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Jahresrückblick 2011

Vom "Arabischen Frühling" über die Krise Europas bis hin zu den Skandalen und Skandälchen - der erste Kulturstaatsminister, den dieses Land hatte, und heutige "Cicero"-Chefredakteur hat die kulturellen Strömungen des Jahres 2011 aufmerksam verfolgt.

Michael Naumann im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 31.12.2011
    Stefan Koldehoff: Im Studio ist Stefan Koldehoff, guten Abend! Und wie immer am letzten Tag des Jahres wollen wir auch heute zurückblicken auf jene großen kulturellen Ereignisse und Strömungen, die das Jahr geprägt haben. Auch diesmal wieder mit einem Studiogast, von dem wir wissen und glauben, dass er das Jahr wach und aufmerksam begleitet hat als ehemaliger Verleger und erster Kulturstaatsminister, den dieses Land hatte, aber auch als Kulturjournalist und heutiger Chefredakteur des Magazins "Cicero" in Berlin: Guten Abend, Michael Naumann!

    Michael Naumann: Guten Abend, Herr Koldehoff!

    Koldehoff: Herr Naumann, ganz spontan, ohne lang nachzudenken: Drei kulturelle Ereignisse aus dem Jahr 2011, was fällt Ihnen spontan ein?

    Naumann: Spontan fallen mir Rezensionen ein, die ein Buch gefeiert haben, was de facto pornografisch ist und was zur Literatur hoch gejubelt worden ist. Das hat mich sehr bedrückt. Mir fällt natürlich ein die Geschichte um die Inhaftierung und Unterdrückung von Ai Weiwei, und im weitesten Sinne zum Kulturbegriff zählt, wie ich finde, der mediale Umgang mit dem Bundespräsidenten.

    Koldehoff: Auf einiges davon werden wir im Laufe der nächsten halben Stunde noch zurückkommen. Mit dem Buch meinten Sie Charlotte Roche?

    Naumann: Ja, natürlich. Aber Sie haben jetzt den Namen genannt.

    Koldehoff: Das muss ich ja. Was hat Sie geärgert?

    Naumann: Ganz einfach der Sachverhalt, dass es wunderbare neue Bücher in diesem Jahr gegeben hat, die nur ein Prozent der Aufmerksamkeit genossen haben der Kulturkritik, der Literaturkritik, ob positiv oder negativ, im Vergleich zu diesem Buch. Ich habe da mal reingeschaut und muss sagen: Also, eigentlich ist es nur ekelhaft.

    Koldehoff: Jetzt schenke ich Ihnen 30 Sekunden, um ein Buch zu loben, das man stattdessen lesen sollte!

    Naumann: Oh ja, und da bin ich sehr eigennützig, ich habe das in der ANDEREN BIBLIOTHEK herausgegeben und das gibt es jetzt bei dtv als Taschenbuch, und das ist Robert Olmstedt, "Der Glanzrappe". Ein fabelhaftes Buch über die Karriere eines jungen Mannes, der während des amerikanischen Krieges seinen Vater suchte und ihn dann schließlich auf den Schlachtfeldern von Gettysburg halb tot findet. Er stirbt dann auch. Aber diese Reise durch eine, ja, höllische Landschaft auf dem Rücken eines zauberhaften Pferdes könnte nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene verzaubern.

    Koldehoff: Damit hätten wir dann im werbefreien Deutschlandfunk den Werbeblock auch gleich zu Anfang abgehakt.

    Naumann: Soll ich mich jetzt entschuldigen, Herr Koldehoff, Sie haben mich gefragt.

    Koldehoff: Nein, nein, ich habe Sie aufgefordert, natürlich! Lassen Sie uns über das Jahr, das Kulturjahr 2011 sprechen! Wann hätte es das jemals zeitgleich gegeben: Während die Alte Welt, Europa, in die schwerste Krise seit Jahrzehnten taumelt und an der gemeinsamen Währung zu zerbrechen droht, erfindet sich ein Teil von Afrika neu. Herr Naumann, 1989 waren viele Menschen vom Ende der DDR und von der Geschwindigkeit, mit der es kam, überrascht. Haben Sie mit einem Umschwung in Nordafrika gerechnet?

    Naumann: Nein, das habe ich nicht, das haben auch die Nachrichtendienste nicht beziehungsweise sie ahnten, dass da was kommt, aber der unmittelbare Anlass war ja die Selbstverbrennung eines tunesischen Gemüsehändlers, der keine Lizenz mehr für seinen Stand bekam von der Regierung und verzweifelt war. Aber, Herr Koldehoff, ein bisschen habe ich den Eindruck, als ob wir im Westen uns ein kleines Kuchenstück abschneiden wollen von der Erhebung in diesen Ländern im Namen der Freiheit, indem wir auf "unsere" – in Anführungszeichen – Technik hinweisen, "unsere" Internet-, "unsere" Facebook-, "unsere" Twitter-Kultur. Tatsache ist aber, dass diese Aufstände in erster Linie nicht von Google gemacht worden sind, sondern von ganz traditionellen, hauptsächlich jungen Menschen, die das Gefühl, wie die letzte Beiträgerin aus Syrien ja auch richtig sagte, die das Gefühl hatten, dass ihnen mehr Freiheit gebührt. Und leider, wie ich damals schon befürchtet habe: Diese Wünsche sind nicht in der Form in Erfüllung gegangen, wie man es sich eigentlich erhoffen könnte. Das heißt, unser damaliger Enthusiasmus jetzt fast schon seit einem Jahr muss jetzt der Einsicht weichen, dass die Regime zwar ihre Spitzen ausgetauscht haben, aber dass die autoritären repressiven Strukturen cum grano salis weiter existieren.

    Koldehoff: Wenn Sie sagen, es waren nicht die aus dem Westen vielleicht importierten Technologien, die da eine Rolle gespielt haben: Hat denn die Kultur insgesamt eine Rolle gespielt? Man hört ja so gerne in Reden von Kulturpolitikern, wie Völker verbindend die Musik, die Oper, das Theater, die Kunst seien. Spielt so was in der realen Welt tatsächlich eine Rolle oder lügen wir uns da auch ein bisschen in die Tasche?

    Naumann: Nein, nein, das spielt natürlich eine Rolle. Schriftsteller wie Machfus und viele andere, man kann sogar zurückgehen in die 60er-Jahre, Fanon, die wieder gelesen werden in diesen Regionen, spielen eine Rolle und es ist auch auffällig, dass natürlich vor allem junge Intellektuelle als Studenten in erster Linie, die natürlich mit Literatur und den Künsten in Berührung geraten sind, als Anführer zumal auf dem Tahrir-Platz in Kairo das Wort ergriffen haben. Aber in letzter Instanz ist dieses Regime ganz offenkundig, das Mubarak-Regime, zwar nicht zusammengebrochen, sondern nur ersetzt worden, aber in die Krise geraten aufgrund der Mängelwirtschaft, aufgrund der Korruption, die von einer Bevölkerung, die zu wahrscheinlich 60 bis 70 Prozent analphabetisch ist, nicht mehr ertragen wurde. Aber das mögen Revolutionstheoretiker unter sich ausmachen. Eine Revolution, in der der Begriff von Freiheit nicht vorkommt, die hat es noch nicht gegeben.

    Koldehoff: Also kommt nicht mehr, erst das Fressen und dann die Moral' Also, haben durchaus Werte wie Freiheit, wie Aufklärung, wie Menschenrechte eine Rolle gespielt?

    Naumann: Ja, selbstverständlich. In erster Linie muss man allerdings auch bedenken, in Ägypten zu einem nicht unbeträchtlichen Teil Religionsfreiheit. Und das bedeutet aus unserer doch eher säkularen, aufgeklärten Perspektive die Freiheit, die Scharia, das heißt, die Rechtsprechung des Islam praktizieren zu dürfen, die Freiheit, auch Frauen wieder in eine Rolle zurückzudrängen, die sie in Kairo praktisch nicht mehr hatten und die ihnen jetzt droht. Also, in anderen Worten: Diese Arabellion hat sehr unterschiedliche Seiten. Und wie Zhou Enlai ja mal Kissinger geantwortet haben soll, als er ihn gefragt hat, was halten Sie von der Französischen Revolution, nun, da sei die Antwort gewesen, es ist noch zu früh, um das zu beurteilen.

    Koldehoff: Ist es vor dem Hintergrund denn eigentlich schlau, dass die auswärtige Kulturpolitik immer noch beim Außenminister angesetzt ist und nicht beim Kulturstaatsminister?

    Naumann: Das ist eine gute Frage, Herr Koldehoff. Ich wollte das ja vor elf Jahren ändern, aber da geht es dann immer doch auch um Machtperspektiven. Das heißt, der Außenminister hat dann eine große Behörde, die er zwar nicht persönlich dirigieren kann, weil es sich um einen eingetragenen Verein handelt, nämlich das Goethe-Institut, aber das gehört gewissermaßen mit zu den Dekorationen und Girlanden des Auswärtigen Amtes. Ich bin eigentlich der Meinung, viel besser wäre es, wenn dieses Institut völlig unabhängig von politischer Einflussnahme wäre, aber das geht nicht. Denn die Politik liefert gewissermaßen die finanziellen Grundlagen und will dann auch mitreden. Das geht manchmal schief.

    Koldehoff: Das zweite große Thema des Jahres hieß Europa. Ratingagenturen stuften Volkswirtschaften herab, Investmentbanker wetteten auf den Bankrott von ganzen Staaten, Regierungen mussten mit Milliardenkrediten andere Länder unterstützen und Griechenland schien das erste Land zu werden, das zahlungsunfähig sein könnte, nicht in der sogenannten Dritten Welt, sondern mitten in Europa. Dass dieses Europa für viele Griechen ein völlig abstrakter Begriff geblieben ist, das hat in "Kultur heute" Rüdiger Bolz beschrieben, der Leiter des Goethe-Instituts in Athen. Michael Naumann, stimmen Sie zu, ist man zu schnell vorgeprescht, was die Einigung von Europa angeht?

    Naumann: Also, Herr Safranski hat wie in vielen Fällen recht: Nationen, sagt Hans-Ulrich Wehler, der Historiker, sind Erinnerungsgemeinschaften. Das heißt, unsere Nachbarn zum Beispiel erinnern sich sehr gut an die Wehrmacht. Die Vorstellung, dass nach diesem wirklich blutigen Jahrhundert Europa und die Völker Europas unter einer gewissen Anstrengung ihre eigenen Geschichten und auch ihre Leidensgeschichten vergessen und zu einer Art fröhlichen Einheitsdemokratie oder gar Nation zusammenwachsen, wäre ja völlig illusionär und ist es auch. Es wird in Europa, davon bin ich fest überzeugt, niemals so etwas geben wie die Vereinigten Staaten von Amerika, und es wird auch nicht das geben, was Jürgen Habermas sich wünscht, eine Art transnationale demokratische Repräsentation in einem großen europäischen Parlament. Denn die Voraussetzung dafür wären dann auch transnationale Parteien, die gewissermaßen identisch wären. Also, eine Sozialdemokratie, die von Gibraltar bis zu den Lofoten gewissermaßen dieselbe Identität hat, was bekanntlich nicht der Fall ist, und umgekehrt sollte das dann auch für die anderen Parteien gelten. Das sollte es nicht geben und alle Hoffnungen darauf sind meines Erachtens nicht nur utopisch, sondern haben die unangenehmen Eigenschaften, dass, weil sie nicht realisierbar sind, die Skepsis zu Europa auch noch verschärfen. Das heißt, Safranskis doch sehr Common-Sense-geprägte Einschätzung, die Vielfalt der Nationen aufrechtzuerhalten und nur dort zu koordinieren, wo es unbedingt möglich ist – nicht nur nötig, sondern auch möglich, das ist ein kleiner Unterschied –, ist richtig. Und möglich ist meines Erachtens eine gewisse Koordinierung der Fiskalpolitik, aber gleichzeitig steht so einer Koordinierung die Souveränität und die Freiheit der Parlamente mitsamt ihrem Königsrecht der Budgethoheit im Wege. Und die Vorstellung, dass wir zum Beispiel gerade den Nationen, die gerade vor Kurzem erst die Freiheit errungen haben, nämlich den ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts, des Ostblocks, diese Freiheiten gewissermaßen abschwatzen und verlagern in ein europäisches Parlament, diese Vorstellung halte ich für verwegen, das werden wir zu Lebzeiten nicht erleben.

    Koldehoff: Also um Himmels Willen auch keine europäische Kultur, keine europäische Musik, keine europäische Literatur?

    Naumann: Aber Herr Koldehoff, die gibt es doch längst. Die gibt es doch längst. Das Einzige, was ich von der europäischen, also, das heißt, der Brüsseler Kulturpolitik erwarte, ist, dass sie einige Rechte schützt. Die Rechte der Autoren zum Beispiel im Internet, also, die Angriffe auf das Urheberrecht durch die Neuen Medien sind ja gewaltig, die Pflichten und Rechte selbstverständlich auch der übrigen Kulturinstitutionen, sofern sie durch die Wettbewerbskommission gefährdet werden. Das heißt, unter dem Stichwort Beihilfe möchte ja die eher liberal oder neoliberal organisierte Wettbewerbskommission zahlreiche Gratifikationen, die zum Beispiel der Rundfunk, Ihre Institution, aber auch in Frankreich die Zeitungen genießen, streichen. Das gilt alles als Beihilfe und insofern wettbewerbsverzerrend. In Wirklichkeit – und das trifft auch auf die Buchpreisbindungen zu – sind diese Institutionen uralt, haben sich bewährt, sind immer verbesserbar, aber Tatsache ist, dass wir aus Brüssel da keine positiven Impulse erwarten dürfen, weil das doch immer noch in erster Linie eine Wirtschaftsunion ist und nach wirtschaftsideologischen Maximen die Kulturlandschaft prüft. – Was ich mir wünschte von der Europäischen Union, ist, dass sie aus ihrem enormen Agrarfonds, der fast 80 Prozent der Ausgaben der Europäischen Union betrifft, ein paar%e abzweigt und die Übersetzung der kleineren Sprachen, dass sie die Übersetzung in andere Sprachen subventioniert. Das halte ich für sinnvoller als die Subvention von Kartoffeln und Milch.

    Koldehoff: Wie ohnehin die Situation der Literaturübersetzer, wir haben immer wieder darüber berichtet, dringend reformbedürftig wäre, oder?

    Naumann: Richtig, richtig, ja.

    Koldehoff: Ich bin erstaunt gewesen über den Brustton der Überzeugung, in dem Sie gerade gesagt haben, aber die haben wir doch längst, die europäische Kultur. Wenn man in die Buchhandlungen geht, dann sieht man hier die Skandinavienkrimis, man sieht dort die italienische Oper. Spielt nicht gerade in der Kultur das Lokale, Regionale, Nationale doch noch eine größere Rolle?

    Naumann: Ja, aber das ist ja Europa. Wir wissen doch, wo Italien liegt, wir wissen doch, wie in Schweden die Polizei funktioniert! Interessanterweise werden in Amerika Krimis in den Buchhandlungen unter Sociology abgelegt, das heißt, die finden Sie als mehr oder weniger triftige Einblicke in die Sozialstrukturen von Ländern in Amerika. Und in der Tat ist es so, wir wissen, glaube ich, mehr seit Sjöwall, Wahlöö über die schwedische Seelenlage zumal der Unterschichten und der Polizei als über unsere eigenen. Aber das sind doch wunderbare Gratifikationen der Europäischen Union und auch unserer Gemeinsamkeit, dass wir die Vielfalt genießen können! Wir könnten sie und sollten sie noch viel mehr genießen, wenn zum Beispiel die Filmförderung, die europäische, die es ja gibt, sich nicht so sehr zumal auf die französische Filmindustrie kaprizieren würde, was sie ja tut.

    Koldehoff: Es gab Skandale und Skandälchen in diesem Jahr 2011. Den um Politiker zum Beispiel, die sich von ihren Doktortiteln verabschieden durften, weil sie abgeschrieben statt selbst geschrieben haben. Oder den um den chinesischen Regimekritiker und Künstler Ai Weiwei, der zunächst ohne Begründung festgenommen und monatelang an unbekanntem Ort interniert wurde und gegen den die chinesische Regierung dann Steuervorwürfe konstruierte. Als er schließlich nach zweieinhalb Monaten wieder freigelassen wurde, brandete ihm eine Woge der Solidarität entgegen durch seine Landsleute, die nämlich halfen, ihm mit Spenden die angebliche Schuld zu begleichen. Herr Naumann, die Aufklärungsausstellung in China – haben Sie verstanden oder nachvollziehen können, warum sie nötig war?

    Naumann: Diese Idee, gewissermaßen einen, man möchte fast sagen, intellektuell-philosophischen Vorgang durch die Hausschuhe von Immanuel Kant zu illustrieren – die waren, glaube ich, auch unter den Exponaten –, habe ich immer schon für erstaunlich gehalten. Es war in Wirklichkeit einfach eine Ausstellung der Bilder, die im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland entstanden sind. Wunderbare Sachen, inklusive der Romantik. Aber die Frage ist, was soll das bewirken, wenn ich solche Bilder unter dem falschen Titel vorstelle? Ich glaube auch nicht, dass die großen Künstler, die dort ausgestellt worden sind, gemalt haben im Sinne der Aufklärung, sondern sie haben gemalt, so wie ihnen damals gewissermaßen der Zeitgeist – und das war nicht nur die Aufklärung –, respektive ihre eigene Biografie und ihr Welterlebnis es ihnen vorschrieb. In anderen Worten: Es war das Konzept, ein Zeitalter so zu repräsentieren, als ob es sich hier um Vorläufer der Revolution von 1848 handele, wahrscheinlich falsch. Im Übrigen will ich noch einmal darauf hinweisen: Wir haben nun schon seit anderthalb Jahren im deutschen Feuilleton, auch im Radio, immer nur von Ai Weiwei gesprochen und keiner reden mehr von Liu Xiaobo, dem Friedensnobelpreisträger, der in einem Gefängnis irgendwo in diesem Riesenreich verrottet. Seiner Frau geht es nicht besser oder nicht wesentlich besser, sie ist unter Hausarrest, soweit ich weiß. Und der Preisredner hier in Deutschland, Tilman Spengler, wurde ausgeladen und durfte auf, man muss fast sagen, Order des chinesischen Außenministeriums nicht mitreisen. Das war ein interessanter Fall: Wie verhält sich dann eine deutsche Kulturpolitik angesichts dieses Eingriffes in unsere eigene Freiheit, zu bestimmen, wer von uns aus Deutschland in China die Ausstellung mit eröffnen darf?

    Koldehoff: Kann man, sollte man kulturellen Austausch an Bedingungen knüpfen?

    Naumann: Ja. Also, auf alle Fälle, die erste Bedingung sollte sein, dass unsere Repräsentanten auch wieder zurückkommen und nicht inhaftiert werden oder gefährdet werden oder wie in anderen Fällen sogar mit dem Leben bedroht werden. Der zweite Punkt ist: Nein, ich glaube schon, wir sollten keine Bedingungen stellen. Da war diese Zwischenfrage mit Ai Weiwei und Tilman Spengler schon ein guter Prüfstein. Alle Dokumente einer Kultur, die unter freiheitlichen Bedingungen entstanden ist oder sogar gegen repressive Maßnahmen entstanden ist – denken Sie an Schostakowitsch –, alle diese Exponate und Dokumente und Zeugnisse von Kultur sind, gerade wenn sie unter solchen Umständen verbreitet werden, sicherlich, um mal ein Wort von Angela Merkel zu gebrauchen, hilfreich, hilfreich.

    Koldehoff: Ohne jetzt auf Zahlen und Klagen und Wiederklagen und Gutachten und Gegengutachten einzugehen: Werden wir alle die Eröffnung der Elbphilharmonie noch erleben?

    Naumann: Ja, ganz bestimmt. Also, ich bin jetzt 70, ich schätze, so mit 75, 76 werde ich dann die Gelegenheit haben, diese architektonische Pralinenschachtel – so empfinde ich sie – zu betreten. Aber das wird noch viele Jahre dauern, da bin ich fest von überzeugt.

    Koldehoff: Auch in diesem Jahr hat sich die Kulturwelt von Menschen verabschiedet, die sie unendlich bereichert haben und von denen an dieser Stelle nur an einige noch einmal erinnert werden kann: an die Autoren Jorge Semprun, Christa Wolf, Franz Josef Degenhardt, Václav Havel und Georg Kreisler zum Beispiel, an die Künstler Cy Twombly, Bernhard Heisig, Richard Hamilton, Roman Opalka, an den Filmproduzenten Bernd Eichinger, dem Medienunternehmer Leo Kirch, den Regisseur Sidney Lumet und viele andere. Worüber wird man in einem Jahr sprechen, wenn es dann um den Rückblick auf das Jahr 2012 geht, was wünschen Sie sich, was befürchten Sie?

    Naumann: Also, wenn ich diese Totenliste betrachte – ich kannte sehr viele von diesen Menschen –, hoffe ich erstens, dass es nicht noch einmal solche enormen Einbrüche geben wird, die mit dem Ableben dieser Menschen doch kulturell zu verzeichnen sind, erstens. Zweitens hoffe ich, dass wir in stabilen politischen und auch wirtschaftlichen Verhältnissen am Jahresende 2012 leben werden, dass sich die globalen Finanzkrisen in irgendeiner Art und Weise beruhigen, aber prinzipiell hoffe ich, dass wir weiter in Freiheit und in Frieden leben. Und natürlich auch in Gesundheit!

    Koldehoff: Das war der Jahresrückblick 2011 von "Kultur heute", Studiogast war Michael Naumann. Haben Sie vielen herzlichen Dank, Herr Naumann, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit uns auf dieses Jahr zurückzublicken!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.