Sonntag, 05. Mai 2024

Archiv


"Jedes Archiv auf dieser Welt birgt noch Geheimnisse"

Im März 2011 scheidet Marianne Birthler aus ihrem Amt. Im Interview reflektiert sie die Zusammenarbeit mit Ex-Stasi-Mitarbeitern, ungeöffnete Akten und politischen Widerstand gegen ihre Arbeit - die weltweit ihresgleichen sucht.

26.12.2010
    Jürgen König: Frau Birthler, Ihre jetzige zweite Amtszeit endet am 14. März 2011, Sie können nicht noch einmal gewählt werden. Beschleicht Sie nach über zehn Jahren im Amt als Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde auch so etwas wie Wehmut angesichts des bevorstehenden Ausscheidens aus dem Amt?

    Marianne Birthler: Ich glaube, die Frage würde ich lieber Anfang März beantworten. Im Moment bin ich überhaupt noch nicht mit meinem Abschied beschäftigt. Aber ich rechne damit, dass, wenn es so richtig ernst wird, ich so ambivalente Gefühle haben werde. Einerseits finde ich es schön, wenn jemand Neues in die Behörde kommt – mit frischem Blick, neuen Fragen. Andererseits ist solche Veränderung auch immer ein Abschied, auch von vielem mir Liebgewordenen, aber ich stelle mich schon ein bisschen darauf ein.

    König: Was ich mich gestern gefragt habe bei der Vorbereitung, wie das für Sie war, als Sie angefangen hatten - 2000, zum ersten Mal nun als Verantwortliche, die Sie selber zu DDR-Zeiten die Zensur kritisiert haben. Sie haben auf die brutalen Machenschaften des SED-Regimes hingewiesen – wie das war, als Sie als nun Hauptverantwortliche zum ersten Mal diese Aktenräume zum Beispiel betreten haben - das muss doch ein großer Moment gewesen sein.

    Birthler: Dieser Tag war unvergesslich für mich. An erster Stelle will ich nennen die Mitarbeiter, die Tag für Tag Akten lesen oder Tonbänder hören oder Videos hören, um sie nach den Regeln der archivischen Kunst zu erschließen und zugänglich zu machen. Und das geht schon unter die Haut. Also mich hat auch sehr interessiert, wie Menschen damit umgehen, wenn sie zunächst einmal ganz allein an ihrem Schreibtisch Tonbandaufnahmen von Verhören oder von Gerichtsverfahren und so. Das sind manchmal Eindrücke, die stärker unter die Haut gehen, als wenn man etwas liest. Und das war für mich doch sehr interessant, auch die Frage, wie meine Mitarbeiter damit umgehen. Wir haben nicht das Geld, unseren Mitarbeitern Coaching oder Supervision durchgängig zu bezahlen, was eigentlich nötig wäre bei diesem Stoff. Die Mitarbeiter müssen sich selber helfen, müssen einander beraten, denn sie müssen ja natürlich auch verschieden sein. Also sie können das nicht aufarbeiten in ihrem privaten Umfeld, das muss man hier machen. Und das hat mir auch großen Respekt eingeflößt gegenüber der Leistung unserer Mitarbeiter im Archiv.

    König: Eine große Belastung in der täglichen Arbeit, immer wieder neu sich damit auseinandersetzen zu müssen?

    Birthler: Ja, manche Herausforderungen sind ja Belastung und eine gute Erfahrung zugleich. Die Verantwortung ist mir sehr früh damals klar geworden für das Thema in der Öffentlichkeit. Unsere Behörde gilt für viele Menschen, insbesondere auch für die Opfer der SED-Diktatur, natürlich als eine Vertrauensinstanz, als etwas, das Wertvolles, was wir erreicht haben, damit sie ihr Schicksal rekonstruieren können. Und das ist mir alles besonders wichtig, diese Verantwortung insbesondere den Opfern gegenüber. Aber es gibt auch eine Verantwortung gegenüber der Wissenschaft, dass wir die Akten so zugänglich wie möglich machen, soweit es die Datenschutzregeln halt erlauben. Es gibt eine Verantwortung gegenüber der nächsten Generation, die wissen will, was war. Es gibt eine Verantwortung gegenüber den Debatten in der Öffentlichkeit, um diese ganzen schweren Themen, die mit der Vergangenheit zu tun haben – was wird mit den Opfern, was machen wir mit den Tätern, wie sichern wir das Wissen über die Diktatur, wie wird Versöhnung möglich? Das sind ja Fragen, die immer gestellt werden nach dem Ende einer Diktatur, und natürlich auch bei uns. Und ich begriff damals in den ersten Tagen, wie breit diese Aufgabe ist, die ich habe.

    König: Mit welchen Erwartungen von Opfern des SED-Regimes wurden und werden Sie konfrontiert, was können die Opfer erwarten, was aber auch nicht?

    Birthler: Ja, zunächst mal, um das beantworten zu können, muss man erst einmal kurz skizzieren, in welcher Situation sehr viele der Opfer der SED-Diktatur sind. Vielen geht es materiell nicht gut, sie leben in der Nähe des Existenzminimums, und dann ist es sehr bitter für sie, wenn sie erleben, dass diejenigen, die sie verhört haben, die die politische Verantwortung tragen für ihr Schicksal, solide Pensionen heutzutage kriegen. Und nicht nur das, sie sind auch nur in Ausnahmefällen veranlasst gewesen, sich zu rechtfertigen für das, was sie getan haben. Es hat kaum jemals jemand, der Verantwortung für die Verbrechen der Staatssicherheit hat, vor Gericht gestanden. Und all das ist bitter, auch die Tatsache, dass es Täterbiografien immer leichter haben, Aufmerksamkeit zu erregen, als die Geschichten der Opfer in der Öffentlichkeit. Und damit verbunden sind natürlich auch Erwartungen an unsere Behörde, dass wir da sind, dass wir den Stimmen der Opfer auch Raum geben, dass wir ihre Probleme transportieren, dass wir ihnen beistehen. Das können wir – bezogen auf die Akteneinsicht, das sehen wir auch als eine unserer Hauptaufgaben an. Wenn es allerdings um Opferberatung in einem engeren Sinne geht, darum, ihren Weg zu begleiten, dann vermitteln wir sie weiter an entsprechende Fachleute, an Landesbeauftragte, gelegentlich auch an Therapeuten oder Gruppen, in denen man sich über sein Schicksal austauschen kann. Also dieser Teil unserer Verantwortung, der ist mir sehr wichtig. Und ich weiß auch, dass auf mögliche Ideen, die manchmal so im politischen Raum bewegt werden, diese Behörde abzuwickeln, gerade in diesen Kreisen besonders empfindlich reagiert wird, weil sie sehen in uns auch so eine Art Garanten dafür, dass das Thema präsent bleibt.

    König: Sie haben ein Grundkonflikt schon angesprochen, nämlich diesen Dreieckskonflikt, zwischen den Interessen der Betroffenen, des Datenschutzes und der Öffentlichkeit, also der Forschung und der Medien. Das prominenteste Beispiel, an dem sich dieser Konflikt gut zeigen konnte, waren wahrscheinlich die Stasiunterlagen zum ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. Es gab Mitschnitte und Vermerke über abgehörte Telefongespräche. Kohl war zu jener Zeit in die CDU-Spendenaffäre verstrickt, musste sich mit dem Vorwurf der Käuflichkeit seiner Politik auseinandersetzen. Er hat mit allen juristischen Mitteln versucht, die Veröffentlichung seiner Akten zu verhindern, hat es am Ende nach vielerlei Gerichtsverfahren auch geschafft, nachdem zwischendurch ein neues Stasi-Aktengesetz beschlossen worden war, das Ihnen wiederum, die Sie auf die Veröffentlichung gedrängt hatten, mehr Zugriff ermöglichte. Haben Sie sich eigentlich jemals privat mit Helmut Kohl über diese Sache, über dieses Thema seiner Stasiakten unterhalten?

    Birthler: Privat nicht, aber natürlich als Amtsperson. Bevor dieser Konflikt dann die Gerichte erreichte, war ja schon klar, auch ihm klar, dass wir grundsätzlich keine Abhörprotokolle rausgeben und dass die Stasiunterlagen geöffnet werden für die Aufarbeitung der SED-Diktatur und nicht der Spendenpraxis westdeutscher Parteien. Das wusste er auch. Also es ging längst um die Frage, nach welchen Regeln werden denn die Unterlagen für die Forschung herausgegeben, wenn es um Personen der Zeitgeschichte geht. Und da weist das Gesetz so besondere Besonderheiten auf. Während bei Privatpersonen eine schriftliche Einwilligung der Betroffenen vorliegen muss, ist das bei Personen der Zeitgeschichte nicht erforderlich, soweit es deren öffentliches Wirken betrifft. Falls in den Akten etwas steht über das Privatleben oder über private Beziehungen oder über den Gesundheitszustand von Betroffenen, ist das tabu für alle. Aber wenn die Staatssicherheit Informationen gesammelt hat zu einer Person in der Rolle als Parteivorsitzender oder Bundeskanzler, dann sind diese Informationen kein Privateigentum. So ist dieser Rechtsstreit auch schließlich ausgegangen, das Bundesverwaltungsgericht hat dies anerkannt. Während Helmut Kohl wollte, dass sämtliche ihn betreffenden Informationen nur mit seiner persönlichen Genehmigung herausgegeben werden können, hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden: Nein, Personen der Zeitgeschichte haben das hinzunehmen, dass die betreffenden Unterlagen für die Aufarbeitung genutzt werden. Allerdings ist im Zusammenhang dieses Urteils dann die Latte etwas höher gehängt worden, so will ich das mal bezeichnen. Also die Regeln, nach denen wir arbeiten, die ohnehin ziemlich streng sind diesbezüglich, sind noch mal etwas verschärft worden, aber nicht so, dass dadurch Aufarbeitung unmöglich wird. Das wäre geschehen ohne eine weitere Novellierung des Gesetzes. Und da bin ich sehr froh, dass wir – auch in Anerkennung dieses wichtigen Urteils – es trotzdem noch möglich machen konnten, Akten weiter herauszugeben.

    König: Kennen Sie die Akten Helmut Kohls?

    Birthler: Ich kenne sie überblicksweise, ja natürlich. Ich musste mich ja damit auseinandersetzen, und wir haben sie ihm ja auch, also zumindest den Teil, den wir beabsichtigten, herauszugeben, gezeigt vorab. Und ich hatte eigentlich damals damit gerechnet, dass, wenn er das sieht, dass er dann sagt: "Frau Birthler, wo ist das Problem, kann alles raus". Aber es ist ein bisschen anders gekommen, der Rechtsstreit hatte sich dann irgendwie verfestigt. Das hat – ich will nicht spekulieren –, aber das womöglich auch damit zu tun, dass Helmut Kohl, das hat er ja auch öffentlich gesagt, eigentlich nie ein Freund der Aktenöffnung war.

    König: Medienberichten zur Folge soll Otto Schily, damals Bundesinnenminister, Ihnen angedroht haben, per rechtsaufsichtlicher Weisung die Herausgabe der Kohl-Akten zu verhindern. Stimmt das?

    Birthler: Ja, das ist ein prima Beispiel, dass das Stasi-Unterlagengesetz doch sinnvolle Regelungen enthält. Zum Beispiel die, dass ein einzelner Minister keinen Einfluss darauf hat, welche Akten wir herausgeben und welche nicht. Wir sind dem Gesetz verpflichtet und dem Bundestag Rechenschaft schuldig. Das Bundeskabinett als Ganzes hat die Rechtsaufsicht. Wenn also ein Verdacht bestünde, dass ich gesetzwidrig handle, dann müsste man einen Kabinettsbeschluss herbeiführen, um die Arbeit hier zu korrigieren. Aber davon waren wir ja weit entfernt, ich habe mich eng an das Gesetz gehalten, das war so etwas, wie eine goldene Regel in all den Jahren. Deswegen wäre eine Initiative, einen Kabinettsbeschluss herbeizuführen, in die Irre gegangen. Das war die persönliche Meinung von Otto Schily, und die hat er versucht, mit etwas Druck dann auch durchzusetzen. Aber da war das Gesetz davor.

    König: Otto Schily stand im Ganzen ja ohnehin sehr skeptisch gegenüber. Er hatte sich einmal geäußert, dass hier noch "revolutionäres Recht" gelte. Was genau waren seine Probleme mit der Stasi-Unterlagenbehörde?

    Birthler: Also ich kann es nicht genau sagen, ich kann nur Vermutungen anstellen. Und er ist meiner Ansicht nach nicht der einzige – ich sage jetzt mal in Klammern – westdeutsche Jurist, für den das Stasi-Unterlagengesetz immer fremd geblieben ist, wie so ein Findling oder wie so ein Meteorit von einem anderen Stern, der in der Bundesrepublik eingeschlagen ist und man muss es irgendwann wieder wegkriegen. Er hat es akzeptiert für eine Weile, daher kommt der Begriff "Revolutionsrecht". Aber vielleicht haben einige Leute nicht wirklich verstanden, dass mit der friedlichen Revolution 1990, auch rechtlich gesehen, Neues in die Welt gekommen ist. Wir haben ja wirklich juristisches Neuland betreten. Es ist weltweit und historisch ja noch nie vorgekommen, dass die Hinterlassenschaft der Geheimpolizei einer Diktatur nicht nur nicht vernichtet wird, sondern auch noch zugänglich gemacht wurde. Und das ist, wenn Sie so wollen, eine der wenigen auch rechtlichen Veränderungen in der Bundesrepublik nach 1990 gewesen. Und wer Mühe damit hat, zu sagen, die Bundesrepublik ist auch nicht mehr diejenige, wie sie früher war, der reibt sich natürlich auch an diesem Gesetz.

    König: Sie mussten sich, Frau Birthler, immer wieder mit dem Vorwurf auseinandersetzen, das Ausmaß der von Ihrer Behörde beschäftigten ehemaligen Stasi-Mitarbeiter unterschätzt oder gar verschwiegen zu haben. Sie haben dann Zahlen dazu genannt. Unter den knapp 2000 Mitarbeitern der Behörde, so liest man, seien 52 hauptamtliche frühere Stasi-Mitarbeiter. Davon seien 41 im Wachdienst beschäftigt, 11 ehemalige Stasi-Offiziere seien aus fachlichen Gründen eingestellt worden. Was konkret tun diese Fachkräfte?

    Birthler: Also zunächst mal, verschweigen konnte ich gar nichts, weil dieses Thema bereits im Zusammenhang mit der Gründung der Behörde bekannt war. Als ich die Behörde übernommen habe, wusste ich, dass hier auch eine bestimmte Anzahl von Mitarbeitern arbeitet, die früher beim MfS angestellt waren, ganz überwiegend Leute, die in der DDR Personenschützer waren, dann vom Bundesministerium des Inneren noch vor Gründung der Behörde in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik übernommen wurden und dann eingesetzt wurden zur Überwachung der Liegenschaften hier. Also, wenn Sie so wollen, hat Jochen Gauck die schon vorgefunden. Hinzu kam eine kleinere Anzahl von Mitarbeitern, die bereits zur Zeit der Bürgerkomitees nach der Besetzung der Dienststellen der Staatssicherheit sich bereit erklärt haben, bei der Aufarbeitung mitzuhelfen. Die sind dann später – und das ist ja kontrovers diskutiert worden – in die Behörde übernommen worden, zunächst befristet und später wurden dann ihre Arbeitsverträge entfristet. Das Problem daran ist weniger, dass man diesen Mitarbeitern jetzt nicht trauen kann. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese Stellung missbraucht wurde. Das Problem ist für mich, dass ich den Besuchern, den Antragstellern unserer Behörde gerne sagen würde, hier arbeitet niemand, der früher bei der Stasi war. Denn es handelt sich zum einen um traumatisierte Leute, zum anderen um Menschen, die auf dieser Ebene besonders empfindlich sind. Und ich hätte mir gewünscht, dass diese Personalentscheidungen damals anders getroffen worden wären. Aber wie gesagt, als ich das Amt übernahm, waren sie schon irreversibel getroffen worden.

    König: Haben Sie die Sorge, dass in Ihrer Behörde noch unentdeckte Seilschaften ehemaliger Stasi-Leute existieren – die natürlich vielleicht nicht mehr aktiv sind, aber existieren und voneinander wissen – und außerhalb weiß niemand davon?

    Birthler: Also, ich habe darüber keine Erkenntnisse. Was ich kenne, sind Fantasien zu diesem Gesichtspunkt und deswegen habe ich mich natürlich dafür auch interessiert und habe keinen Anhaltspunkt dafür gefunden. Von Anfang an war die Behörde insofern untypisch, als hier Leute aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen auch der DDR zusammenkamen. Das hatte ja auch mit dem Druck zu tun, der vonseiten der Bundesregierung kam. Die hatten unzählige Mitarbeiter aus der Administration der DDR auch in den öffentlichen Dienst übernommen, und als die Behörde dann aufgebaut wurde, haben sie auch verlangt, dass ein Teil dieses Personals hier übernommen wurde, sodass es durchaus möglich ist, dass hier in einem Sachgebiet Leute zusammenarbeiten, die früher die Stasi-Dienststellen besetzt haben und andere, die zum gleichen Zeitpunkt im Innenministerium der DDR gearbeitet haben. Und das ist eine ganz schöne Herausforderung auch, damit umzugehen. In vielen Fällen ist es gut gegangen. Die Leute sind ins Gespräch gekommen, auch jene, die früher der Opposition überhaupt nicht nahe standen, eher das Gegenteil. Sie sind natürlich durch die Auseinandersetzung mit diesem Thema in 20 Jahren auch klüger geworden. 20 Jahre sind viel und können in den Köpfen der Leute viel machen. Und da gibt es natürlich bei uns Mitarbeiter, die sehr engagiert sind, sehr identifiziert auch mit dem, was wir tun, die ganz verschiedene Geschichten hatten, und Leute, bei denen ich sage, vielleicht wäre es ganz gut, wenn ihr mal einen anderen Job hättet, was schwierig ist, die auch aus ganz verschiedenen Bereichen kommen.

    König: Das Thema Stasi-Zuträger aus dem Westen – auch dieses Thema wurde viel diskutiert. Es hat den Fall Karl-Heinz Kurras gegeben – vielleicht das auch prominenteste Beispiel, was das angeht –, jener Kriminalbeamte, der 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss und über den sich dann plötzlich herausstellte, dass er jahrelang IM der Stasi, auch Mitglied der SED gewesen war. Und damals haben sich alle gefragt: Warum hat man das überhaupt erst jetzt herausgefunden? Und es wurde dann untersucht. Viele Forscher haben sich da in Zeitungsartikeln, im Radio, im Fernsehen dazu geäußert und haben zum Beispiel beklagt, dass Akten über Stasi-Arbeit im Westen relativ restriktiv nur herausgegeben werden, dass also der Vorwurf erhoben wurde, die Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR halte damit ein bisschen hinter dem Berg zurück ...

    Birthler: Na ja, das wird ja durch Wiederholungen nicht richtiger, dieser Vorwurf. Zum einen, auch wenn mancher das anders darstellt, das Thema Westarbeit der Stasi gehört zu unseren Schwerpunktthemen. Wir haben schon zahlreiche Veröffentlichungen zu diesem Thema vorzulegen. Wir haben manche große Projekte, beispielsweise das Thema ARD oder Stasi, Springer und Stasi, haben wir sehr aktiv und intensiv unterstützt. Da sind interessante Publikationen entstanden. Das große Problem bei der Aufarbeitung der Westarbeit der Staatssicherheit ist, dass dort die Aktenbestände am stärksten verloren gegangen sind. Die zuständige Abteilung der Staatssicherheit, die HVA, durfte sich noch Anfang 1990 selber auflösen mit dem erwartbaren Ergebnis, dass der große Teil der Akten bei dieser Gelegenheit verloren gegangen ist. Und dann gibt es eben das Problem, dass wir Unterlagen zu inoffiziellen Mitarbeitern nur herausgeben dürfen – das gilt ja immer –, wenn sich aus den Akten unzweideutig ergibt, dass jemand willentlich und wissentlich Berichte an die Stasi gegeben hat. Wenn Sie aber die Akten nicht haben und nur eine Karteikarte, dann ist dieser Nachweis schwierig. Das ist natürlich für Wissenschaftler, die zu dem Thema arbeiten, unbefriedigend. Das verstehe ich gut. Aber im Einzelfall, wo es um den Nachweis einer IM-Tätigkeit geht, dann stehen wir leider manchmal an der Grenze, weil wir unzureichend Akten haben. Am guten Willen liegt es ganz bestimmt nicht.

    König: Dieser Fall Karl-Heinz Kurras wurde von Helmut Müller-Enbergs, einem Ihrer Mitarbeiter, veröffentlicht (*). Kann die persönliche Profilierung einzelner Historiker ein Problem werden?

    Birthler: Sie wissen ja, dass ich nicht über einzelne Mitarbeiter hier spreche, und schon gar nicht öffentlich. Aber natürlich, jeder Wissenschaftler hat Ehrgeiz. Und die Kultur einer Behörde, in der man auch in einer Hierarchie ist und Vorgesetzte hat oder so, die ist manchem Wissenschaftler fremd. Unter anderen Umständen arbeitet man auf eigene Rechnung, hat das auch selber zu verantworten. Und Behördenkultur und Kulturen von Forschern, die muss man manchmal mühsam miteinander verknüpfen. Das gelingt nicht in jedem Einzelfall.


    König: Viele haben sich ja damals bei diesem Fall Kurras gewundert, welche überraschenden Entdeckungen da überhaupt noch möglich sind. Halten Sie weitere derart herausragende Enthüllungen noch für denkbar?

    Birthler: Jedes Archiv auf dieser Welt birgt noch Geheimnisse, die noch keiner kennt. Und das ist bei uns natürlich auch der Fall.

    König: Es gibt immer noch Aktenmeter, die noch niemand je gesehen hat?

    Birthler: Ja. Durchaus. Das ist aber, wenn Sie so wollen, archivüblich. Die Akten werden erschlossen. Und diejenigen, die erschließen, sind ja nicht diejenigen, die den Inhalt bewerten und auch sofort sagen können, das ist jetzt aber für alle Welt interessant und jenes nicht. Vor wenigen Jahren hat ein Autor das Buch veröffentlicht "Wer erschoss Benno Ohnesorg?", wo es um Karl-Heinz Kurras ging. Und jetzt, nachdem diese Akte aufgetaucht war, konnte er selber nicht verstehen, dass er nicht auf die Idee gekommen war, mal nachzufragen, ob es zu Karl-Heinz Kurras eine Stasi-Akte gab. Er hätte sie bekommen.

    König: Wie ist es eigentlich zu erklären, dass keine der großen Parteien des Westens, der ehemaligen Bundesrepublik, jemals ihre eigene Geschichte auf Stasi-Verwicklungen hin untersucht hat? Auch das Deutsche Parlament hat das ja nicht gemacht. Bundestagspräsident Lammert hat das jetzt sozusagen in Auftrag gegeben. Auch da haben sich viele verwundert gefragt: Wie denn, jetzt erst? Wie ist das zu erklären?

    Birthler: Ja, weil 20 Jahre einem als eine so lange Zeit erscheinen. Auf der anderen Seite, wenn ich es vergleiche mit anderen Gesellschaften, in denen Diktatur aufgearbeitet wird, sind 20 Jahre eine kurze Frist. Also, ich glaube, dass diese Fragen, die Sie eben genannt haben, noch auf die Tagesordnung kommen. Die ARD hat begonnen mit einer großen Studie, Axel Springer folgte. Die Charité hat jetzt ihre Geschichte aufgearbeitet. Und ich glaube, dass das an den Parteien auch nicht vorbeigehen wird. Viele scheuen sich vielleicht, weil sie befürchten, es geht bei solchen Studien immer nur um die Frage, wer hat für die Stasi gearbeitet und wer nicht. Aber das wird dem Thema nicht gerecht. Es geht um viel mehr, nämlich herauszufinden, was das Interesse der Staatssicherheit war, was das Interesse der SED auch in diesem Zusammenhang war, was sie versucht haben, was ihnen geglückt ist, was ihnen nicht geglückt ist. Auch die vielen Geschichten der Menschen, die sich dem Zugriff der Staatssicherheit entzogen haben, als die Staatssicherheit das versucht hat, das ist alles eine sehr komplexe und interessante Geschichte, die es sich lohnt aufzuarbeiten.

    König: Kann es sein, dass wir ohnehin in der öffentlichen Debatte zu sehr fokussiert sind auf diese prominenten Einzelfälle? Es hat ja immer wieder die großen Debatten gegeben. Über Gregor Gysi wurde und wird gestritten. Manfred Stolpe war so ein Fall, der sich monate-, jahrelang durch die Öffentlichkeit zog, dass wir aber weniger drauf achten, auch vielleicht zu sehr auf die IM-Tätigkeit der Stasi-Spitzel schauen und weniger zum Beispiel auf die SED, die ja letztendlich hinter dem Ganzen stand und vielleicht auch wirkungsmächtiger noch war als die Stasi selber?

    Birthler: Da bin ich ganz nah bei Ihnen. Also, ich verstehe ja, dass die Öffentlichkeit wissen will, was war mit den bekannten Politikern los. Das wird auch immer wieder ein Thema bleiben. Aber erstens ist es sehr wichtig zu wissen, wie hat die Stasi sozusagen das Leben ganz normaler Leute beeinflusst. Das bringt manchmal viel interessantere Erkenntnisse, diese Frage, als nur die nach den Promis. Und zum zweiten geht es in der Tat nicht nur darum, wer hat seine Mitmenschen verraten, sondern auch darum: Wer hat widerstanden? Wer hat Nein gesagt? Das finde ich besonders interessant. Es waren ja nicht alles Dissidenten. Es gab beispielsweise auch eine große Zahl von Parteimitgliedern, die an einer Stelle sagten: Ich mache ja viel mit, aber Spitzel werde ich nicht. Und dann, das andere Thema, das Sie angesprochen haben, ist ebenso wichtig. Wir machen schon seit vielen Jahren darauf aufmerksam, die Staatssicherheit war Dienstleister, und zwar der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED, der führenden Partei. Und es ist, wenn man die DDR verstehen will, absolut notwendig, diese Verbindung zwischen SED und Staatssicherheit zu untersuchen und zu wissen, dass die politische Verantwortung für das, was in der DDR geschah, nicht bei der Stasi lag, sondern bei der SED.

    König: Alles zusammen genommen, es hat ja Pläne gegeben – wie schon angesprochen –, die Stasi-Unterlagen zu vernichten. Dieses geschah nicht. Man entschloss sich zur Aufarbeitung des Materials. Was glauben Sie, wie hat diese Stasi-Unterlagen-Behörde Deutschland verändert?

    Birthler: Das Wichtigste scheint mir, dass wir mithilfe der zugänglichen Akten ein sehr, sehr wichtiges Mittel haben, Geschichtslügen zu widerlegen, Menschen zu ermöglichen, ihr eigenes Schicksal zu rekonstruieren. Schauen Sie, inzwischen haben ungefähr 1,7 Millionen Menschen nach ihren Akten gefragt. Auch wenn wir bei ungefähr der Hälfte dieser Antragsteller nichts gefunden haben, ist doch jeder einzelne Antrag auf Akteneinsicht mit Überlegung verbunden, mit Gesprächen, mit Nachdenken, will ich es wissen oder warte ich noch. Das heißt, es sind 1,7 Millionen Entscheidungen gegen das Schweigen. Und Interventionen in die Teams hinein, in die Familien hinein, wenn man Post von der Behörde bekommt, spricht man darüber: Guck mal, die haben was gefunden, schau mal, was das ist. Also die Möglichkeit des Aktenzugangs ist – glaube ich – sehr wirkmächtig gegen die Tendenz, die Decke des Vergessens über die Vergangenheit zu breiten. Das halte ich für das Wichtigste, und eben auch, dass wir mithilfe der Akten eine sehr zuverlässige Quelle haben, auch Fakten zu klären, Geschehnisse zu klären und denen etwas entgegen zu setzen, die immer noch versuchen, die DDR in rosaroten Farben zu malen.

    König: Und auch, dass der Westteil des Landes sich mit diesen Jahrzehnten intensiver auseinandersetzt, als das bisher der Fall war.

    Birthler: Absolut. Und das geschieht ja zu meiner Freude auch zunehmend. Das ist jetzt schon seit einigen Jahren deutlich zu beobachten, dass allmählich auch aus westlicher Perspektive dieser Teil deutscher Geschichte auch als eine gemeinsame Geschichte angesehen wird. Es wird immer sichtbarer, auch mit fortschreitender Forschung. Und hinzu kommt natürlich, dass von 49 an auch über die 40 Jahre der DDR Millionen Menschen von Ost nach West gegangen sind. Und sie und ihre Kinder und Kindeskinder haben auch ostdeutsche Wurzeln. Das sind zum Teil auch Geschichten, die sich in den Akten spiegeln. Also, es gibt ja gar nicht die scharfe Trennung zwischen DDR und Bundesrepublik. Die Staatssicherheit jedenfalls hat sich durchaus auch zuständig gesehen für den Westen. Sie hat nicht nach Ost und West unterschieden, sondern nach Freund und Feind. Und davon gab es im Osten und im Westen beides.

    König: Frau Birthler, ich danke Ihnen sehr.

    (*) Der Beitrag wurde am 11. Januar 2011 neu editiert: Die schriftliche Wiedergabe des Interviews weicht nach einer Kürzung an dieser Stelle von der ursprünglich gesendeten Fassung ab.