Dienstag, 07. Mai 2024


Kultur unplugged - Boipeba ohne Strom

Es gibt viele Geschichten aus der Zeit, bevor die Elektrizität nach Boipeba kam. Und sie kam spät: Erst 1985 wurde die Insel an die Stromversorgung angeschlossen. Vorher gab es nur Lampen, die mit Kerosin betrieben wurden. Der erste Strom kam vom Generator, jeden Tag von 18 bis 21 Uhr.

Von Jörg-Christian Schillmöller mit Fotos von Dirk Gebhardt | 31.07.2013
    Eine Viertelstunde vor Schluss erscholl ein Warnsignal über die Insel: Achtung, gleich wird abgeschaltet.

    "Es war eine unschuldige Zeit, als ich noch klein war", erzählt Roberto. Er ist Jahrgang 1959 und weiß viel über die Geschichte Brasiliens und Boipebas. Heute ist er "Unterbürgermeister" auf der Insel - ein Vertreter des Präfekten. Robertos Aufgabe: Wenn auf Boipeba jemand ein Problem hat, muss er es lösen.

    Geboren wurde Roberto auf einem Kanu: Seine Eltern waren Palmen-Farmer und lebten auf einer Fazenda auf der Nachbarinsel Tinharé. Drei Häuser, sonst nichts. Zu Robertos Geburt ruderten der Vater und die Brüder die Mutter nach Boipeba zur Oma, die Hebamme war. Doch die Zeit reichte nicht: Der kleine Roberto wurde noch bei der Ankunft im Hafen von Boipeba geboren. Dort durchtrennte die herbeieilende Oma eigenhändig die Nabelschnur.

    Boipeba - Roberto erzählt von seiner Kindheit
    Boipeba - Roberto erzählt von seiner Kindheit (Dirk Gebhardt)
    "In meiner Kindheit liefen wir zu Hause nackt herum wie die Indianer. Das war wunderbar", erzählt er. "Nur wenn Besuch kam, zogen wir uns an." Das Spielzeug bauten sich die Kinder selbst: Autos aus Kokosnüssen, Wurfspiele mit Cashew-Nüssen. Fischen und Schwimmen mussten alle 16 Geschwister (neun leben noch) sehr früh lernen, da kannte der Vater kein Pardon.

    Sonderformat 4 zu 2 40 Breite: Boipeba vor langer Zeit
    Boipeba vor langer Zeit (Roberto aus Boipeba)
    Überhaupt sei er ziemlich streng gewesen, der Papa, meint Roberto. "Aber er war auch sehr musikalisch." Robertos Vater spielte Bandolin, eine kleine, bauchige Gitarre mit acht Saiten. In den Liedern ging es um die Liebe, und die Rhythmen waren Walzer oder "samba cansão", eine lyrische Form des Sambas. Der Vater war bekannt im ganzen Archipel: Er wurde regelmäßig eingeladen, um auf Festen zu spielen.

    Zum Glück sind die Lieder erhalten: Robertos Bruder Genivaldo wohnt bis heute ebenfalls auf Boipeba, und er hat das Bandolin-Spielen einst vom Vater gelernt. Und nicht nur das: Genivaldo hat sich selbst Lieder ausgedacht - und zwar auf See, beim Fischen. Gerne greift er zum Bandolin, als wir ihn abends zu Hause besuchen.

    Wir gehen durch das Haus nach hinten auf die Terrasse, wo Wäsche hängt, die Genivaldo schnell zur Seite schiebt. Roberto setzt sich dazu und trommelt den Rhythmus - auf einem leeren 20-Liter-Wasserspender aus Plastik (wie sie in deutschen Arztpraxen stehen).

    Genivaldo singt über Boipeba, über die Schönheit der Insel. In seinen Liedern tauchen die Namen der Strände auf, Cueira und Moreré zum Beispiel. Aufgeschrieben hat er nichts von alldem, weder den Text noch die Noten. "Das ist alles hier drin", sagt er und deutet auf seinen Kopf.




    Seine Nichte hat damit begonnen, die Texte der Lieder zu notieren, damit sie nicht verloren gehen. Ungereimt auf Deutsch übersetzt, klingt das etwa so:

    "Ich werde verreisen und tue das ohne Kompromisse. Ich fahre nach Boipeba, Boipeba ist das Paradies. Wenn Du Ruhe suchst, komm' ohne Furcht und schau unseren Schutzheiligen an, der göttliche Heilige Geist, ewiges Wunder. Es gibt hier schöne Strände, schöne Frauen, und zwar viele. Es gibt die Strände Mangabeira, Cueira und Tassimirím. Ich fahre mit dem Schiff, ich gehe zu Fuß, ich werde Moreré besuchen. Ich bin ein echter Boipebano und geh' zum Strand von Bainema."

    Alltagskultur aus einer anderen Zeit: Die Familie verbrachte damals viel Zeit miteinander, wenn es abends dämmerte. Weil Boipeba nahe am Äquator liegt, wird es hier früh dunkel, jeden Tag gegen 18 Uhr. "Danach saßen wir immer zusammen", erzählt Roberto. "Wir machten Musik, wir spielten zusammen und erzählten uns Geschichten und Rätsel." Eines der Rätsel klingt ganz einfach: "Ein großes Feld, winzige Kühe, eine schöne Frau und ein Mann mit langen Beinen - was ist das?"

    Die Antwort: Der Himmel, die Sterne, der Mond und die Sonne mit ihren Strahlen.

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    Jörg-Christian Schillmöller
    ist seit 2001 Nachrichtenredakteur beim Deutschlandfunk. Er war mehrfach für den Sender im Ausland auf Reportage-Reisen - zuletzt 2012 mit Dirk Gebhardt im Iran. Brasilien hat er im vergangenen Jahr entdeckt.

    Dirk Gebhardt ist Fotograf und Professor für Bildjournalismus an der FH Dortmund. Er arbeitet seit Frühjahr 2012 an einer Langzeit-Dokumentation über den Sertão, eine Trockenwüste im Nordosten Brasiliens. Fotografiert hat er neben Südamerika auch in Afrika und auf dem Balkan.
    Karte von Boipeba