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Jugendgeschichten voll brutaler Gefühle

Kevin Brooks feiert als Jugendbuchautor große Erfolge. Seine Geschichten handeln vom Leben, wie er selbst sagt. Und somit eben immer von Gefühlen, deren Quell oft auch große Brutalität ist. Sein Interesse gilt dabei vor allem den Außenseitern, zum Beispiel den Zigeunern.

Von Claudia Cosmo | 14.08.2010
    Kevin Brooks ist ein ungewöhnlicher Jugendbuchautor. Er ist bei seinen jungen Lesern sehr beliebt. Vielleicht, weil er ihre Sprache trifft, ohne nachäffend zu wirken. Vielleicht weil er nichts schön redet. Und vielleicht, weil es schlicht und einfach spannende Geschichten sind, die er seit über zehn Jahren schreibt.

    Ganz gewiss hat er seine Popularität der Tatsache zu verdanken, dass er ein glaubwürdiger Erzähler ist, der sich als Person im Hintergrund hält und lieber seine Romane ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.

    Kevin Brooks trägt eine Brille mit runden Gläsern, seine Kleidung ist lässig-sportiv und seinen kahlrasierten Kopf bedeckt er mit einer braunen Kappe. Dass der Erfolgsautor sich nach dem Studium der Kulturwissenschaften lange Jahre mit Gelegenheitsjobs durchschlagen musste und sich als Tankwart, im Staatsdienst, als Verkäufer im Londoner Zoo und als Handlanger in einem Krematorium verdingte, hört sich nach einem durchaus abwechslungsreichen Leben an - genügend Stoff für Romane allemal.

    Schreiben bedeutet für ihn, Empfindungen nachzuspüren und darzustellen. "Geschichten sind Gefühle", heißt es im Roman 'Lucas'. In diesem Sinne versteht Brooks Gefühle als generationsunabhängige Regungen, die von jedem jederzeit erfahrbar sind. Dass sich Kevin Brooks als Erzähler auf die Erlebnisse von Jugendlichen konzentriert, ist nicht das Resultat einer bewussten Entscheidung.

    "Ich hatte mir nie vorgenommen, über Jugendliche zu schreiben. Und so kam es mir auch ganz selbstverständlich und natürlich vor, als ich zum ersten Mal eine Geschichte aus der Perspektive eines 14-Jährigen schrieb. Ich hatte dabei ein gutes Gefühl´. Und ich war darin auf Anhieb gut. Es fühlte sich richtig an. Daraus entwickelte sich schließlich mein erster Roman 'Martyn Pig'. Gerade schreibe ich auch ein Buch für Erwachsene, das nächstes Jahr erscheinen wird. Also, das heißt, dass ich auch andere Dinge schreibe. Aber ich werde nie damit aufhören, über junge Menschen zu schreiben. Außerdem fühle ich mich jetzt nicht anders, als ich mit 14, 15 Jahren war. Ich muss nicht extra zurück in meine Kindheit gehen, um herauszufinden, was ich damals fühlte. Denn ich empfinde immer noch genauso wie damals. Meine Gefühle haben sich nicht verändert. Ich unterteile das Leben auch nicht in Kindheit und Erwachsenendasein. Es ist alles eins. Manchmal verwende ich in den Romanen Erfahrungen aus meiner Kindheit. Manchmal aber auch Erlebnisse, die ich mit 20, 30 oder 40 gemacht habe. Für mich ist alles dasselbe. Es sind eben nur verschiedene Abschnitte des Lebens."


    Kevin Brooks setzt seine jugendlichen Figuren allerhand heiklen und gefährlichen Situationen aus. In den bisher in Deutschland erschienenen Romanen 'Martyn Pig', 'Candy', 'Lucas', 'Being', 'Kissing the rain', 'The road of the dead' und 'Black Rabbit Summer' werden die Hauptfiguren mit Tod, Gewalt, Verbrechen, Verrat, Verlust und Angst konfrontiert.

    Keine heile Welt, obwohl es rein äußerlich manchmal so scheint.
    So spielt der 2003 erschienene Roman 'Lucas' auf einer kleinen, beschaulichen Insel, auf der sich jeder kennt. Doch die Idylle trügt. Im Roman 'Lucas' wächst die junge Caitlinn ohne ihre Mutter auf, ihr verwitweter Vater ertränkt seine Trauer in Alkohol, ihr Bruder Dominic nimmt andere Drogen und gibt sich mit zwielichtigen Leuten ab. Und dann ist da noch der unbekannte Junge, der plötzlich am Strand auftaucht und den alle mit Argwohn betrachten.

    "Während der nächsten Tage kam das Wetter nicht zur Ruhe. Morgens schien kräftig die Sonne, nachmittags dagegen war der Himmel bewölkt und es fielen leichte Sommerschauer, später brannte wieder kurzzeitig die Sonne, ehe sich abermals Wolken türmten und es in Strömen goss. Es war wie in einem Zeitrafferfilm über den Lauf der Jahreszeiten. Abends blies ein kalter Wind von See her und peitschte Wolken aus Staub und Sand auf. Es waren wechselhafte Zeiten. Ich blieb so viel wie möglich zu Hause. Fürs Erste hatte ich genug von anderen Leuten. Weder wollte ich mit jemandem reden, noch allein über irgendwelche Dinge nachdenken. Ich wollte einfach nur dasitzen und nichts tun. Aber das war nicht leicht. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Gefühl ist, wenn du nicht weißt, wie du dich fühlen sollst? Wenn deine Gedanken von einem Punkt zum anderen gleiten? Genauso fühle ich mich nach den Ereignissen des Wochenendes. Ich wusste einfach nicht, was ich von alldem und von den Leuten ringsum halten sollte: von mir, Dad, Bill, Jamie, Dominic, Angel, dem Strand, dem Jungen. Ich wollte, ich hätte die Antwort gewusst. Ich wollte, ja ich wollte."


    Die raunend beschriebene Landschaft illustriert die Gefühle der Protagonisten. Kevin Brooks' Protagonisten sind Wandler auf schmalen Grat: zwischen Kindheit und Erwachsenendasein. Ihre Jugend ist ein Zwischenraum, in dem emotionale Schlachten ausgefochten werden.

    "Es gibt alle möglichen Gefühle: Liebe, Hass, Bitterkeit, Freude, Traurigkeit, Erregung, Verwirrung, Angst, Wut, verlangen, Schuld, Scham, Reue, Abneigung. Und kein einziges lässt sich kontrollieren."

    Der Schriftsteller Brooks agiert dabei nicht als teilnahmsloser Zuschauer eines kräftezehrenden Spektakels. Deshalb verzichtet er auch auf einen allwissenden Erzähler. Stattdessen erzählt, denkt und fühlt immer die jeweilige Hauptfigur, die trotz ihres jungen Alters sehr reif und erwachsen klingt:

    "Die meisten meiner Figuren sind zwischen 15 und 17 Jahren, ein Alter, in dem man die Unschuld gegenüber dem Leben verliert. Das ist ein interessantes Alter. Es ist ein Übergang. Man verliert diesen unschuldigen, staunenden Blick auf das Leben, an dem jeden Tag die Sonne scheint. Man wird zu einem Teil der Erwachsenenwelt, die nicht immer ein spaßiger und wundervoller Ort ist. Und man will an dieser Unschuld, die man einst hatte und die einem abhandenkommt, festhalten. Aber das ist schwer. Es ist notwendig einen Teil dieser Unschuld zu verlieren, damit man sich in der Welt zurechtfindet. Ansonsten kann es ein sehr harter Ort werden. Aber man will das nicht, weil diese kindhafte Unschuld ein schönes Gefühl ist. Es ist also eine persönlich sehr anstrengende, konfliktreiche Zeit, in der man herausfinden muss, was man will und wie man in dieser barschen Erwachsenenwelt überlebt. Und inwieweit man etwas von seiner Kindhaftigkeit behalten kann oder sie ganz aufgeben muss."

    Auch der in Deutschland zuletzt erschienene Roman 'Black Rabbit Summer' kreist um dieses für Kevin Brooks so zentrale Thema. Der Schriftsteller nimmt seine Figuren sehr ernst, lässt sie aus ihrer Erinnerung erzählen und schafft ihnen Raum, über ihr Leben zu berichten.
    In 'Black Rabbit Summer' schaut die Hauptfigur Pete einem langen Sommer entgegen. Er hat seinen Schulabschluss hinter sich und Zeit, sich mit seinem Freund Raymond zu treffen.

    Raymond ist ein besonderer junger Mann, der von seiner Umgebung eher als Freak wahrgenommen wird. Er besitzt ein kleines, schwarzes Kaninchen namens Black Rabbit. Black Rabbit kann nicht nur sprechen, sondern ist Raymonds engster Vertrauter.

    "Ich suchte nach etwas Extra-Speziellem, nach etwas leicht Irrealem für die Geschichte. Bei mir zu Hause steht ein Porzellan-Kaninchen auf meinem Regal. Es hat unglaublich echte Augen und ein Blümchenband um den Hals gebunden. Ich schaute es mir so an und dachte dabei: Ja, das ist es! Und ich begann darüber nachzudenken und kam auf die Idee, dass die Figur des Raymond doch mit einem lebendigen Kaninchen zusammenleben könnte. Dieses Kaninchen - Black Rabbit- entwickelte sich beim Schreiben zu einem Symbol für die Kindheit und auch für das Geheimnisvolle der Kindheit, da das Kaninchen im Roman sprechen kann. Für die heranwachsenden Romanfiguren wird Black Rabbit somit zu einer Art Dreh- und Angelpunkt, an der sich auch die Geschichte entlang bewegt."

    'Black Rabbit Summer' ist auch eine Geschichte, die sich mit dem Thema Verlust auseinandersetzt. Für die frischgebackenen Schulabsolventen Pete und Raymond ist es Zeit, ihr gutbürgerliches, wohlbehütetes Nest zu verlassen. Doch erst einmal werden die alten Zeiten herauf beschworen. Ihre Schulclique veranstaltet noch einmal eine ihrer legendären Partys.

    Pete überredet Raymond, mitzukommen und vorher noch die örtliche Kirmes zu besuchen. Das erweist sich als fataler Fehler. Denn am Ende des Abends ist Raymond spurlos verschwunden. Die Schulkameraden erscheinen Pete in einem neuen, unbekannten Licht. Sie sind von Geheimnissen umgeben, die mit Raymonds Verschwinden in Zusammenhang stehen könnten. Pete sucht Raymond überall und hofft, dass er vielleicht doch zu Hause anzutreffen ist. Doch Pete findet nur Raymonds geliebtes Kaninchen vor.

    "Mir wurde ganz kalt und ich fühlte mich klein wie ein Kind an einem unbekannten Ort, und während ich langsam am Tor hinaufblickte, schaltete sich in mir etwas ab. Und als ich sah, was an dem Tor hing, aufgespießt an einem rostigen Nagel, glaubte ich es zuerst einfach nicht. Ich schloss die Augen und hoffte, es würde verschwinden, doch als ich sie wieder öffnete, war der abgeschlagene Kopf von Black Rabbit immer noch da, noch immer ans Tor genagelt, noch immer rot tropfend im Regen. Es war Raymonds Kaninchen und war doch kein Kaninchen mehr. Ich war jetzt schweißgebadet. Meine Beine zitterten. Ich tat was ich tat, ohne darüber nachzudenken. Direkt neben dem zerstörten Stall fand ich die kopflosen Überreste von Black Rabbit. Sein jämmerlicher Körper lag in einer Pfütze. In dem Moment drehte ich durch und lief einfach los. Durch den Garten, fort von dem Horror, an die Rückseite von Raymonds Haus. 'Raymond', schrie ich und hämmerte gegen den Hintereingang. Raymond!"

    Harte Szenen sind das. Jedoch geht es Kevin Brooks nicht um die pure Darstellung von Gewalt. Ihn interessiert der Umgang mit dem Moment des Schocks, den seine Protagonisten erfahren: der Schock der Erkenntnis, dass die Welt auch dunkle, negative Seiten besitzt. Wie verarbeiten junge Menschen solch eine Erfahrung und welche Konsequenzen ziehen sie daraus?

    "Ich schreibe über schwierige Dinge, über finstere Themen. Aber ich glaube, dass man aus schlechten Dingen und Erfahrungen auch etwas über sich selbst lernen kann. Nur weil gewisse Dinge falsch laufen, bedeutet es nicht, dass man sie als Negativerfahrung sehen muss. Sie gehören zu den Lebenserfahrungen dazu. Und ich glaube, dass negative Erlebnisse auch etwas Gutes haben, sie sind Teil des Lebens."

    Kevin Brooks ist kein Schriftsteller mit einer pessimistischen Sicht auf das Leben. Er ist ein Realist. Die Konfrontation mit Gewalt gehört zum Leben. Diese Erkenntnis zieht sich durch alle Romane des Autors. Mit Thriller- und Krimielementen arbeitend, schildert Brooks tragische Ereignisse, hinterlistige Machenschaften und scheinbar kaltblütig ausgeführte Taten. Doch Kevin Brooks fächert die Handlung auf und veranschaulicht, dass hinter allem immer die verletzte Seele eines Einzelnen steht.
    Ausweglosigkeit und Verzweiflung als Impuls brutaler Handlungen.

    "In allen meinen Büchern gibt es 'dieses Ding', dieses Zusammenspiel, zwischen Gewalt und einer Art von Sensibilität, das heißt zwischen etwas Physischem und Emotionalen. Ich zeige Gewalt, weil wir in einer gewalttätigen Welt leben. Das ist nicht übertrieben und wenn, dann nur ein bisschen. Als ich heranwuchs, war Großbritannien bereits ein Land, in dem sehr viel Gewalt herrscht. Das ist bis heute so. Gewalt ist Teil der menschlichen Natur. Das war so und wird auch immer so bleiben. Es ist ein integrativer Bestandteil des Lebens schlechthin. Wenn ich über das Leben schreibe, dann muss das mit hinein. Ich hasse Gewalt, aber mich fasziniert, wie sich Menschen der Gewalt bedienen und dadurch Macht bekommen. Aber es bedeutet nicht, dass nur schlechte Menschen Gewalt anwenden. So funktioniert das nicht! Manchmal bedienen sich auch gute Menschen der Gewalt und manchmal kann dies ein zulässiges Mittel sein. Ob das dann gut oder schlecht ist, steht mir nicht zu, zu beurteilen. Aber es ist nicht so simpel. Die Dinge sind nicht nur schwarz oder weiß. Es gibt Graustufen. So sind manchmal schlechte und auch manchmal gute Menschen gewalttätig. 'Lucas' zum Beispiel ist für mich eine Art Tier. Tiere können ruhig und schön sein, aber gleichzeitig auch brutal. So kam mir auch Lucas vor. Er ist irgendwie jenseits eines moralischen Urteils, in dem Sinne, dass man auch keinen Löwen dafür verurteilt, weil er eine Antilope gerissen hat. Das macht er nun mal!"

    Lucas, der sich als Fremder auf der Insel zurechtzufinden versucht, ist bereit bis zum Äußeren zu gehen. Kommt man ihm zu Nahe, verteidigt er sich mit allen Mitteln und scheut auch nicht davor zurück, mit einem Holzstück zuzuschlagen.

    Ähnlich verhält es sich in 'The Road of the dead', der 2009 mit dem deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichneten wurde. Darin spielt ein Brüderpaar die Hauptrolle, das der mysteriöse Tod ihrer Schwester Rachel nicht mehr zur Ruhe kommen lässt. Cole und Ruben machen sich auf, die Tat aufzuklären. Sie gelangen an den Ort des Verbrechens und suchen in Dartmoor nach Spuren. Dabei werden sie mit Leuten konfrontiert, die die jungen Besucher als Störenfriede ausmachen. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des sensiblen Ruben, der eine neue Seite an seinem Bruder Cole entdeckt.

    "Die vier Männer überquerten die Straße und gingen genau auf uns zu - der rote Anzug vorneweg, die andern drei in einer Reihe hinter ihm. Cole berührte wieder meinen Arm und wir bleiben beide stehen. Der rote Anzug lächelte jetzt - lächelte mich an. Sein kurz geschorenes Haar war fast genauso rot wie der Anzug. Er hatte spitze Zähne und falsche Augen. Ich wusste nicht, inwiefern sie falsch waren, aber sie waren es eindeutig. Alles an ihm war falsch. Alles ok?, fragte er und starrte mich an. Ich antwortete nicht und wartete, dass Cole irgendwas unternahm. Willst du was?, fragte er den Roten. Du stehst im Weg! Ehe der Rote etwas sagen konnte, schob sich der Riese an ihm vorbei und wollte Cole packen. Cole rührte sich kaum. Er senkte bloß die Schulter und rammte dann seine Faust in die Kehle des Riesen. Der Riese taumelte rückwärts, die irren Augen starrten hervor, da traf Cole ihn zum zweiten Mal- ein kurzer rechter Haken gegen den Kopf - und der Riese fiel hin wie ein Sack. Komm, Rube, sagte Cole leise und legte mir seine Hand auf die Schulter. Du hättest ihn umbringen können! Klar, hab ich aber nicht, oder?"

    Der Hauptfigur Ruben fällt es schwer, seinen Bruder als gewalttätigen Schläger zu erleben, der sogar vor Mord nicht zurückschreckt.
    In Kevin Brooks Romanfiguren schlummert immer das 'Sowohl-als-auch'.
    Sie sind fähig, gut und mitfühlend-sensibel zu agieren und gleichzeitig auch brutal. Das macht sie unberechenbar, zumal die aufkommenden Gewalttätigkeiten das Ventil für unterdrückte Gefühle sind.
    Kevin Brooks' große Begabung als Schriftsteller besteht darin, diese Gleichzeitigkeit von Gut und Böse unaufgeregt zu schildern.
    Außerdem wirft er in seinen Romanen die Frage auf, inwieweit eine gute Absicht eine schlechte Tat legitimieren kann.

    Hinter den Geschichten offenbart sich eine komplexe, leise mitschwingende Sichtweise auf das Leben mit. Kevin Brooks hält sich als Autor kein interpretatorisches Hintertürchen offen. Seine literarischen Ansprüche sind hoch.

    "Meine Verantwortung als Autor besteht darin, dass alles, worüber ich schreibe, von bester Qualität sein muss. Aber ich finde nicht, dass es zum Job eines Schriftstellers gehört, ein Lehrer, ein Moralist oder ein Sozialarbeiter zu sein. Meine Bücher spiegeln das Leben wider. Sie sagen nicht: Das ist gut und das ist schlecht! Oder das ist richtig und das ist falsch. Das ist nicht mein Job. Ich glaube nicht, dass Kinder so etwas von einem Autor hören wollen. Was sie brauchen, ist jemand, der Geschichten schreibt. Ja, ich schreibe über schwierige Dinge. Aber ich moralisiere nicht oder transportiere eine Botschaft. Ich erzähle den Leuten nicht, wie sie sich verhalten oder ihr Leben führen sollen. Ich schreibe über das Leben. Und wenn man dabei etwas lernen kann, dann ist das schön. Aber das ist nicht meine Absicht."

    Kevin Brooks mag keinerlei Anbiederung an seine Leser und sieht sich ebenso wenig als Sprachrohr der jungen Generation.
    Als Jugendbuchautor müsse man sich davor hüten, junge Menschen analysieren zu wollen. Seine Geschichten sind keine Resultate einer Recherche im Umfeld von Teenagern.

    In Brooks Romanen sucht man vergeblich nach aktuellen Bezügen.
    Was junge Leute anziehen und welche Musik sie gerade hören, ändert sich andauernd. Verweise auf neueste Modetrends, Markennamen und In-Getränke hält Kevin Brooks für unwichtig. Sich damit als Schriftsteller auszukennen, bedeutet für ihn nicht automatisch, näher an Jugendlichen 'dran' zu sein und sie dadurch besser verstehen zu können. Dieser bewusste Verzicht verleiht den Romanen des 51-Jährigen die Qualität von Zeitlosigkeit. Die einzelnen Erlebnisse der Figuren verwandeln sich zu exemplarischen Schicksalen, die über verschiedenste Gefühlszustände erzählen, ohne dabei in Allgemeinplätze abzudriften. Darin besteht Kevin Brooks Meisterschaft.

    In 'Black Rabbit Summer' jedoch räumt der Bestsellerautor einem aktuellen und von Jugendlichen stark frequentierten Medium einen Platz ein: dem Internet. Im Roman erpressen Jugendliche ihre Altersgenossen mit heimlich aufgenommenen Handyvideos und drohen, entlarvende Bilder ins World Wide Web zu stellen.
    In dieser virtuellen Parallelwelt, meint Kevin Brooks, eröffnen sich Perspektiven und Realitäten, die die Welt `da draußen` beeinflussen können, mal im Guten, mal im Schlechten. Im Gegensatz zu einem austauschbaren Modeaccessoire verrät der Umgang mit dem Internet demnach viel mehr über die Haltung zum Leben.

    "Als ich jung war, bin ich unter der Woche morgens in die Schule gegangen und war den Rest des Tages außer Haus mit Freunden unterwegs, genauso am Wochenende. Ich habe immer irgendetwas gemacht. Meine Eltern wussten gar nicht, wo ich war. Ich kam nachts nach Hause und habe oft riskante, gefährliche Dinge gemacht. Aber so lernte ich, erwachsen zu werden. Heutzutage machen die Kids so etwas nicht mehr so gerne. Sie sitzen lieber vor dem Computer. Oder ihre Eltern lassen sie wegen der vermeintlichen Gefahren nur noch ungern aus dem Haus. Aber man muss in die Welt hinaus, um erwachsen zu werden. Das Internet ist keine schlechte Sache. Ich mag das Internet. Es gehört zu den erstaunlichsten Dingen in der Welt. Und junge Leute können dadurch viel lernen und erfahren. Sie kommunizieren damit viel mehr als zuvor, weil es ihnen nun die ganze Zeit über ermöglicht wird. Aber den Preis, den man für diese neue Freiheit bezahlt, ist, dass das Internet auch viele Dinge birgt, die nicht so toll sind. So ermöglicht einem das Internet, schlimme, schlechte Dinge auf viel größeren Kanälen zu verbreiten."

    Manchmal erreichten Kevin Brooks Briefe von besorgten Eltern, die auch zur großen Leserschar des Schriftstellers gehören. Aus ihren Reihen kommt ihm wegen der geschilderten Gewalt auch Kritik entgegen. Im Gegensatz zu manchem Erwachsenen erkennen Brooks junge Leser, dass die von ihm beschriebene Gewaltbereitschaft und die Krimi- und Thrillerelemente nur als Vorwand dienen, um in den Romanen über das Eigentliche zu erzählen: die Macht der Gefühle.

    "Ich weiß, dass junge Leser mit diesen Themen keine Probleme haben. Egal wie dunkel meine Geschichten auch sein mögen, die Kids machen in ihrem eigenen Leben sowieso, was sie wollen. Gelegentlich mag es da Stimmen von Eltern oder Lehrern geben, die sich zu meinen Büchern äußern. Wenn ich schreibe, kann nur ich alleine zunächst der Richter über das, was ich tue, sein! Ich glaube, dass das, was ich mache, gut ist. Es ist ok. Ich finde, man kann alles thematisieren. Ich muss mich dafür nicht rechtfertigen. Und ich bin ganz glücklich damit und habe kein Problem, über alles Mögliche zu schreiben. Wenn Leute meinen, ich dürfte über gewisse Dinge nicht schreiben, dann ist das ihre Meinung, das ist ok für mich. Ich kann auch mit ihnen darüber diskutieren. Aber es sind Bücher über das Leben. Ich muss einfach darüber schreiben. Milderte ich alles ab, um jeden damit glücklich machen zu wollen, dann käme das nicht von meinem Herzen."

    Über Jugendliche zu schreiben, meint der Schriftsteller Brooks, bedeute aber auch, über die erwachsenen Figuren zu erzählen. In Kevin Brooks Romanen wachsen die jungen Protagonisten meist in zerrütteten Familienverhältnissen auf. Entweder leben die Eltern getrennt, Mutter oder Vater sind verstorben oder verschollen. Manchmal beschreibt Brooks auch Familienstrukturen, die rein äußerlich betrachtet stabil zu sein scheinen, so wie in 'Black Rabbit Summer'.
    Doch schaut man genauer hin, so sind viele der Romanfiguren emotional verwahrlost und bekommen von ihren Eltern nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt, da sie selbst haltlos durch ihr eigenes Leben taumeln.

    Dem Teenager Martyn Pig des gleichnamigen Debütromans fällt es nicht leicht, mit einem alkoholsüchtigen und gewaltbereiten Vater zusammenzuleben, dessen plötzlicher Tod in dem zurückbleibenden Sohn Panik verursacht. Martyn Pig trifft daraufhin wichtige Entscheidungen für sich, die ihn ins Abseits drängen.
    Wie alle Hauptfiguren in Kevin Brooks Büchern, ist Martyn Pig ein Außenseiter. Nicht nur, weil er sich von seiner angeblich besten Freundin in einen Hinterhalt führen lässt und plötzlich als Mörder verdächtigt wird.

    "Mein Name machte mein Leben unerträglich: Martyn Pig! Warum? Warum musste ich damit klarkommen? Mit den erschrockenen Blicken, dem höhnischen Gelächter, dem Gegrinse, dem Schnauben, den ewigen Schweinewitzen Tag ein, Tag aus. Immer du, immer wieder. Warum? Warum ich? Warum war ich mit einem Namen geschlagen, der einem sofort Bekanntheit verschaffte? Es ist nicht leicht, aber inzwischen weiß ich, dass, wenn man die Leute tun und denken lässt, was sie wollen und dabei die eigenen Gefühle einigermaßen im Griff hat, wird ihnen nach einer Weile langweilig und sie lassen dich in Ruhe."


    "Mich zogen diese am Rande der Gesellschaft stehenden Außenseiter schon immer an. Und ich empfand mich selbst auch immer als einen. Ich selbst zähle mich auch zu ihnen. Ich bleibe immer außen vor. Das geht wohl auch jungen Leuten so. Sie denken: Hier bin ich, und dort ist der Rest der Welt. Deshalb ist es für mich selbstverständlich, über Außenseiter zu schreiben. Sie sind mir ähnlich."
    Die Außenseiter in Kevin Brooks Romanen tragen ungewöhnliche Namen, weisen kauzige Verhaltensweisen auf, sind übergewichtig und ziehen sich vom Rest der Welt in ihre eigene Gedankenwelt zurück.

    In 'Lucas', 'The road of the dead' und 'Black Rabbit Summer' spielt Kevin Brooks mal mehr, mal weniger direkt auf eine bestimmte Gruppe von Außenseitern an: The Gipsys - die Zigeuner.

    "Ich habe mich immer für Zigeuner interessiert. Dort, wo ich aufgewachsen bin, lebten Zigeunerfamilien, sie kamen und gingen. Und sie waren immer von dieser fremden, mysteriösen Sphäre umgeben. Mit der Zeit lernte ich immer mehr über sie. Und es ist schwer, etwas über sie zu erfahren, weil sie sind sehr zurückgezogene Menschen. Deshalb mögen sie viele auch nicht, weil sie lieber für sich sind und nur wenige an sich heranlassen. Sie haben eine eigene Kultur, die voll von interessanten Dingen ist. In England und in Großbritannien sind die Zigeuner leider die einzige Kulturgemeinschaft, gegen die man Vorurteile hegen kann, ohne dafür schief angeguckt zu werden. Auch die Massenmedien können immer noch frei behaupten, Zigeuner seien schmutzige Leute! Das finde ich unglaublich und erstaunlich! Ich finde sie interessant, weil sie eben Außenseiter sind. Das interessiert mich sehr!"

    Das fahrende Volk steht für Bewegung. Kevin Brooks Bücher sind Entwicklungsromane. Die Gefühle gehen buchstäblich auf Reisen.

    "Lyrik ist für mich die ultimative Form des Schreibens. Ich wäre gerne Lyriker geworden, aber ganz ehrlich gesagt: Es ist schier unmöglich, davon leben zu können. Aber meine Romane erlauben es mir, Poesie mit einzustreuen. Ich musste lernen, es nicht überzustrapazieren. Ich liebe es, mit poetischen Umschreibungen gelegentlich ein starkes Bild oder einen rhythmischen Sound in den Romanen entstehen zu lassen. 'Lucas' hätte eine Art Jagdsound, einen ruhigen, fast schon symphonischen Sound. 'Black Rabbit Summer' hätte einen viel modernen und wirren Ton, wie man ihn auf Jahrmärkten hört, wo viele verschiedene Geräusche und Musiken gleichzeitig erklingen. Die Geschichte in 'The Road of the dead' ist an Westernfilmen- und Westernbüchern inspiriert. Deshalb hätte der Roman auch einen entsprechenden, etwas provokativen Soundtrack."

    Jedem Roman unterliegt ein eigener, unverwechselbarer Ton. Doch allen Romanen ist eines gemein: Sie sind Liebesgeschichten. Liebesgeschichten zwischen einem Jungen und einem Mädchen, zwischen zwei sich nahe stehenden Brüdern, zwischen Eltern und ihren Kindern.

    In Kevin Brooks Büchern fragen sich die jungen Erzählerfiguren oft nach dem Warum, nach dem Sinn des Lebens. Sie suchen nach endgültigen Erkenntnissen und Lösungen. Doch die gibt es nicht. Der englische Schriftsteller verzichtet deshalb auf Happy Ends. So kann jener Pete in 'Black Rabbit Summer' am Ende nur hoffen, dass sein als vermisst gemeldeter Freund Raymond eines Tages wieder auftauchen wird.

    "Ich wusste, dass der Roman so enden wird. Ich wollte nichts erklären oder etwas auflösen. Ich erlaube mir selbst nicht, eine Antwort zu haben, um sie dann dem Leser vorzuenthalten. Das wäre Betrug! Und deshalb weiß ich auch nicht, was Raymond zugestoßen ist. Ich glaube, wenn man ein Buch liest, wird die betreffende Geschichte zu deiner eigenen Geschichte. Sie ist in deinen Händen und trägt die Bedeutung, die du ihr zukommen lassen willst. Du besitzt sie. Dann ist mit Raymond genau das geschehen, was du denkst, dass ihm passiert ist. So wird eine Geschichte zu Hunderttausenden von Geschichten in jedermanns Kopf."