Sonntag, 05. Mai 2024

Archiv


Jenseits von Kansas

Was für uns die Grimmschen Märchen sind, das waren seit Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA Lyman Frank Baums Erzählungen "The Wonderful Wizard of Oz", "Der Zauberer von Oz", die Abenteuer der kleinen Dorothy und ihres Hündchens Toto.

Ein Beitrag von Siggi Seuß | 25.06.2011
    Mitten in der weiten Landschaft von Kansas lebte Dorothy bei ihrem Onkel Henry, einem Bauern, und seiner Frau, der Tante Em. Das Haus, in dem sie wohnten, war nur klein, denn die Stämme und Balken, aus denen es errichtet war, hatten meilenweit herangefahren werden müssen.

    Auch bei uns haben diese Abenteuer in den vergangenen Jahrzehnten viele Anhänger gefunden - wobei man die Fangemeinde allerdings zweiteilen muss: In den alten Bundesländern war und ist immer noch die amerikanische Ursprungsgeschichte aus dem Jahr 1900 die bekanntere. In den neuen Ländern jedoch bevorzugen junge und alte Leser - wie schon zu DDR-Zeiten - immer noch Alexander Wolkows eigenständige Interpretation des amerikanischen Vorbilds. Sie wurde Anfang der 1990er Jahre vom Leipziger LeiV-Verlag in gekürzter Fassung wieder aufgelegt.

    "Ich dachte zuerst, dass der "Zauberer von Oz" die Kopie sei und das sei das Original ... "

    ... meint Mone, die in der DDR aufgewachsen ist, zu Wolkows "Der Zauberer der Smaragdenstadt".

    In der weiten Steppe von Kansas lebte ein kleines Mädchen namens Elli. Ihr Vater, der Farmer John, arbeitete den ganzen lieben Tag auf dem Felde, Mutter Anna führte die Wirtschaft. Sie wohnten in einem kleinen Packwagen, dem man die Räder abgenommen hatte.

    Alexander Wolkow, 1891 in Sibirien geboren, war Professor für Mathematik an einer Moskauer Universität. Anfang der 1930er-Jahre lernte er Baums Erzählungen kennen und fand an ihnen Gefallen. Er übersetzte den "Zauberer von Oz" ins Russische und arbeitete später die Handlung zu einer eigenständigen Geschichte um. 1939 erschien "Der Zauberer der Smaragdenstadt". Die Auflagen in der Sowjetunion gingen in die Hunderttausende und animierten Wolkow dazu, Anfang der 1960er-Jahre noch fünf Folgebände zu schreiben, die die Eigenständigkeit seines Werks inhaltlich, dramaturgisch und stilistisch untermauerten und zudem von Leonid Wladimirski (der heute noch, 90-jährig, in Russland lebt) liebevoll illustriert wurden. In den Staaten des Ostblocks wurden die Abenteuer von Elli (später von ihrer kleinen Schwester Ann) und dem Hündchen Totoschka im Wunderland von Jung und Alt geliebt. Bereits zu DDR-Zeiten hatte Lazar Steinmetz das sechsteilige Abenteuer ins Deutsche übertragen und dabei den heute etwas altbacken klingenden Erzählton Wolkows bewahrt.

    "Ich hab "Urfin und die Holzsoldaten" zuerst gelesen und danach erst den ersten Band und dann alle hinterher verschlungen, was offensichtlich deswegen war, weil es einfach sehr spannend war. Ich weiß nur noch, wie er die Holzsoldaten erschaffen hat und wie sie nachher, am Ende des Buches, freundlich wurden, weil man ihnen freundliche Gesichter schnitzte und dass sie vorher so grässlich waren, weil sie eben so grimmige Gesichter hatten."

    "Was ich sehr faszinierend fand, waren die verschiedenen Welten, die es dort gab…"

    ... erinnert sich Daniel ...

    "Was auch schade ist, dass im Taschenbuch die Bilder nicht bunt sind. In meiner Erinnerung sind sie bunt, zumindest."

    "Ja, doch, die Bilder waren schon wichtig. An die Bilder erinnere ich mich auch nach wie vor, wenn ich die jetzt wiedersehe. Die sind ja wirklich ganz freundlich und liebevoll, dass man eigentlich überhaupt keine Angst haben muss, zum Beispiel vor dem Löwen, der eigentlich ja ziemlich schrecklich ist."

    Leider fehlt in den jetzt erschienenen Taschenbuchbänden die Wunderland-Orientierungskarte der ersten deutschen Ausgaben. - Im ersten Band - "Der Zauberer der Smaragdenstadt" - hält sich Wolkow noch an den von Baum vorgegebenen erzählerischen Hauptstrang, auch wenn er die familiären Verhältnisse des Mädchens ändert und die Namen der Geschöpfe und Herrschaftsgebiete im Wunderland: Ein von einer bösen Hexe losgelassener Wirbelsturm fegt über die Steppe Kansas' und reißt die Hütte, in der sich Elli und das Hündchen befinden, mit sich. Die Hütte fliegt in jenen Teil des Wunderlands, der von kleinen Menschen, den Käuern, bewohnt wird, und tötet bei der Landung eben jene böse Hexe. Elli und Totoschka sind unversehrt und machen sich auf dem Weg in die Smaragdenstadt, ins Zentrum des Landes, zum legendären Großen Zauberer, der sie wieder in die Heimat befördern soll. Bei Baum heißt er Oz, bei Wolkow James Goodwin. Unterwegs schließen sich den beiden drei seltsame sprechende Wesen an: eine Vogelscheuche, die darunter leidet, kein Hirn zu haben, ein Holzfäller aus Eisen, der ein Herz sucht und ein Löwe, dem es an Mut fehlt. Alle erhoffen sich vom Großen Zauberer die Lösung ihres Problems. Und, wie wir wissen, werden alle zufriedengestellt, auch wenn sich der Große Zauberer als ziemlich kleiner Mann entpuppt, der um sich einen Riesenpopanz aufgebaut hat, um seine Untertanen zu beeindrucken.

    Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche", erwiderte das Männlein mit bebender Stimme.

    "Aber bitte, bitte, rührt mich nicht an. Ich will alles tun, was ihr verlangt."


    Baums moralische Botschaften im "Zauberer von Oz" konzentrieren sich auf die Tugenden der Hauptfiguren, die Entzauberung des Pompösen und den nie in Frage stehenden Sieg des Guten. Auch Wolkow lässt am Sieg des Guten keinen Zweifel. In seinen fünf Folgegeschichten erschafft der russische Autor eine außerordentlich bunte und reichhaltige Fantasiewelt jenseits von Kansas: Das Wunderland besteht aus dem Blauen und dem Gelben Land mit dem Volk der Käuer, dem Violetten Land mit dem Zwinkerern, dem Rosa Land mit dem Volk der Schwätzer, einem Gebirge, in dem das Volk der Marranen lebt, und schließlich gibt es noch das geheimnisvolle unterirdische Reich der Erzgräber, mit gleich sieben Königen, die alle gleichzeitig regieren wollen.

    Wer nur einigermaßen erahnt, unter welchen politischen Verhältnissen Wolkow schrieb, findet nicht nur im Subtext überall satirische Spitzen gegen die Diktatur von Anmaßung und Dummheit. Die Geschichten wurden wahrscheinlich nur deshalb für den Schriftsteller nicht gefährlich, weil sie ja im kapitalistischen Amerika siedelten und nicht vor der eigenen Haustür. - In Band zwei, zum Beispiel, lässt Wolkow den bösartigen Tischler Urfin ein ganzes Heer von Holzsoldaten und Holzpolizisten zum Leben erwecken, die durchaus KGB-Qualitäten aufweisen und für einige Zeit die Smaragdenstadt erobern.

    Urfin beschloss, eine Polizeitruppe aufzustellen, die die Leute bespitzeln und die Unzufriedenen festnehmen sollte. Die Soldaten waren ihm für dieses Amt zu ungeschickt. Er fertigte den ersten Polizisten an und beauftragte seine Gehilfen, ihn bei der weiteren Arbeit als Modell zu benutzen. Binnen kurzer Zeit überschwemmte die Polizei Stadt und Land.Die Polizisten waren dünner und schwächer als die Soldaten, hatten aber lange, flinke Beine und riesige Ohren zum Horchen.

    Elli wird von einer schlauen Krähe über Urfins Eroberungszug informiert, reist wiederum, dieses Mal mit ihrem Onkel, einem einbeinigen Seemann, ins Wunderland, gründet eine Befreiungsarmee, bestehend aus ihr, dem Onkel, dem Eisernen Holzfäller und Freund Löwe. Löwe, Holzfäller und der Weise Scheuch sind nun selbst volksnahe Regenten im Wunderland geworden, James Goodwin jedoch, der ehemalige Herrscher der Smaragdenstadt, arbeitet inzwischen als Gemischtwarenhändler in Ellis Nachbarschaft und ist der Abenteuer müde.

    Der Sieg des Guten und Klugen ist trotzdem nur eine Frage der Zeit - und im übrigen auch der Ausdauer der Leser: Als der Leipziger leiV-Verlag Anfang der 1990er Jahre eine um einige Wiederholungen gekürzte Fassung der Geschichten präsentierte, begehrten die Fans auf. Fischer Schatzinsel veröffentlicht nun die ungekürzten Ausgaben und leiV legt die Ursprungsfassung als Hardcover wieder auf.

    Auch im dritten und im vierten Band erzählt Wolkow überaus spannend und gewitzt. "Die sieben unterirdische Könige" handeln von den chaotischen Verhältnissen unter der Erde des Wunderlands, die zu einer Gefahr für oben und unten zu werden drohen. In "Der Feuergott der Marranen" sind seit
    Ellis erstem Besuch im Wunderland zehn Jahre vergangen. Der böse Urfin macht sich das Volk der Marranen gefügig, um noch einmal den Versuch zu wagen, Herrscher über das gesamte Zauberreich zu werden. Ann, Ellis kleinerer Schwester, ihr bester Freund und ein Enkelhündchen Totoschkas eilen auf mechanischen Mauleseln zu Hilfe, und wiederum wird, dank einer konzertierten Aktion zwischen Menschen und Fantasiewesen, das Gute im Wunderland gerettet. Elli ist inzwischen für derlei Abenteuer zwar zu alt - sie besucht sinnigerweise bereits das College und möchte Lehrerin werden. Aber was ist schon die Schule im Vergleich zu einem, sagen wir mal: Praktikum im Wunderland? Diese Botschaft könnte am Ende der zeitlosen Geschichten stehen. Wir wünschten uns nur noch solch einsichtige Eltern wie die von Elli und Ann:

    "Elli ist doch viel länger als ein Jahr der Schule ferngeblieben. Dabei hätten sich viele Kinder, was das Lernen angeht, ein Beispiel an ihr nehmen können! Was sie gesehen und erlebt hat, wiegt gewiss viele Schuljahre auf ..."

    Vier von sechs Bänden der Abenteuer von Elli und Ann im Wunderland:sind bei Fischer Schatzinsel - ungekürzt - mit schwarzweißen Illustrationen von Leonid Wladimirski in der Übersetzung von Lazar Steinmetz als Taschenbuch erschienen:

    Der Zauberer der Smaragdenstadt, 308 Seiten, 7,95 Euro
    Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten, 364 S, 7,95 Euro
    Die sieben unterirdischen Könige, 360 S., 7,99 Euro
    Der Feuergott der Marranen, 366 S., 7,99 Euro


    Beim leiv-Verlag sollen demnächst die ungekürzten Geschichten als Hardcover wiederaufgelegt werden.

    Zum Vergleich:
    L. Frank Baum: Der Zauberer von Oz
    Übersetzt von Sybil Gräfin Schönfeldt, illustriert von Heike Vogel.
    Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 2003, 188 S., 7,50 Euro