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Kinokritik
"Das brandneue Testament"

Der belgische Regisseur Jaco Van Dormaels bleibt in seinem vierter Film "Das brandneue Testament" skurrilen Geschichten über wunderliche Charaktere weiterhin treu: Wieder steht eine schrecklich nette Familie im Mittelpunkt sowie die Themen Bestimmung, Zufall und schicksalhafte Begegnungen.

Von Susanne Luerweg | 02.12.2015
    "Mein Vater lebte an einem miesen Ort, den er niemals verlassen hatte. Er hatte ein mieses Leben. Seine Frau hat er nie geliebt. Und er hatte zwei linke Hände. ..."
    Der hier beschriebene Vater ist kein Geringerer als der Allmächtige.
    "Ruhe! Ich arbeite."
    Das ist also Gott. Kein liebender, älterer Herr mit Rauschebart, sondern ein Tyrann und ungewaschener Prolet im karierten Morgenmantel und mit Badelatschen an den Füßen. Gespielt wird er von Benoît Poelvoorde.
    Fakt eins in Jaco van Dormaels Film: Gott existiert. Fakt zwei: Er lebt in Brüssel. Fakt drei: Er ist ein echter Kotzbrocken, der von seiner Tochter zutiefst verachtet wird. Oh ja – Gott hat hier Familie: Neben seinem aus dem Neuen Testament bereits bekannten Sohn auch eine Frau und eine kleine Tochter.
    Ein blasphemischer Film also? Keineswegs. Außer vielleicht für religiöse Fundamentalisten. Ein frecher, respektloser Film ist "Das brandneue Testament" dagegen schon. Denn Jaco van Dormael hat sich eine hintersinnige göttliche Tragikomödie ausgedacht.
    "Man spricht oft von seinem Sohn, aber sehr selten von seiner Tochter. Seine Tochter – das bin ich."
    Sie heißt Éa und fasst am Beginn von "Das brandneue Testament" noch einmal kurz die Schöpfungsgeschichte zusammen. Allerdings hat sich diese etwas anders zugetragen, als sie im Buch Genesis beschrieben wird. So habe sich ihr Vater, lässt uns Éa wissen, schon vor der Erschaffung der Welt ziemlich gelangweilt.
    "Und so schuf er Brüssel und auch ein paar Lebewesen. Aber das klappte nicht. Also schuf er den Menschen nach seinem Ebenbild. Mit ihm konnte er tun, was er wollte."
    Nur äußerst selten gönnt er den Menschen glückliche Erlebnisse. Den meisten Spaß hat Gott daran, wenn das Schicksal zuschlägt: angefangen bei den großen Naturkatastrophen bis hin zu den kleinen Unglücken des Alltags. Warum fällt das Marmeladenbrot immer auf die beschmierte Seite? Und warum klingelt das Telefon regelmäßig, wenn man in der Badewanne sitzt? All das geschieht nur, weil Gott an diesen Dingen seinen – sorry für das Wort – Heidenspaß hat. Éa jedenfalls hat endgültig die Nase voll von ihrem Vater: sowohl von seinen Launen zu Hause ...
    "Solange du hier wohnst, Éa, machst du das, was ich sage."
    Als auch von seinen sadistischen Spielchen mit der Menschheit. Und so fasst sie den Entschluss, von Zuhause abzuhauen. Von ihrem Bruder, der als Statue auf dem Wohnzimmerschrank steht und hin und wieder lebendig wird, holt sie sich noch ein paar Tipps.
    "Ich möchte so was machen wie du. Ich will hier abhauen. Mit ein paar Aposteln, die mir helfen. – Superidee mit den Aposteln."
    Doch bevor Éa mit Hilfe einer Waschmaschine in die Welt hinausgelangt.
    "Du stellst Synthetik ein – 40 Grad – und Schleudern mit 1.200 Umdrehungen. Dann öffnet sich eine Passage. Durch die kommst du raus."
    Und bevor sie sich ihre insgesamt sechs Apostel suchen wird, die für sie ein brandneues Testament schreiben sollen, sabotiert Éa noch schnell die Arbeit ihres Vaters. Dazu schleicht sie sich in die Schaltzentrale Gottes. In dem physikalisch nicht möglichen Raum innerhalb der Wohnung türmen sich Karteikästen mit den Lebensdaten aller Menschen bis in unendliche Höhen auf. Außerdem steht in der Mitte des Zimmers ein uralter Computer. Ohne den – und das ist einer von Jaco van Dormaels wunderbaren Einfällen – ist selbst Gott aufgeschmissen.
    "Hast du die Karteikarten? – Ja, und ich habe jedem auf der Welt verraten, wann er stirbt. – Dadurch wird der Alte total unglaubwürdig. Der flippt aus."
    Die Welt, in die Éa kommt, ist, nachdem sämtliche Menschen per SMS ihr Sterbedatum erhalten haben, nicht mehr dieselbe.
    Die Themen Bestimmung, Zufall und schicksalhafte Begegnungen ziehen sich wie ein roter Faden durch Jaco van Dormaels Filme. In "Das brandneue Testament" erlaubt sich der Belgier das Konzept Gott zu hinterfragen und ganz nebenbei die Rolle der Frau neu zu definieren. Das macht er – wie gewohnt – mit geradezu überbordender Fantasie. Dabei scheut van Dormael weder Sentimentalitäten noch Kitsch – vor allem dann, wenn Éa den sechs Aposteln begegnet.
    "Was machst du da? – Ich sammle die Tränen der Leute. Ich kann nicht weinen. Es gibt viele Dinge, die ich überhaupt nicht kann. Dafür kann ich die innere Musik der Menschen hören. Jeder hat seine kleine Musik. Willst du vielleicht wissen, welche du hast? – Ja. ..."
    Die Einheit von Skurrilem und Berührendem zeigt sich am deutlichsten in den Szenen mit Catherine Deneuve, die einen der sechs Apostel spielt. Sie wird die Liebe ihres Lebens in einem ausgewachsenen Gorilla finden.
    "Er sagt, dass er Sie gern mag. – Ich habe noch nie im Leben so etwas Schönes erlebt. Ein solcher Liebesbeweis. Ich bin glücklich."
    Glücklich macht auch diese verspielteund absurde, zu Herzen gehende und durch und durch humanistische Filmfantasie aus der fabelhaften Welt des Jaco van Dormael.