Dienstag, 19. März 2024

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Judith Holofernes "Ich bin das Chaos"
"Wir leben in einer Erzählung"

Judith Holofernes´ zweites Soloalbum nach "Wir sind Helden" ist melancholischer ausgefallen als das erste. Im Deutschlandfunk erzählt die Sängerin von ihrem Hang zum Hadern und vom kreativen Trick des Nichtstuns, von ihrer Zusammenarbeit mit dem färöischen Musiker Teitur, von Tutorials für textsichere Fans - und vom titelgebenden Chaos als Spur leerer Joghurtbecher.

Judith Holofernes im Corso-Gespräch mit Bernd Lechler | 18.03.2017
    Die Musikerin Judith Holofernes
    Die Musikerin Judith Holofernes (picture alliance / Jens Kalaene )
    Bernd Lechler: Judith Holofernes war, klar, von 2000 bis 2012 die Sängerin und Hauspoetin von Wir Sind Helden, der ebenso erfolgreichen wie nie allzu gefälligen Popband aus Berlin. Seither hat sie ein recht schmissig-kratzbürstiges Soloalbum veröffentlicht und danach einen Band mit Tiergedichten für Erwachsene – die man, naja, mögen muss – aber jetzt ist wieder Musik dran: "Ich bin das Chaos" heißt seit gestern ihr unbedingt hörenswertes zweites Soloalbum, das dank Mitwirkung des orchestral veranlagten Songwriters Teitur gar nicht mal so chaotisch klingt. Beim Corso-Gespräch in Berlin wollte ich von Judith Holofernes trotzdem als erstes wissen, welches Chaos sie meint.
    Judith Holofernes: Also in dem Song ist eher so eine Art philosophisch-metaphysisches Chaos, also die Idee Chaos gemeint und das ist ja auch ein Rollenlied: Also ich gehe da in die Rolle des Chaos so "symphathy for the devil"-mäßig. Ich wollte ein Lied schreiben, wo dieser Flirt, also, dieses bedrohliche, was Chaos hat und gleichzeitig attraktive drin mitschwingt. Und ich wollte das Chaos sein. Und auf einer ganz profanen Ebene bin ich aber auch einfach tatsächlich sehr eng befreundet mit dem Chaos seit frühster Kindheit.
    Lechler: Zum Beispiel?
    Holofernes: Also als Kind habe ich Schultaschen im Schulbus vergessen, bin vom Ferienlager einmal mit einem Schuh zurückgekommen, und zwar jetzt nicht irgendwie mit fünf, sondern mit zehn Jahren. Und habe gerne sehr, sehr alte Nahrungsmittel hinter meinem Sofa wiedergefunden, wenn überhaupt.
    Lechler: Hat sich das gegeben?
    Holofernes: Ich weiß noch, als das dann mit Wir sind Helden losging, dass meine Mutter irgendwann mal total entzückt zu mir gesagt hat, dass sie nie gedacht hätte, dass ich mal so lebensfähig sein würde, so lebenstüchtig. Aber immer noch ist es so, dass, wenn ich in so Überforderungsphasen gehe, dann gehe ich komplett in den Kopf, bin unheimlich strukturiert in meinem Arbeiten und so und ziehe aber eine Spur von Kleidungsstücken und Kleidungsstücken und leeren Joghurtbechern hinter mir her.
    "Ausgeprägter Hang zum Hadern"
    Lechler: Und es gibt noch so Figuren auf der Platte wie Lisa, die immer so schön traurig ist und Charlotte, die die Welt wie ein Atlas auf ihren Schultern trägt. Alte Frage: Wie viel Judith steckt in Lisa und Charlotte?
    Holofernes: Also in Lisa steckt beschämenderweise doch mehr von mir als ich beim Schreiben dachte. Ich habe nicht so einen offenen Hang zum Leiden wie Freundinnen von mir ihn tatsächlich haben, ja, wo man denkt irgendwie, nach acht Jahren der immer gleich kreisenden Gespräche, dass man als Freundin vielleicht irgendwann mal sagen muss, wie wär es, wenn wir da das nächste mal drüber sprechen, wenn du da ausgezogen bist ja. Das habe ich nicht. Aber was ich habe, das ist ein ausgeprägter Hang zum Hadern. Ich werde im Laufe der Jahre eher introvertierter, das heißt, es fällt mir nicht so leicht, eine Platte rauszubringen. Und wenn ich dann so Hader-Momente habe, dann habe ich jetzt schönerweise meinen eigenen Song - wie so ein Ohrwurm, der mich erinnert - und muss dann teilweise sehr lachen.
    Lechler: Eins noch heißt "Das Ende", da singen Sie, die Geschichte der Welt ist ein ödes Buch, aber jeder muss es lesen. Berechenbar und schlecht erzählt und voll verquerer Thesen und deswegen soll man dieses Buch dann weglegen. Aber das ist ja jetzt keine Aufforderung zum sich-nicht-interessieren oder? Für die Welt und für die Geschichte und für Politik.
    Holofernes: Nein, ich interessiere mich ja sehr für die Welt und auch Geschichte und aus bestimmten Blickwinkeln Politik und so. Ich finde es nur immer wieder wichtig, sich klarzumachen, dass wir sozusagen in einer kollektiv geteilten Welterzählung leben. Also, dass wir uns die Welt erzählen, jeder einzeln für sich. Das ist einfach die Art, wie unser Ego funktioniert und wie wir uns weismachen, dass wir in fünf Jahren noch da sind im Grunde. Es ist ein Überlebensmechanismus. Und ich finde es total spannend, dass es das auch auf kollektiver Ebene gibt, also Übereinkünfte, die weilweise weltweit funktionieren. Also eine Grunderzählung zum Beispiel ist der Darwinismus. Der ist erstens nicht so alt. Zweitens gibt es da jetzt schon neue, ganz interessante Forschungen, dass der nicht genau so funktioniert. Oder eine andere Erzählung ist ein gottloses Universum. Diese ganzen Erzählungen sind ja relativ neu, wenn man in hunderten von Jahren denkt. Und sich dann einfach immer mal klar zu machen, was macht das mit der Art, wie wir die Welt empfinden, das finde ich spannend.
    "Ich habe mich kaum getraut, zu atmen"
    Lechler: Sie haben das Album mit Teitur aufgenommen und geschrieben, der ein färöischer Musiker ist, der eine - ich sage mal - eigentlich noch viel verträumtere Musik macht als Sie das sonst machen. Was für eine Art der Zusammenarbeit war das?
    Holofernes: Ja ich glaube, wenn man jetzt hört, dass ich die Platte mit Teitur gemacht habe, dann ist es vielleicht sogar ein bisschen Irreführend, weil die ja nur zum Teil so melancholisch ist. Sein Sound hat auf jeden Fall daher Einzug erhalten, dadurch, dass er diese wunderschönen Klaviere spielt, er ist echt ein Ausnahmepianist. Und das war für mich natürlich eine ganz tolle Erfahrung, weil ich Autodidaktin bin und immer viel in Bildern kommunizieren muss und so, wenn ich meine Visionen auf den Punkt bringen möchte. Mit Teitur hatte ich plötzlich ein Gegenüber, dem singt man eine Melodie vor und der notiert die aus der blauen Luft. Also der schreibt den Streicherpart dazu, ohne sich einmal an ein Instrument gesetzt zu haben. Und dann haben wir ja auch mit Stargaze aufgenommen.
    Lechler: Das Berliner Orchesterkollektiv.
    Holofernes: Genau. Und wir hatten die Streichersektion da. Also, das war wie Balletttanzen in einem Raubtierkäfig oder so. Also das waren ganz nette Leute. Aber dieses Level von Konzentration - also romantischer gesagt, Inbrunst - das kenne ich überhaupt nicht bei Rockmusikern. Also ich habe mich kaum getraut, zu atmen, als ich mit denen im Raum war und die aufgenommen haben, weil das echt so fantastisch war.
    Lechler: Auf Ihrer Website gibt es dann ein Bild, da sieht man Teitur stehen mit drei Ukulelen, die er mit Schlagzeugstöcken spielt. Also, Sie haben offenbar auch nach neuen Sounds gesucht da, oder er.
    Neue Sounds mit dem Theremin
    Holofernes: Uns war klar, dass die Songs, wie immer bei mir, irgendwie sehr breit gefächert sind stilistisch, weil ich einfach so zitierwütig auch bin, auch bei den Helden schon war. Und es ist irgendwie bei mir immer wichtig, einen roten Faden zu finden, der dann alles zusammen bindet. Und auf dieser Platte haben wir uns eben ein imaginäres Orchester ausgedacht am ersten Studiotag. Das haben wir "Imaginary Doomsday Orchestra" genannt, das zur Hälfte aus echten, schönen, warmen Orchesterinstrumenten besteht, also echten Streichern, echten Bläsern. Und gleichzeitig aber immer gesungene Theremine.
    Lechler: Ein Theremin, muss man den Leuten erklären, ist ein elektronisches Instrument, das man mit Bewegungen steuert.
    Holofernes: Genau. Was wahnsinnig schwer zu spielen ist, aber das macht im Prinzip diesen Sound, den man so aus 60er, 50er Jahre Alien-Invasion Filme, kennt. Das ist fast immer dabei. Dann ist viel Xylophon dabei, was jetzt auch Live auf der Bühne immer schon in meiner Band viel vorkam. Und dann eben relativ viele Synthies, die sozusagen immer so klingen, wie das Instrument, das in einem echten Orchester vorkommen könnte, nur leicht daneben so. Also zum Beispiel, eine völlig absurde Synthie-Flöte spielt mehrere Soli. Und das hat wahnsinnig Spaß gemacht.
    Neuer, alter Helden Sound?
    Lechler: Das ist jetzt das zweite Soloalbum. Das heißt, man kann schon von dem Solo-Laufbahn-Part ihres Lebens erzählen und Wir sind Helden ist lange her. Gleichzeitig, von außen, die wir das hören, ist es natürlich die gleiche Stimme, es ist die gleiche Texterin. Wieso könnte das nicht ein Helden Album sein?
    Holofernes: Das finde ich ehrlich gesagt manchmal selber eine spannende Frage, weil ich ja gar nicht weiß, wo wir mit Wir sind Helden jetzt wären. Und die letzte Platte, die wir mit Wir sind Helden gemacht haben, die liebe ich wahnsinnig. Die war ja schon vom Sound total anders als zum Beispiel "Die Reklamation", die ich aber auch sehr mag. Also die "Bring mich nach Hause" war sehr analog und warm und dunkel. Und "Die Reklamation" irgendwie kratzbürstig und Synthie und so. Und ich habe immer beides geliebt. Ich habe auf dieser Platte jetzt das Gefühl, dass das auch beides sehr stark vorkommt. Also, dass auch Songs drauf sind, die wie so Geschwister sind von Songs auf der "Reklamation", also auch thematisch. Ich meine, das ist dann nicht bewusst, sondern dann tauchen einfach Themen wieder auf, die interessieren mich eben und dann kommen die wieder. Ich werde auch jetzt, zum Beispiel, auf der Tour tatsächlich das erste Mal ganz zaghaft wieder zwei Wir sind Helden Songs spielen. Keine Singles, so, weil das wär mir irgendwie auch zu emotional, ich habe meine Band ja geliebt. Das würde sich falsch anfühlen. Aber so heimliche Lieblingssongs, so ein bisschen links von der Mitte sozusagen. Und da gibt es einfach welche, die sprechen unheimlich gut miteinander.
    Tutorials zum Mitsingen
    Lechler: Auf Ihrer Website, da gibt es jetzt Tutorials, wo man das Mitsingen im Konzert üben kann, weil die Tour so schnell mit Veröffentlichung der Platte losgeht. Es hat den Eindruck, wenn man sich das anguckt, als hätten die Fans sich besorgt erkundigt. Da ist wirklich ein Problem für die?
    Holofernes: Tatsächlich ist die Tour unverschämt früh. Traditionell eigentlich würde man acht Wochen später auf Tour gehen, als man eine Platte rausbringt. Und ich weiß einfach, also so Promo-Phasen, wo man so nur rausgeht und durch die Gegend fährt, um seine Platte überall vorzustellen, bekommen mir nicht so gut. Ich gehe lieber auf Tour und sitze glücklich mit meinen fünf Mitmusikern nach einem Konzert beseelt im Tourbus verschwitzt, als alleine, deprimiert auf dem Hotelzimmer. Was ich nicht so richtig bedacht habe, ist dass die Leute dann wirklich Null Komma Null Vorlauf haben, um sich diese Tickets zu kaufen. Und natürlich auch die Songs nicht auswendig lernen können. Und ich habe ein Publikum, was sehr gerne und sehr laut mitsingt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.