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Konzerthalle "Canecão" in Rio
Epizentrum des brasilianischen Widerstandes

Während in Rio die Olympischen Spiele stattfinden, kämpfen Brasiliens Künstler gegen die neue Regierung und den kulturellen Kahlschlag. Als Hauptquartier der Protestbewegung haben sie eine Kult-Konzerthalle wiederbelebt: das Canecão.

Von Julia Jaroschewski | 14.08.2016
    Die geschlossene Veranstaltungshalle Canecão in Rio de Janeiro.
    Nach der Schließung vor sechs Jahren bevölkerten nur noch Ratten das Canecão — bis Künstler vor zwei Wochen das Gebäude besetzten. (Foto: imago stock&people)
    Popmusik dröhnt aus der Villa des Fußballklubs Botafogo in Rio de Janeiro – Sportler und Fans aus Österreich feiern hier die Olympischen Spiele. Nur eine Straßenecke weiter ist es mit dem Glanz vorbei: im Hauptquartier des künstlerischen Widerstandes, dem Canecão, einer legendären Konzerthalle.Jahrelang stand diese leer, die Fassade ist mit Plakaten überklebt, voller Graffiti. "Fora Temer", "Raus Temer", steht überall. Nur noch ein Bogen erinnert an die glorreichen Zeiten der Konzerthalle, in der seit den 60er-Jahren bekannte brasilianische Musiker wieChico Buarque, Caetano Veloso oder Tom Jobim spielten.
    Nach der Schließung vor sechs Jahren bevölkerten nur noch Ratten das Canecão — bis Künstler vor zwei Wochen das Gebäude besetzten. Dort, wo früher VIP-Logen standen, sind jetzt Dutzende von Zelten aufgebaut. Auf der Bühne sitzen Kulturschaffende im Kreis und diskutieren und planen Protestaktionen gegen die neue Regierung — die die meisten, wie die Schauspielerin Lisa Brito, für Putschisten halten.
    "Wir haben ein konkretes Ziel: Fora Temer, weg mit Temer. Wir wollen die Bewegung unterstützen, die sich dafür einsetzt, dass Temer abtreten muss - ein Präsident, der nicht legal gewählt wurde."
    Mit der Auflösung des Kulturministeriums hat Interimspräsident Michel Temer Kreative im ganzen Land gegen sich aufgebracht. Auch in Rio haben sich Tausende in der Protestbewegung Ocupa MinC RJ zusammengeschlossen, zu Deutsch: "Besetzt das Kulturministerium".
    "Die Kunst ist unsere größte Waffe.Wir gehen auf die Straße, wir schreien, wir brüllen, wir besetzen Gebäude. So haben sie uns das Ministerium zurückgegeben. Wir haben auch ein großes Medienecho."
    Das Kulturministerium wurde nach den Protesten wiedereröffnet. Doch das ist nur ein Etappensieg, weiß Lisa Brito. Die 36-Jährige kritisiert, dass öffentliche Mittel für Schulen, Universitäten, Kulturprojekte gestrichen worden sind — bei Milliardenausgaben für die Olympischen Spiele.
    "Es ist traurig, zu sehen, welche Summen national und international in die Spiele investiert wurden. Die Mittel wurden einfach versenkt. Olympia-Projekte wurden nicht rechtzeitig fertiggestellt, oder sind kaputtgegangen – der neue Fahrradweg ist eingestürzt."
    Gegenentwurf zur konservativen Politik
    Auf das Versagen der Politik reagieren die brasilianischen Künstler mit Aktionen, die die Bevölkerung aufrütteln sollen. Das Canecão ist der Ort, der die Bewegung auch jenseits der verstreuten Straßenproteste zusammenhält. Musiker veranstalten hier Konzerte. Jeden Tag kommen neue Kunstwerke hinzu. Eine Installation aus bunten Papierdrachen hängt von der Decke, Graffiti zieren die Halle.
    Für den Studenten und Theaterdramaturgen Dieymes Pechincha ist das Canecão ein Ort, an dem die Künstler einen Gegenentwurf zur konservativen Politik entwickeln können, die Utopie einer gerechteren Gesellschaft.
    "Viele Gebäude, die wir Künstler besetzt hatten, wurden wieder geräumt. , wie gestern das Kulturministerium in Sao Paulo. Aber wir hier in Rio de Janeiro schaffen es noch, uns hier , mitten in der Stadt zu halten, in der die Olympischen Spiele stattfinden, und können von hier aus Aktionen planen, um während der Spiele auf den Putsch aufmerksam zu machen."
    Die Wiedergeburt des Canecão ist auch Symbol einer neuen Bewegung, die Künstler verschiedener Generationen, wohlhabende Kreative aber auch Aktivisten aus Favelas vereint. Stars wie Chico Buarque, die mit ihrer Musik früher gegen die Militärdiktatur in Brasilien gekämpft haben, unterstützen Ocupa MinC – und treten wieder im Canecão auf. Zur Eröffnungsparty sang Chico Buarque "Apesar de Você", eine bekannte Hymne gegen die Militärdiktatur. Hunderte junge Künstler sangen mit: "Morgen ist ein anderer Tag".