Donnerstag, 09. Mai 2024

Archiv


Kunst zwischen grauen Felsen auf Fogo Island

Zurück auf ihre Insel wollte Zita Cobb, aber dort auch etwas bewirken. Heute gibt es auf Fogo Island, einer kleinen Insel vor der Nordostküste der kanadischen Provinz Neufundland, Kunst - und Aufbruchstimmung.

Von Gesa Ufer | 09.04.2012
    Wie der blendend weiße Zacken eines abgesplitterten Stück Eises ragt eine spitze Fassade zwischen grauen Felsen empor - nicht unähnlich dem Eisberg, der draußen im Nordatlantik vorüberzieht. "The Squish" hinter Tilting ist eines der vier neuen Künstlerstudios, die Fogo Island wie moderne Ausrufezeichen zieren. "The Bridge" über Deep Bay ragt auf Stelzen über einen See, "The Tower" bei Barr`d Islands" erinnert an eine Navigations-Landmarke, "The long Studio" erstreckt sich als überdimensionierte, weiße Röhre über rötlich leuchtenden Fels. Und alle signalisieren sie: Es tut sich was auf Fogo Island, es geht voran.

    Entworfen hat sie der neufundländische Architekt Todd Saunders, in weißem und schwarzem Holz, und mit einer stets unterschiedlichen Silhouette, je nachdem, von welcher Seite man kommt:

    "Eigentlich haben die Landschaft und meine Architektur gar keine Verbindung. Die Gebäude sind nicht auf Dauer angelegt, sie sind leicht, fast wie ein sanfter Fußabdruck. Wenn sie in 100 oder 200 Jahren verschwunden sind, bleibt die Landschaft ganz unangetastet zurück."
    Fogo, eine Insel vor der Nordostküste der kanadischen Provinz Neufundland, ist 25 Kilometer lang und 14 Kilometer breit. Es wurde im 18. Jahrhundert von Engländern und Iren besiedelt und hat elf Dörfer. Mit dem Fangverbot für Kabeljau 1992 brach das wirtschaftliche Fundament zusammen. Von einst 6000 sank die Einwohnerzahl auf heute 2700. Viele zogen weg nach Alberta zum Arbeiten. Andere fischten weiter auf Makrele oder Shrimps. Wieder andere kamen im Gas- und Ölgeschäft unter.

    Tourismus könnte zu einem neuen Standbein werden, dachten einige. Und hier kommt Zita Cobb ins Spiel, eine energische, schlanke Frau mit rotblonden Fransen und breitem Lachen. Im Jahre 2007 gründete die heute 54-Jährige die "Shorefast"-Stiftung. Als Managerin in der Glasfaser-Industrie in Kalifornien hatte sie ein Vermögen von umgerechnet 46 Millionen Euro gemacht und beschlossen, mit einem Teil davon ihrer Heimatinsel zu neuer Blüte zu verhelfen:

    "Anfangs waren 16 Millionen kanadische Dollar für das Projekt geplant – umgerechnet zehn Millionen Euro. Sechs Millionen von uns, je fünf von der neufundländischen und der kanadischen Regierung. Jetzt, nach zweieinhalb Jahren, haben wir zwölf, oder vielleicht sogar schon 15 Millionen hineingesteckt. Am Ende werden es wohl 20 sein – hinausgeschmissenes Geld, wie mein Onkel sagen würde."

    Umgerechnet 13 Millionen Euro "hinausgeschmissenes Geld": Was bringt eine kluge, vorausschauende Geschäftsfrau dazu, solche Summen in einen windigen, meerumtosten Felsen im Atlantik zu investieren? Sentimentalität?

    "Ich will nicht dabei zusehen, wie die Leute in meinem Zuhause immer weniger werden. Ich will nicht, dass das Leben meiner Eltern nachträglich keinen Sinn mehr macht. Ich habe hier auf diesen Felsen, auf denen ich aufgewachsen bin, einiges gelernt. Und alles, was ich mir später in der Geschäftswelt an Fähigkeiten angeeignet habe, macht für mich eigentlich nur Sinn, wenn ich es auf andere Weise nützlich anwende. Dann ist mein Leben vielleicht nicht ganz umsonst."

    Zita Cobb sieht ihr Millionen gut angelegt. Es sind Investitionen in die Vision einer Zukunft, in der die traditionelle Kultur ihren Platz hat und die Leute auf der Basis verschiedener wirtschaftlicher Fundamente ein Auskommen finden. Dafür vergibt die Stiftung Kleinkredite an Existenzgründer, unterstützt Bemühungen um nachhaltige Fischerei und hält die schon fast verschwundene Kunst des Baus von hölzernen Ruderbooten am Leben.

    Vor allem aber spielen Kunst und Tourismus in diesem Drehbuch des Wandels eine wichtige Rolle: Fogo Island soll zum Reiseziel einer so aufgeschlossenen wie ausgebefreudigen internationalen Klientel werden.

    Staksig und ausladend ragt an der Küste ein unfertiges Ensemble aus Eisenpfeilern, Betonträgern und Glasflächen hoch. Um die 50 Leute von Fogo arbeiten hier und bauen zwischen flechtenüberzogenen Felsen und duftendem Labradortea, was nach seiner Eröffnung im Herbst dieses Jahres das touristische Flaggschiff der Insel werden soll: "The Inn".

    Die 29 Zimmer des neuen Hotels werden Fenster zur See hin haben, wo im Sommer die Wale blasen. Es gibt eine Kunstgalerie und eine Sauna auf dem Dach. Und während die Gäste hinter der Glasfront des Speisesaals erlesen speisen, donnert der Nordatlantik über die schwarzglänzenden Felsen heran.

    Darüberhinaus werden Landschaft, Fischerkultur und zeitgenössische Kunst versprochen - sowie jene warmherzige, etwas bärbeißige Gastfreundschaft, die "in uns Neufundländern quasi genetisch verankert ist", wie Zita Cobb meint:

    "Unsere Gastfreundschaft wird sich von der in der ganzen Welt unterscheiden. Es ist die Gastfreundschaft von Fogo. Unsere Gäste sollen sich nicht viel anders fühlen, als wären sie bei meinem Onkel Pete zu Besuch. Es gibt kein falsches Lächeln. Vielleicht geht es manchmal ein bisschen rauher zu, als anderswo, aber man fühlt immer, dass Herz dahinter steckt.""

    Es gibt sie wirklich, diese Gastfreundschaft von Fogo. An diesem Samstagabend treffen sich im Bootsschuppen in Tilting Einwohner und ein paar Touristen zum Singen und Erzählen.

    Die Geschichten und Gedichte handeln von dem Kind, das man im Winter 1937 nicht begraben konnte, von tapferen Helden auf Schiffen und vom Leben an und auf der See. Insulaner wie Fremde singen gemeinsam. Und das Bedauern, um 24 Uhr, dass die Gäste "jetzt schon" gehen müssen, ist echt.

    Auch die modernen Künstler sind schon da. Sie haben gezeichnet, mit Tönen experimentiert und aufgeschrieben, mit welcher Genauigkeit die alten Fischer jeden winzigen Felsen ihrer Küste zu beschreiben wissen. Natürlich soll Kunst auch eine Attraktion für Besucher werden. Aber die Erwartungen sind viel höher, sagt die Isländerin Elísabet Gunnarsdóttir, die für das Künstlerprogramm zuständig ist:

    "Wenn die Künstler, die Schriftsteller und Filmemacher auf der Insel sind, ermutigen sie vielleicht junge Leute, wieder vom Festland zurückzukommen. Die sehen, dass etwas Interessantes vor sich geht, etwas sehr Aktuelles, Zukunftsweisendes – und nicht immer nur dieser nostalgische Blick auf die Vergangenheit. Wir hoffen auch, dass die Leute auf der Insel durch die Kunst auf ungewöhnliche Gedanken kommen, etwas riskieren, neue Geschäftsideen ausprobieren."

    Die Künstler wohnen während ihres Aufenthalts in restaurierten Fischerhäusern und gehören für zwei, drei Monate zu den Menschen im Dorf. Die Meinungen über Kunst gehen da schon mal auseinander.

    "Wie einer der Handwerker zu mir sagte: Warum haben wir all die schönen Fenster eingesetzt? Die malen ja doch keine Landschaften."

    Gerade ist eine kanadische Schauspielgruppe zu Gast auf der Insel und beschäftigt sich mit dem norwegischen Dramatiker Henrik Ibsen. An diesem Abend führt die Truppe in der ehemaligen anglikanischen Kirche, die Shorefast zu einem Veranstaltungszentrum umgebaut hat, Szenen aus "Nora", "Peer Gynt" und "Die Wildente" auf.

    Zwei Stunden lang herrscht äußerste Konzentration bei Zimmerleuten, Lehrerinnen, Touristen und Fischern. Was der norwegische Dramatiker über das Gefängnis der Konventionen zu sagen hat, oder ein Leben, das bedeutungslos geworden ist, scheint einige von ihnen tief zu berühren – hat doch auch ihre Existenz vor 20 Jahren durch den Fangstopp scheinbar ihren Sinn verloren.

    Die Schönheit der Landschaft auf Fogo bringt die einen zum Schwärmen und lässt die anderen verstummen. Am Meer und der zerschrammten Küste führt der Wind sein ewiges Regiment und könnte den Wanderer, wenn er wollte, mühelos vom markanten Brimstone Head blasen - einem der vier Eckpunkte der flachen Erde übrigens, glaubt man der "Flat Earth Society". Im Inneren der Insel leuchten Moore, über die Karibus ziehen, kümmerliche Birken stemmen sich hoch und in Tümpeln spiegelt sich mal schmutziges Grau, dann wieder ein Blau, so dunkel, dass es keinen Grund zu finden scheint.

    Ihre Natur lieben die Inselbewohner seit Jahrhunderten. Erst seit vier Jahren aber genießen sie ein ganz neues, zivilisatorisches Vergnügen: Sie gehen essen. Aber das hat eine Weile gedauert, sagt Nicole Torraville , die "Nicole`s Cafe" betreibt.

    "Als wir aufgemacht haben, haben wir die Tische wunderschön eingedeckt, wie sich das für ein Restaurant gehört, mit Gläsern, Besteck und Servietten. Es kamen Gäste – aber einfach keine Einheimischen. Ein Jahr hat es gedauert, dann hat einer mir endlich verraten: 'Ich kann leider nicht kommen. Ich trinke keinen Wein.' - 'Aber Du musst doch keinen Wein trinken', hab ich gesagt: 'Du kannst doch auch Tee haben oder Bier.' - 'Wie?', meinte er: 'Ich hab` doch durchs Fenster immer all die vornehmen Gläser gesehen.' Was meinen Sie, wie schnell wir die abgeräumt und alles gemütlich gemacht haben."

    Die 35-jährige gelernte Diätassistentin ist eine derjenigen, die ihren beruflichen Start der Shorefast-Stiftung verdankt. Sie hatte in der Hauptstadt St. John`s gearbeitet und kam zurück nach Fogo, um ein kleines Cafe zu eröffnen. Von Zita Cobb bekam sie ein zinsgünstiges Darlehen und, noch wichtiger, einen Berater:

    "Zita sagte: 'Was hältst Du von einem richtigen Küchenchef, der die Leute ausbildet?' Und dann hat sie uns einen Spezialisten aus Ottawa geschickt. Normalerweise kriegen die Leute, die sich beruflich auf eigene Füße stellen, von der Stiftung Darlehen mit niederen Zinsen. Aber sie hilft auch noch anders. Sie schickt Berater wie Rechtsanwälte oder Buchhalter vorbei. Man zahlt dann nur die Stunden, die diese Experten für einen arbeiten – allein könnte man sie sich nie leisten."

    Drei Monate lang finanzierte die Stiftung Küchenchef Steve Vardy, der ein Konzept erstellte, Rezepte entwarf und die neuen Angestellten unterwies. Es hat sich gelohnt. Zwar gibt es in "Nicole`s Cafe" durchaus noch die neufundländischen Klassiker wie etwa "Jigs Dinner", gekochtes Salzfleisch mit Kartoffeln und Kohl – eine deftige Angelegenheit für Schwerarbeiter:

    "Wenn man den ganzen Tag fischte, wie mein Vater, musste man etwas Handfestes im Magen haben, weil man ja kein Essen mit hinausnehmen konnte. Mein Vater hat zwei Teller davon gegessen – wer streng schuftet, braucht so etwas einfach."

    Daneben aber stehen Gerichte auf der Karte, von denen man in Neufundland bis dahin noch nie gehört hatte. Pastete von der Königskrabbe. Jakobsmuscheln mit Tomatenrelish. Oder auch Papardelle mit Salzfleisch.

    "Das sind Nudeln mit karamelisierten Rübchen, Knoblauch und fein zerpflücktem Salzfleisch. Dazu gibt es frisches Gemüse, je nach Saison. Das ist traditionell von den Zutaten her – und doch modern und leicht in der Zubereitung."

    Es ist nur verständlich, dass all die geplanten Umwälzungen nicht die ungeteilte Zustimmung aller finden. Den einen ist die Architektur zu aufdringlich, die anderen sehen das viele Geld an der falschen Stelle investiert.

    "Einer meiner Nachbarn sagt immer, wenn er mich trifft: 'Wenn ich Du wäre.' Was er meint ist: 'Wenn ich Dein Geld hätte.' Eine Menge Leute kommen mit Vorschlägen: 'Warum machst Du nicht dies, warum finanzierst Du nicht jenes?' Eine Frau hat ganz konkret gesagt: 'Warum stellst Du dieses komische Firlefanz-Hotel hin? Warum baust Du nicht stattdessen ein Altersheim für uns?'"

    Im Großen und Ganzen aber ist die Stimmung der Stiftung gegenüber positiv. Der ehemalige Fischer und Lehrer Roy Dwyer sieht die Sache so:

    ""Shorefast betritt Neuland, hier in unserer traditionellen Kultur. Aber wir kommen damit zurecht, es sind interessante Zeiten. Eigentlich gibt es erstaunlich wenig Diskussion über das, was da vor sich geht. Die Leute gewöhnen sich schnell an alles Neue. Kürzlich sagte einer: Künstlerstudio? Was für ein Studio? Man nimmt diese modernen Gebäude schon als selbstverständlich hin - einfach weil sie schon eine Weile da stehen."

    Die Sorge allerdings, dass die Insel unter einem Ansturm von Touristen ihr Gesicht verändern könnte, die nimmt auch Zita Cobb ernst. Dass Kultur zur Folklore wird, eine "Tim Horton"-Filiale mit ihren Doughnuts den "Island Bake Shop" ablöst und der Zug zum schnellen Dollar die gelassene Gastfreundschaft der Insulaner erstickt – die Gefahr besteht durchaus.

    "Ich mag diese Diskussion, weil sie hoffentlich dazu führt, dass wir das Richtige tun. Jede Gruppe und jede Person auf der Insel muss da mitreden: Werden zuviele Touristen kommen? Wächst uns das alles über den Kopf? Ich glaube,die Antwort liegt in der richtigen Größe. Dieses Hotel hat nicht hundert, sondern nur 29 Zimmer. Weil wir davon ausgehen, dass das etwa die Anzahl von Menschen ist, die die Insel auf einmal ins Herz zu schließen vermag."

    Auch ein elektronisches Kino hat die Shorefast-Stiftung eingerichtet. Einmal in der Woche werden dort aktuelle Filme gezeigt, frisches Popcorn inklusive.

    Jederzeit aber kann man sich alte Dokumentarstreifen über die Insel ansehen. In den 1960er-Jahren gab es in Neufundland das politische Bestreben, die entlegenen Küstenorte aufzugeben, weil der Unterhalt zu teuer kam. Joey Smallwood, der damalige Premier, warb auf Fogo dafür:

    "Früher war man glücklich, wenn man ein bescheidenes Leben führen konnte – manche hätten ihre Seele dafür verkauft. Doch das reicht der jungen Generation nicht mehr. Junge Leute wollen heute ein aufregendes, ein interessantes, ein sinnvolles Leben führen. Nur Arbeit zu haben, reicht ihnen doch längst nicht mehr aus!"

    Ein interessantes Leben aber, meinte Joey Smallwood, könnte Fogo Island ihnen wahrlich nicht bieten. Weshalb die Inselbewohner besser in belebtere Gegenden umsiedeln sollten. Aber Neufundländer, die ihre Heimat verlassen, denen fehlt etwas ganz Entscheidendes, sagt Zita Cobb, die selbst jahrelang auf dem Festland gelebt hat.

    "Was habe ich die Felsen vermisst! Es ist schrecklich, vom Meer weg zu sein, wenn man da aufgewachsen ist. Die See ist immer in Bewegung. Und wenn sie nicht mehr da ist, fehlt einfach eine ganze Dimension. Eine Welt ohne Meer ist statisch. Ich habe mich immer wie im Exil gefühlt: Alles war weg, was mir einst Geborgenheit gab."

    So geht es vielen Frauen und Männern, die Fogo verlassen mussten. Aber ein interessantes Leben auf der Insel zu schaffen – genau diese Aufgabe hat sich die Shorefast-Stifung gestellt. Ein aufregendes, ein sinnvolles Leben, ein Leben, das junge Leute dazu bewegen könnte, aus den belebteren Gegenden wieder in ihre abgelegene Heimat zurückkehren.