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Irische Traumata und individuelle Abgründe

Für seinen neuen Roman "Die Heilige Stadt" hat der irische Autor Patrick McCabe die Figur des hochneurotischen, extrem verstörten Erzählers, der sich in eine kühle Maske abgeklärter Rhetorik hüllt, perfektioniert. Dahinter lauern Religionskonflikte, dysfunktionale Familien - eben typische irische Traumata.

Von Tanya Lieske | 29.08.2012
    Schon mit seinem letzten Roman, "Winterwald", hat uns Patrick McCabe das Fürchten gelehrt. Da hat ein Erzähler das Wort, der mit viel abgeklärten Sätzen um das Vertrauen des Lesers wirbt. Und dem man dann doch auf die Schliche kommt: Der vermeintlich leutselige Journalist und Familienvater hat stark pädophile Züge, und vieles spricht dafür, dass er seine eigene Tochter missbraucht und getötet hat.

    "Vieles spricht dafür" ist die entscheidende Wendung, mit der man sich nun auch dem folgenden Roman "Die Stadt der Engel" nähern sollte. Denn McCabe hat die Figur des hochneurotischen, extrem verstörten Erzählers, der sich in eine kühle Maske abgeklärter Rhetorik hüllt, perfektioniert. Dahinter lauern nicht nur individuelle Abgründe, sondern ganze kollektive, sehr irische Traumata. Religionskonflikte, dysfunktionale Familien, archaische ländliche Strukturen, die durch eine plötzlich einsetzende Urbanisierung aufgebrochen werden. Vor diesem Hintergrund waltet auch diesmal ein Erzähler, der seinen Zustand behaupteter Integrität möglichst lange aufrecht erhält:

    "Nun, da man in sein siebenundsechzigstes Lebensjahr eintritt, kann man sich kaum daran erinnern, je zuvor ein so seliges Maß an Zufriedenheit erfahren zu haben. Willkommen im Happy Club (...) "/)

    Christopher McCool heißt der Mann, der sich hier in die Pose des abgeklärten biographisch reflektierenden Erzählers wirft. Er ist 67 Jahre alt, Typ abgehalfterter Lebemann, seine größte Zeit liegt hinter ihm. Namentlich die Swinging Sixities in der irischen Provinz, das Jahr 1969, haben ihn geprägt. Noch immer hört er die Musik, die Beatles, Stevie Wonder, Carole King, Tony Bennett; noch immer verkehrt er in einem Retro-Club namens Mood Indigo.

    1969 war eine blonde, protestantische Sängerin namens Dolores an seiner Seite, heute ist es die Kroatin Vesna Krapotnik. Sie ist wasserstoffblonde vierzig Jahre jünger als McCool und erfüllt perfekt das Klischee der osteuropäischen Einwanderin in der irischen Gegenwartsliteratur. Womit man schon ganz bei McCabe ist. In all seinen Romanen greift er traditionelle literarische Topoi auf, verzerrt sie und steigert sie ins Grelle, hier sogar bis in den Einzugsbereich der Pop-Art. So beansprucht auch Christopher McCool einen höchst irischen Makel für sich. Er behauptet, das Kind einer Mesalliance zwischen einer protestantischen Adligen namens Lady Thornton und einem katholischen Bauern zu sein. McCool ist der ungeliebte Bastard, seine Mutter und ein übermächtiger Vater widmen sich ganz ihrem legitimen Sohn Tristram. Wie ein wiederkehrender Schatten huscht das Bild des zurückgewiesenen Kindes durch den Roman

    "Seit jener Nacht, als ich zum ersten Mal vor der hohen Verandatür von Thornton Manor gestanden und auf meine Mutter Lady Thornton geblickt hatte, die wenig mehr als ein verschwommener Fleck war, als sie die Seiten des Versschatzes umblätterte, um wie immer ihrem geliebten kleinen Tristram daraus vorzulesen. Der sich, den Daumen im Mund, genüsslich und bequem auf ihrem warmen Schoß zusammengerollt hatte. Eins war mit ihr und seiner Umgebung. Er war ein Teil davon, dachte ich. Gehörte dazu."

    Bei dem Versschatz handelt es sich um ein Kinderbuch von Robert Louis Stevenson. Gemeinsam mit einem zweiten Klassiker, "Ein Porträt des Künstlers als Junger Mann" von James Joyce ist dies der literarische Fluchtpunkt des Romans. Christopher McCool gibt sich nicht nur als ein Kind der wilden 60er-Jahre, sondern auch als Mann, der um Bildung bestrebt ist. Dies auch in vielen rhetorischen Floskeln wie: "Gestatten Sie mir eine Bemerkung" oder
    "Und ich kann mit Bestimmtheit sagen". Man ahnt nichts Gutes, und tatsächlich schimmern hinter der manierierten Ausdrucksweise zahlreiche Obsessionen durch. Der zentralen Demütigung seiner Kindheit wird eine Schlüsselrolle zugewiesen. Hinzu kommt eine homoerotische Zuneigung zu einem schwarzen Jungen namens Marcus Otoyo, der einst in einer katholischen Kirche die Hauptrolle in einem Mysterienspiel übernommen hat.

    "Es gab Momente, wo ich zitterte, so einzigartig war die Tragweite dieser Vorstellung: dass auf der Welt niemand existierte außer uns beiden. Marcus Otoyo und ich, Christus dem König und seiner Mutter Maria anverlobt.
    Mit seinen glänzenden Locken stand er am Küchenfenster und dachte bei sich, zumindest sah es so aus: Ich bin der, der auserwählt wurde.
    Ich bin der Einzige, der Erhöhte – der Auserwählte. Ich allein bin das Tabernakel Christi."

    Sublimation nannte Sigmund Freud diesen Vorgang, den Patrick McCabe erzählend imitiert. Namentlich Verschiebungen - ein Ereignis wird statt eines anderen erzählt - zeitliche Überblendungen, Fragmentarisierungen und halluzinatorische Wahrnehmungen durchsetzen diesen Bericht, der bis zum Ende das Gewand der Lebensbeichte behält:

    "Meine Handlungen waren falsch und ungerechtfertigt, mehr lässt sich dazu nicht sagen. Wäre ich doch nur stark genug gewesen, meinen Willen zu unterdrücken, jener Flut von Instinkt und Emotionen nicht nachzugeben. Rationale Urteilskraft zu gebrauchen. Doch ich war es nicht. Hilflos fügte ich mich meinen niederen Instinkten, meinen schwächsten Begierden. Wie Henry Thorntons Reaktion ausgefallen wäre, darüber lässt sich nur mutmaßen.
    - Abstoßend. Kraftlos. Verdorben. Entartet. Wertloser als ein Hund."

    Auch diesmal schwant dem Leser nichts Gutes. Und auch diesmal gilt es, den Bewusstseinszustand seines Helden zu entschlüsseln. Dazu legt Patrick McCabe Fährten und Irrwege, er simuliert Erkenntnisse und Läuterungen, und führt uns unvermittelt an einen Ort, der in seinem Gesamtwerk eine schon eine fast ikonografische Stellung innehat. Auch Christopher McCool landet in einer Nervenheilanstalt. Doch die Natur seiner Irrungen bleibt in der Tiefe verborgen. Dabei werden dem Leser ständig neue, changierende Puzzleteile gereicht. Eine Kirche wurde geschändet, eine alte Dame kommt zu Tode, nachdem der Erzähler sie aufgesucht hat. Pädophile Neigungen schwingen mit und das viel beschworene häusliche Glück mit der Vesna Krapotnik weicht Szenen der Demütigung und der Gewalt. All dies wird in monologisierenden Schüben enthüllt, in den vergangene therapeutische Sitzungen einfließen. Christopher McCools Therapeutin heißt Meera Pandit und kommt aus Bangladesch:

    "- Warum haben Sie in der Kirche so etwas Furchtbares getan, Christopher? Glauben Sie, Sie könnten es mir sagen, Christopher?
    Zum Glück hatte ihr Ton jetzt etwas Gewinnenderes an sich.
    - Hätte er das Buch doch nur angenommen, Meera, das ist alles. Hätte er es doch nur angenommen – als ein Geschenk. Anstatt –
    - Anstatt ...? fragte sie zögernd.
    - Anstatt mich zu beleidigen, die kleine Niggersau!"

    Das fragmentierte Bewusstsein eines männlichen Erzählers lieferte schon die narrativen Strukturen für McCabes brillanten Roman "Winterwald". Der hatte einen dingfesten Kern: Er entführte seine Leser auf verstörende Weise in die Obsessionen und in die Selbstverleugnungsstrategien eines Kindermörders. Diesmal aber kreist ein Erzähler um sich selbst. "Die Heilige Stadt" vibriert von Themen und Motiven, die nicht zusammen geführt werden. So, wie der Protagonist, um mit Joyce zu sprechen, verzehrt wird von "verwundetem Stolz und gesunkener Hoffnung und genarrtem Verlangen" so wird der Leser genarrt von unerfüllter Geheimnistuerei. Auch alle Zaunpfähle, die in Richtung der Persönlichkeitsspaltung winken, helfen da nicht weiter:

    "Ja, so lief das damals. Leichtfertig wurde man ermutigt, seine Identität mit Hilfe von Drogen, alternativen Therapien und was nicht alles aufzulösen, sie auf den Kopf zu stellen, sie zu drehen und zu wenden, sich jeden Tag neu zu erfinden. Ohne dass jemand auch nur mit der Wimper zuckte. Nein, Mann, es kam nur darauf an, sich seinen Kick zu besorgen. Man konnte gleichzeitig jeder und niemand sein."

    Wo jeder alles sein kann, droht Beliebigkeit, und genau an dieser Beliebigkeit erstickt Patrick McCabes neuer Roman. Weglegen, Winterwald lesen.

    Literaturhinweis: Patrick McCabe: Die Heilige Stadt. Aus dem Englischen von Paula Abzieher und Hans-Christian Oeser. Rowohlt Verlag, 240 S. geb., 19,90 Euro