Montag, 13. Mai 2024

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Kandovan in der iranischen Provinz Ost-Aserbaidschan
Wohnen in der Wabe

In der iranischen Provinz Ost-Aserbaidschan, benachbart zu Aserbaidschan und Armenien, liegt das Dorf Kandovan. Es wurde zur Zeit des Mongolensturms vor 800 Jahren gegründet. Die Felsenarchitektur und das Leben darin machen den Ort einzigartig.

Von Bita Schafi-Neya | 08.05.2016
    Mit dem Auto geht es erst über eine asphaltierte Landstraße, die dann in eine Sandpiste übergeht. Der Weg führt durch ein grünes Tal mit Mandelbäumen, Wacholdersträuchern und wilden, knorrigen Olivenbäumen – vorbei an einem wasserreichen Fluss. Das Dorf liegt am Ausläufer des nordwestlichen Sahand-Gebirges, circa 2.200 Meter hoch. Es ist direkt in die Felsen gebaut.
    Eine schmale Straße führt hoch ins Dorf hinein – vorbei an kegelförmigen Häusern, die aussehen wie Zuckerhüte. Kaum vorstellbar, aber hier wohnen tatsächlich Menschen drin. Auch Hamid - ein alter Mann mit weißen Haaren, sein Gesicht ist von Falten gezeichnet. Er sitzt auf einer kleinen Steinmauer:
    '"Damals gab es ja keine Steine, kein Eisen, um Häuser zu bauen. Deshalb haben wir einfach die Berge ausgehöhlt und wohnen da drin. Und es war auch sicher gegen die Feinde. Es gab viele Überfälle hier."
    Kandovan wurde zur Zeit des Mongolensturms vor 800 Jahren gegründet. Die Siedler fanden damals auf der Flucht vor den grausamen Eroberern in dem entlegenen Dorf eine neue Heimat. Aber es ist auch nicht ausgeschlossen, dass auch schon in früheren Zeiten Menschen hier lebten. Die Höhlenwohnungen befinden sich in den grauen Tuffsteinkegeln – nur Fenster und Türen verraten, dass hier Menschen wohnen. Regelmäßig kommen Touristen aus dem Ausland in das Dorf und viele Iraner, erzählt Hamid stolz – und sie sind willkommen:
    "Die Leute freuen sich, wenn hier Besuch kommt, weil sie gastfreundlich sind und sie lieben es, wenn Leute zu Besuch kommen. Sie kommen aus Tabriz, Mashad, Isfahan, Shiraz, also von überall her."
    Von Ferne sehen die Felsen aus wie der Wabenstock eines Bienenvolkes. Daher stammt auch der Name des Tuffsteindorfes, denn Kando bedeutet Honig-Wabe. Die einzelnen Stockwerke sehen aus wie Theaterlogen. Sie sind durch ockerfarbene steile Treppen und Holzbrücken miteinander verbunden.
    Erste Luxusherberge dieser Art im Iran
    Über eine Treppe geht es einen steilen Hügel hinauf. Oben hat man einen fantastischen Blick über das von Pappeln gesäumte, lang gestreckte Dorf mit seinen charakteristischen Tuffkegeln. Zwischen den Felsen schlängeln sich kleine Gassen hindurch. Für die Touristen wurde am Ortseingang ein Hotel errichtet. Die zehn Zimmer sind ganz im lokalen Stil in die Felswände hinein gebaut. Es ist die erste Luxusherberge ihrer Art im Iran:
    "Ja, dadurch, dass jetzt die Touristen kommen, ist es auch eine Geldeinnahmequelle. Die handeln und verkaufen ihre Produkte und freuen sich darüber. Und die Gärten, sie haben hier ja viele Gärten, werden jetzt anders genutzt. Dort kann man sitzen und es wird Tee serviert und hat somit auch eine Einnahmequelle."
    Die meisten Wohnungen sind in Richtung Süden ausgerichtet. So können die Sonnenstrahlen die Zimmer an kalten Tagen wärmen. Die Türen sind niedrig: etwa 1,60 Meter hoch und 1,20 Meter breit. Bei manchen Wohnungen besteht die Tür nur aus einem Stück Maschendrahtzaun. Die meisten Felsenbehausungen haben eine Art Innenhof – drinnen gibt es oft nur einen großen Raum und ein kleines Schlafzimmer, in dem früher die Tiere untergebracht waren. Die Zimmer sind alle sehr spartanisch eingerichtet.
    Einen Tisch gibt es nicht, denn die Bewohner essen auf dem teppichbelegten Fußboden. In den Felsen sind kleine Nischen gehauen – Sie dienen als Regal für Bücher oder Kochgeschirr. An der Decke hängen Lampen, die das Licht in die Behausungen bringen, denn durch die kleinen Fenster kommt sehr wenig Licht hinein. Die Stromleitungen verlaufen offen an den Wänden entlang und wirken eher so, als seien sie nur provisorisch angebracht. Aber sie scheinen zu funktionieren. Jede Wohnung besteht aus zwei, drei Etagen - in der obersten sind Lebensmittel untergebracht. Früher haben die Bewohner ihr eigenes Brot noch in einem Steinofen gebacken, doch inzwischen ist alles moderner geworden, erzählt Hamid:
    "Heute backt keiner mehr zuhause, es benutzt keiner mehr den Ofen. Heute wird mit Gas gekocht. Allerdings gibt es keine Gasleitungen, sondern jeder Bewohner hat Gasflaschen im Haus."
    Esel das wichtigste Transportmittel
    In Kandovan leben nur etwa 1.000 Menschen, sodass hier jeder jeden kennt. Gesprochen wird Aseri, eine mit dem Türkischen verwandte Sprache. Doch schon in der Schule lernen alle Farsi, die offizielle Sprache des Iran. Neben einer Schule gibt es auch eine Moschee und ein Badehaus. Leider wird die Höhlenmoschee gerade restauriert und ist deshalb geschlossen.
    In den Ställen neben den Häusern werden Schafe, Ziegen und Esel gehalten – in den steilen Gässchen gackern frei laufende Hühner. Esel sind hier das wichtigste Transportmittel, denn die Wege sind steil und steinig. In dieser Gegend herrscht ein ausgeglichenes Klima, im Umfeld der Ortschaft sieht man viele grüne Anbaufelder.
    Das grüne Tal im Norden von Kandovan ist ein wichtiges Zentrum für die Viehzucht. Die bäuerliche Bevölkerung lebt von den regionalen Erzeugnissen, insbesondere von der Schafzucht und vom Obstanbau. Das Dorf ist auch für seine guten Molkereiprodukte bekannt und den natürlichen Honig. Ein Bewohner hat vor seinem Haus einen kleinen Verkaufsstand aufgebaut:
    "Das ist Naturhonig in Körben, hier aus dieser Gegend, also Bienenhonig."
    Es duftet herrlich nach frischen Kräutern – Thymian, Estragon, Koriander, Minze und Dill. Daneben liegen Nüsse und Platten von Fruchtgelee:
    "Dies ist Granatapfel, dies ist Pflaume. Wir haben das selber gemacht, zuhause gekocht und dann in Plastik eingeschlagen und getrocknet."
    Natürlich dürfen die Köstlichkeiten auch probiert werden:
    "In chie? Was ist das? In Alu-e. Das ist Pflaume. Cheili choschmaze ast – merci. Daste schoma dard nakone. Hmm, es schmeckt sehr lecker."
    Die Besucher kaufen hier ihre Souvenirs. Und das für wenig Geld. Eine kleine bunte Handtasche aus weichem Leder kostet umgerechnet gerade mal acht Euro. Viele Frauen im Dorf beschäftigen sich mit Kunsthandwerk. Sie weben zum Beispiel Kelims, um sich ein kleines Zubrot zu verdienen.
    Ein iranisches Picknick
    Unten im Dorf befinden sich kleine Geschäfte, Cafés und Restaurants an einem Fluss. Am Ufer sitzen Familien mit ihren Kindern. Sie haben ihre Sofres ausgebreitet – große Tücher, verziert mit Stickereien und Borten. Darauf ausgebreitet iranische Köstlichkeiten: Safranreis, Fleischspieße, verschiedene Kräuter – Datteln, Nüsse und Gebäck. Ein iranisches Picknick.
    Vor einem Brunnen steht eine Gruppe von Touristen und schöpft Wasser. Angeblich soll es heilende Kräfte haben, erzählt Dorfbewohner Reza:
    "Das ist Quellwasser. Die Leute sagen, es würde gegen Nierensteine helfen. Sie füllen sich hier etwas ab und bringen es in die Stadt, wenn sie Probleme mit Nierensteinen haben. Ich weiß nicht, ob es gut ist oder nicht."
    Am Wegesrand spielt eine Gruppe fröhlicher Kinder ein typisch iranisches Spiel. Mit einem Stein müssen sie ein Holzstück treffen, wer am Ende mit seinem am nächsten dran ist, ist Sieger – ganz ähnlich wie beim französischen Boule:
    Regelmäßig nach der Schule trifft Kian sich mit seinen Freunden. Der Elfjährige ist klein und schmächtig. Seine schwarzen Haare trägt er schulterlang. Seine braunen Augen glänzen, wenn er spricht. Kian ist in Kandovan aufgewachsen - er lebt gerne hier:
    "Hier mag ich besonders die Landschaft und die alten Häuser, sie sind sehr schön. Die Einwohner sind alle miteinander befreundet. Wir gehen in den Bergen wandern oder einfach spazieren. Es macht uns Spaß, es ist schön, wir mögen das."
    Es ist spät geworden. Die Sonne geht langsam unter. Die Familien packen ihr Picknick zusammen und auch die anderen Tagesausflügler verlassen das außergewöhnliche Dorf. Kandovan ist derart außergewöhnlich, dass die internationale Tourismusorganisation den Ort für wert hält, ins Weltkulturerbe aufgenommen zu werden.