldt-Universität untersucht, was nationale Identität in Deutschland bedeutet.

Von Peter Leusch | 03.02.2011
    "Du bist jung, schwarze Haare, braune Augen, dunkle Haut.
    Glaube mir, ich kenn’ diese Scheißblicke auch.
    Dieser bestimmte "Du-Scheißkanacke-Blick".
    Aber das ist nicht Deutschland, das ist nur ein Augenblick."


    Diskriminierende Blicke zählten nicht, die müsse man wegstecken, fordert der Rapper Harris, ein Deutschamerikaner, selber dunkelhäutig. Stattdessen geht er mit den Migranten ins Gericht, wirft ihnen mangelnden Integrationswillen vor. Andere wie der aus dem Iran stammende Rapper Kaveh halten dagegen, klagen die deutsche Mehrheitsgesellschaft an:

    "Du kennst ihn nicht, diesen Scheißkanaken-Blick.
    Denn sonst würdest Du nicht sagen: Es ist nur ein Augenblick.
    Du kennst ihn nicht, diesen Scheißkanaken-Blick.
    Denn sonst würdest Du nicht wollen, dass man einige nach Hause schickt.
    … Ich fühle mich auch nicht als Deutscher. - Warum?
    Weil mich die Menschen hier nicht als Deutschen akzeptieren.
    Trotzdem bin ich und bleib ich ein Berliner."


    Die Sarrazin-Debatte hat unter Rappern eine Art Sängerstreit darüber ausgelöst, wer zu Deutschland hinzugehört und wer nicht, ja was überhaupt Integration und nationale Identität in Deutschland bedeuten - in einem Land, wo heute inzwischen jeder fünfte einen Migrationshintergrund mitbringt. In Berlin läuft an der Humboldt-Universität seit zwei Jahren ein sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt zu so genannten hybriden Identitätsmodellen, das heißt zu Menschen, die sich mehr als einer einzigen Kultur zugehörig fühlen.

    "Wir haben 50 Interviews geführt, mit Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund und deutscher Staatsangehörigkeit, 50 Prozent männlich, 50 Prozent weiblich, in einer Altersspanne von 15 bis 50 Jahren. Wir haben bewusst die erste Generation nicht befragt, die schreibt sich noch stärker dem Herkunftsland zu, ab der zweiten Generation beginnen die Irritationen, dass man keine Eindeutigkeit mehr formulieren kann in der Zugehörigkeit. Man kann nicht mehr eindeutig sagen, ich bin klar türkisch oder klar deutsch, da beginnen diese Momente der Hybridität, und sie setzen sich über die Generationenfolge weiter fort und werden immer manifester."

    Die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan leitet das Projekt zur Erforschung hybrider europäisch-muslimischer Identitätsmodelle, abgekürzt HeYmat. Naika Foroutan ist in Boppard am Rhein geboren, ihre Eltern stammen aus dem Iran. Sie ist also selbst jemand, der die Frage, "Wer bist Du eigentlich?", aus eigener Erfahrung kennt. Und ihr Team ist bewusst gemischt zusammengesetzt, aus Mitarbeitern mit und ohne Migrationshintergrund. Korinna Schäfer, sie studiert Politikwissenschaft, hat bei den qualitativen Interviews mitwirkt. Die langen Gespräche waren offen angelegt. Es gab aber einen Leitfaden, der mit der Frage nach dem Selbstbild begann, das heißt, als was jemand sich selber bezeichnet.

    "Da gibt es Antworten wie ’Ich bin ein Deutsch-Türke’, oder ’Ich bin ein Berliner Muslim’ oder solche Kategorien. Dann gehen wir weiter in dem Fragenkatalog: ’Was denken Sie denn, als was werden Sie wahrgenommen?’ Und dort zeigt sich dann zum Beispiel auf einer Skala von 0 bis 100 Prozent, dass diejenige Person, die sich bei der Frage zuvor zum Beispiel als Deutsch-Deutscher gesehen hat - obwohl er türkische Wurzeln oder eine türkische Herkunft hat, eine Person mit türkischem Migrationshintergrund ist - zeigt sich dann bei dieser neuen Frage, dass er überwiegend in der Fremdwahrnehmung als ein Muslim, als ein Türke, als ein Ausländer wahrgenommen wird."

    Vielleicht ist es das Aussehen - Gesicht, Haut- oder Haarfarbe - vielleicht auch der Name, was ein Anderssein, ein Anderswoher markiert. Überraschend stellt jemand fest, der hier geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, der Deutsch wie alle anderen spricht, dass er einem ganz anderen Land zugeordnet wird, einem Land, das er vielleicht selbst gar nicht kennt, weil seine Eltern schon ausgewandert sind. So kann das Bild, das jemand von sich selbst hat, und dasjenige, was die anderen von ihm haben, so können Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinander klaffen.

    "Wir fragen das unter anderem ab nach Orten, also: ’Wie werden Sie im Krankenhaus wahrgenommen, in der Diskothek, im Fitnessstudio in der Bäckerei?’ Und das finden wir spannend, es gibt dann noch einmal weitere Prüfungsfragen sozusagen, da fragen wir dann nach: ’Unter welcher Kategorie sehen Sie sich eher: als Berliner, als Europäer, und so weiter?’ - Und dann sagt zum Beispiel die Person, die ganz zu Anfang gesagt hat, ’Ich sehe mich als Deutschen’, sagt dann, ’Ich bin Europäer’."

    Erfahrungen mit Diskrepanz, das Bemühen der Zweiheimischen - wie die Pädagogin Cornelia Spohn Menschen mit bikultureller Existenz nennt - kann ganz unterschiedlich ausgehen: Manche suchen ihre Herkunft zu verleugnen, flüchten sich in eine Überidentifikation und geben sich deutscher als die Deutschen. Andere entwickeln nach Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung Minderwertigkeitskomplexe und Ressentiments gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Sie ziehen sich zurück oder suchen ihr Heil in einer Gegenidentität, einem Islamismus, der ihnen ein simples Weltbild und ein klares kulturelles Rollenmuster verspricht.

    Ein positiver Umgang mit der eigenen hybriden Identität ist nicht einfach. Selbstbehauptung gelingt denen am besten, die schon in anderer Weise ausreichend Anerkennung von Seiten der Mehrheitsgesellschaft erfahren haben, meint Damian Ghamlouche, ein studentischer Projektmitarbeiter mit bikulturellen Wurzeln. Sein Vater stammt aus dem Libanon, seine Mutter ist Deutsche.

    "Wenn es um Diskriminierungserfahrungen geht, merkt man, dass die Fremdmarkierungsstrukur eine große Relevanz darstellte, bei vielen merken wir, dass sie so eine starke Autonomie entwickelt haben, dass sie den Fremdmarkierungen gefestigt gegenüberstehen können, aber - und das ist auch erkennbar - dass diese Personen das nur leisten können, die bereits eine Form gesellschaftlicher Anerkennung erlebt haben. Die können damit positiv umgehen, die können auch mit dieser Fremdwahrnehmung spielerisch umgehen und auch sagen: ’Okay ich werde von anderen als jemand gesehen, der ich eigentlich nicht bin, trotzdem kann ich damit spielerisch umgehen und dem auch entgegnen’."

    Menschen brauchen Anerkennung. Dann können sie Unterschiede aushalten, kulturelle Differenzen in sich selber akzeptieren. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem Bildungserfolg zu. Und die Zahlen des Mikrozensus, so Naika Foroutan, widersprechen den Thesen Sarrazins, der die türkisch-muslimischen Migranten der zweiten Generation als bildungsunwillig hinstellte.

    "Laut Mikrozensus 2009, der nächste wird bald vorliegen, gehen wir bei der Gruppe der Türken - im Mikrozensus steht nicht 'die Muslime', sondern wir müssen das in Herkunftsgruppen messen - und bei der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund haben wir derzeit 22,5 Prozent Menschen mit Abitur und Fachabitur bei den Bildungsinländern, wohingegen die erste Generation, die nach Deutschland einwanderte, die erste Generation der so genannten Gastarbeiter, zu drei Prozent Abitur hatte - also hier können wir einen ganz starken Bildungserfolg oder eine Dynamik erkennen, wobei trotzdem 22,5 Prozent immer noch keine gute Zahl ist."

    Die Mehrheitsgesellschaft ohne Migrationshintergrund hat heute zu 40 Prozent Abitur und Fachabitur. Es gibt also weiteren Nachholbedarf für die Gruppe der Einwanderer, aber die Entwicklung ist positiver als weithin diskutiert. Zu einer Korrektur des Bildes könnte auch das Forschungsprojekt beitragen. Bei der Auswertung der Interviews kristallisiert sich heraus, dass die Zweiheimischen über bestimmte Potenziale verfügen:

    "Wir haben jetzt bestimmte Kernkompetenzen feststellen können, die wir versucht haben zusammenzufassen. So haben wir zum Beispiel festgestellt, dass bei den meisten Menschen mit hybriden Identitätsstrukturen ein so genanntes Code-Switching besteht, dass sie situativ ihre Identitäten verändern können, indem sie die Codes der jeweiligen anderen Struktur kennen, das heißt sie können von jetzt auf gleich in eine andere Sprache wechseln, unterschiedliche Verhaltensmuster annehmen, je nachdem, mit wem sie sich gerade unterhalten oder in welchem gesellschaftlichen Gefüge sie sich gerade aufhalten."

    Das Phänomen gibt es auch unter Deutschen. Jemand besucht zusammen mit Freunden sein Heimatdorf, trifft alte Bekannte und wechselt unversehens vom Hochdeutschen in den Dialekt, zur Verwunderung der Freunde, die kaum noch etwas verstehen. Plötzlich erscheint der so Vertraute ganz unvertraut, ja fremd. Im Zusammenhang mit Migranten ist dieses Phänomen allerdings brisanter.

    "Dann haben wir festgestellt, dass dieser Moment des Code-Switching auch dazu führen kann Misstrauen zu erzeugen, weil das Gegenüber daraus die Fragestellung erhebt, 'Wer bist du eigentlich jetzt? Und wer bist Du eigentlich gleich? Jetzt bist du jemand, der mir sehr bekannt ist, im nächsten Moment unterhältst du dich zum Beispiel mit Angehörigen deiner Familie, die anders agieren, anders aussehen, und dann bist du plötzlich ein ganz anderer Mensch, in deiner Mimik, in deiner Gestik, deiner Sprachformulierung.' Wir haben festgestellt, dass das zu dem Vorwurf führt, dass Menschen mit hybriden Identitäten in ihren Loyalitäten nicht stabil seien."

    Einen solchen Generalverdacht zu entkräften, könnte der Sport helfen. Das Bild der Fußballnationalmannschaft während der letzten Weltmeisterschaft, das von Spielern mit Migrationshintergrund geprägt war, hatte Symbolcharakter. Es zeigte ein anderes, ein modernes Deutschland in seiner multikulturellen Realität, die aber auch Ängste hervorruft und Theorien von Überfremdung.

    Für Entlastung könnten Identifikationsfiguren sorgen, berühmte Sportler, Künstler, Politiker mit Migrationshintergrund. Sie sind Brückenmenschen, die für eine Akzeptanz der hybriden Identität werben, weil sie sich nicht mehr der einen oder der anderen Kultur vollständig zuschlagen lassen.

    "Was ich sehr interessant finde, wie Fußball auf das Deutschlandbild nach außen ausstrahlt: Ich finde es sehr spannend, dass Mesut Özil, seit er für Madrid spielt, immer für seinen deutschen Stil gelobt wird, und dass er dort als ’El Aleman’ - der Deutsche - gilt, während er jetzt, wenn er im Moment hier wäre, wahrscheinlich wieder sehr stark mit einer türkischen Identität verhandelt werden würde."

    Das Forschungsprojekt unternimmt keine Auseinandersetzung mit dem Islam als Religion. Der Mikrozensus, auf dessen Zahlen die Arbeit basiert, erfragt keine Religionszugehörigkeit, er weist alle Migranten statistisch als muslimisch aus, die aus einem mehrheitlich islamischen Land stammen, ungeachtet ob die einzelnen nun fromm oder atheistisch sind. Die Sozialwissenschaftler analysieren vielmehr die Lebenswelt der Muslime in Deutschland und entdecken eine große Bandbreite und Vielfalt, die sie versuchen in eine Typologie zu bringen:

    "Sie haben Menschen, die religiöser sind, die sich eindeutiger kleiden, um als Muslime erkannt zu werden. Sie haben andere Menschen, die nicht religiös sind, sich aber dennoch als muslimisch bezeichnen, andere die sich mit dem muslimischen Kulturraum identifizieren, Tradition in bestimmten Formen leben oder einhalten, andere wiederum überhaupt nicht einhalten. Andere die im Bereich der Jugendkultur, diesen Cool-Islam oder Pop-Islam leben mit T-Shirts auf denen steht ’Proud to be a Muslim’, die dann muslimischen Rap machen. Sie haben junge, sexy aussehende Frauen, die trotzdem bekennende Muslimas sind. Sie haben sehr ungeschminkte, strenger partizipierende junge oder auch ältere Frauen mit Kopftuch, … wir arbeiten daran, aus den Interviews bestimmte Typologien herauszudefinieren, zu zeigen, wie divers und vielfältig der Islam bzw. die Muslime in Deutschland sind."

    Die Forscher wollen zum Abschluss einen quantitativen Fragebogen entwickeln, um deutschlandweit eine repräsentative Umfrage zu starten. Und darin online nicht nur Muslime in Deutschland befragen, sondern auch andere Vergleichsgruppen zur hybriden Identität.

    Man kann prognostizieren: Weder Deutschsein noch Muslimsein lässt sich so unverrückbar und einheitlich denken wie in der Tradition. Es öffnet sich ein Raum für Mehrdeutigkeit und kulturelle Rollenwechsel. Und das kann, meint Damian Ghamlouche aus eigener Erfahrung, befreiend sein.

    "Ich habe sozusagen den kürzesten Weg zum Interview, ich kann mich selbst immer befragen. Natürlich muss man als Mitarbeiter in einem wissenschaftlichen Projekt eine gewisse Distanz zu sich selbst bewahren. Ich denke, dass das Paradigma Hybridität - nichts muss eindeutig sein - auch für viele Menschen eine Erlösung sein kann und auch eine Erklärung, welche Machtstrukturen dahinter stehen, wenn man als Mensch immer auf eine Eindeutigkeit verwiesen wird."