Dienstag, 07. Mai 2024

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Lethe

Da war doch noch etwas. An alles hat die Kulturwissenschaft gedacht. Sie hat Tischsitten und Schlafgewohnheiten erforscht, Erzählformen und Mitteilungstechniken, Angstträume und Glückszustände. Mit Vorliebe wendet sie ihre Aufmerksamkeit dem Gedächtnis zu. Denn das Gedächtnis ist ihre eigene Sache. Die Kulturwissenschaft macht Unlesbares wieder lesbar und Vergangenes wieder gegenwärtig. Sie erinnert sich an alles, besonders gern an Erinnerungswerkzeuge, an Fotografien, Denkmäler, Akten und Bücher. Aber war da nicht noch etwas? Harald Weinrich hat bei seinen Kollegen einen lokalen Gedächtnisverlust festgestellt. Sie haben das Vergessen vergessen.

Patrick Bahners | 01.01.1980
    Weinrich ist den Spuren jener seltsamen Kulturtechnik nachgegangen, die nur funktioniert, wenn sie unbemerkt bleibt. Die Erinnerung füllt Bände, das Vergessen macht sich dünn. Diese Diskretion vermag zu erklären, daß Professoren nur selten Notiz vom Vergessen genommen haben, zumal seit der Antike bekannt ist, daß Gelehrte zur Zerstreutheit und Vergeßlichkeit neigen. So soll der griechische Philosoph Karneades bei Tisch regelmäßig vergessen haben, den Löffel zum Mund zu führen. Seine Frau mußte ihn füttern wie ein kleines Kind. Der römische Anekdotensammler Valerius Maximus überliefert diese Geschichte, Weinrich erzählt sie ihm nach.

    So geht der Autor durchweg vor. Sein Material schöpft er aus der Weltliteratur. Er scheut sich nicht, auch bei den berühmtesten Stoffen ganz von vorn anzufangen, denn er rechnet mit gebildeten, also zerstreuten Lesern, die manches Abenteuer des Don Quixote oder sogar seine ganze Geschichte vergessen haben. Weinrich legt keine systematische Abhandlung vor, keine psychologische Studie über ein Versagen, das zugleich eine Leistung ist, keinen moralphilosophischen Traktat über ein Fehlverhalten, bei dem kein Vorsatz vorliegt. Unsachlich ist Weinrichs narratives Verfahren nicht; im Gegenteil hängt es mit der Sache eng zusammen. Denn die Erzählung steht zum Problem des Gedächtnisses in einem zweideutigen Verhältnis. Dem Leser erleichtert sie die Erinnerung; den Autor verführt sie zur Vergeßlichkeit.

    Den Nutzen des historischen Vorgehens kann Weinrich gerade an dem Denker illustrieren, dessen Philosophie mit einer Kritik aller traditionellen Gedanken und konventionellen Erzählungen beginnt. In der "Abhandlung über die Methode" schildert Descartes, wie er zu der Einsicht kam, daß er sein Gedächtnis entrümpeln mußte, um zu sicherem Wissen zu gelangen. Diese Schilderung enthält viele autobiographische Details, die nach cartesianischen Beweisregeln gar nicht zur Sache gehören. Warum rückt Descartes dem Leser mit Erinnerungen an den Kriegswinter des Jahres 1619 zu Leibe, den er als bayerischer Offizier in Frankfurt verbrachte? Seine Erzählung verknüpft die Entdeckung einer denkbar allgemeinen Wahrheit mit Einzelheiten, die zwar äußerlich, aber anschaulich sind. Merkt der Leser sich diese farbigen Bilder, dann steht zu erwarten, daß er auch die unsinnliche Wahrheit nicht vergessen wird.

    Die Offenheit der narrativen Form gestattet es, Ideen zu überraschenden und daher einprägsamen Konfigurationen zusammenzustellen. In der lockeren Form liegt allerdings auch eine Gefahr. Der Erzähler kommt vom einen aufs andere; was er einmal zu erwähnen versäumt, fällt ihm vielleicht nie wieder ein. Es gibt daher keine Geschichte, die man nicht ergänzen kann; der Reiz von Weinrichs Buch besteht auch darin, daß jedem Leser etwas anderes einfallen wird, das der Autor vergessen hat. Wer eine Sache gründlich bedenken will, muß von vielem absehen. Das war schon bei Karneades so, der sich nur deshalb auf die Metaphysik konzentrieren konnte, weil er sich über die Physik der Nahrungsaufnahme keine Gedanken machen mußte. Wenn die moderne Wissenschaft seit Descartes von allen ungenauen Meinungen abstrahiert, weil sie es ganz genau wissen will, radikalisiert sie nur die antike Ökonomie des Gedächtnishaushalts.

    Das Vergessen ist also mitnichten einfach die Negation der Erinnerung. Es ist Gegenspieler, aber auch Mitspieler. Der Neugier gegenüber, die alles für wissenswert hält, ist es der Geist, der stets verneint. Wer nichts vergäße, behielte nichts. Das gilt aber auch umgekehrt: Wer nie Vokabeln pauken mußte, kennt das Glücksgefühl des freien Kopfes nicht. Die Symbiose von Vergessen und Erinnerung im Gedächtnis ist das erstaunlichste Produkt der Evolution des Geistes, rätselhaft und simpel zugleich. Ein Ziel kann man dieser Evolution nicht unterstellen. Es läßt sich keine Geschichte denken, an deren Ende die unfehlbare Erinnerung stünde; auch diese Geschichte könnte jemand vergessen. Andersherum kann man sich auch keine Geschichte vorstellen, die mit dem totalen Vergessen endete; wer sollte diese Geschichte noch erzählen?

    Die Hoffnung, daß die gigantischen Speicherkapazitäten der künstlichen Denkapparate der menschlichen Gedächtnisschwäche aufhelfen werden, teilt Weinrich nicht. Einer Geistesgeschichte, die sich als Mediengeschichte inszeniert, muß sein Buch hoffnungslos altmodisch vorkommen, eine Botschaft aus einer vergessenen Welt. Alle technischen Verbesserungen der Datenverarbeitung seit dem Buchdruck haben nach Weinrich nur einen Zustand erneuert, den schon das erste Aufschreibesystem von allen herbeigeführt hat, die Schrift. Seit man einen Gedanken nicht nur durch Auswendiglernen, sondern auch durch Aufschreiben festhalten kann, hat die Schicksalsgemeinschaft von Erinnerung und Vergessen eine neue, nicht mehr steigerbare Intimität erreicht. Man kann behaupten, das eine sei eigentlich dasselbe wie das andere. Die Schrift entlastet die Menschen davon, unablässig zu memorieren, was weitergegeben werden soll. Was aufgeschrieben wird, kann getrost vergessen werden. Platon sagt daher, die Kunst zu schreiben habe das Gedächtnis zugrundegerichtet, und Kant setzt hinzu, etwas Wahres sei an diesem Satz. Enzensberger übersetzt das platonische Motiv nur in die Sprache des technischen Zeitalters, wenn er in einem Gedicht definiert "gespeichert, das heißt vergessen".

    Zum Lob des Computers muß gesagt werden, daß er Aufzeichnungen zuläßt, die sich selbst vernichten. Hier geht Enzensbergers Gleichung nicht auf. Was nur auf Zeit gespeichert wird, ist nicht völlig vergessen. Wenigstens den Zeitpunkt der automatischen Löschung wird sich der Benutzer merken müssen, um die Daten notfalls rechtzeitig zu kopieren. Die moderne Wissenschaft führt gerne die Vorläufigkeit ihrer Hypothesen im Munde. Bezeichnenderweise erwartet sie aber vom Computer die Emanzipation vom Papier, die Unabhängigkeit der Schrift vom natürlichen Zerfall der Schreibmaterialien. Insgeheim wollen alle Wissenschaftler wie Descartes unbezweifelbares, also unvergängliches Wissen niederlegen. Niemand würde in einer elektronischen Fachzeitschrift publizieren, deren ältere Jahrgänge sich nach einer gewissen Frist selbst zerstören würden. Da desto weniger gelesen werden kann, je mehr geschrieben wird, zieht die Wissenschaft den Verdacht auf sich, sie organisiere nicht die Erinnerung, sondern das Vergessen.

    In einem witzigen Epilog legt Weinrich seinen Kollegen nahe, die verdrängte, also gewaltsam vergessene Schattenseite der Wissensproduktion ans Licht zu heben. Er skizziert einen wissenschaftlichen Oblivionismus, eine Kunstlehre der akademischen Vergeßlichkeit. Unablässig wird in der Wissenschaft vergessen, gewöhnlich absichtslos: Meist fehlt einfach die Zeit, den neuen Aufsatz auch noch oder das alte Standardwerk erneut zu lesen. Nach Weinrich käme es darauf an, schon vorab die Texte auszusondern, die man nach der Lektüre ohnehin für vergessenswert halten wird. Das Vorhaben, die Zerstreutheit zu systematisieren, ist paradox; schwer zu sagen, ob es eher an den idealistischen Wahn des Don Quixote oder an die Bauernschläue Sancho Pansas erinnert. Eine Diätetik der Wissensaufnahme wäre zu entwickeln. Während auch die Nachfolger des Karneades darauf vertrauen dürfen, daß sie nicht Hungers leiden werden, selbst wenn sie ihre Umwelt völlig vergessen, wissen nur wenige auf ihre intellektuelle Linie zu achten.

    In der Praxis der Naturwissenschaftler findet Weinrich immerhin einige Faustregeln über Verfallsdaten von Theorien und Gütesiegel von Publikationsorten. Es ist sogar möglich, diese Anweisungen zu einer goldenen Regel zu vereinigen, zur Weltformel des wissenschaftlichen Universums. Sie lautet: Folge dem Mainstream der Forschung, alles andere kannst du vergessen. An dieser Stelle aber stockt der Philologe, dessen Talent es ist, an unscheinbaren Redewendungen verborgene Bedeutungen freizulegen, sei es bei Dichtern, sei es im großen anonymen Gedicht, der Sprache. Der Hauptstrom, dem man sich anpaßt, ohne sich Ballast aufzuladen, ohne zurückzuschauen, ohne die Ufer zu erkunden, scheint immer nur in bekannte Gefilde zu führen; wer Neues entdecken will, muß sich absetzen und darf Umwege nicht scheuen. Die Umkehrung der goldenen Regel ist mindestens ebenso plausibel: Den Mainstream der Forschung, dem alle folgen, kannst du vergessen. Im Fluß ohne Wiederkehr, in dem für alle Zeiten ein Paradigma das andere ablöst, erkennt Weinrich den Strom wieder, der seinem Buch den Titel gegeben hat: die Lethe.

    Wer den Oblivionismus beherzigt und nie vergißt, was er vergessen kann, entkommt dem Paradox des Gedächtnisses also nicht: Jede Erinnerung kann eine Art des Vergessens sein. Es bleibt nur der Trost, daß das Vergessen umgekehrt vielleicht eine Art der Erinnerung ist. Für Weinrich gehört zum Begriff des Vergessenen, daß es wiederkehren kann. Dem Zweifel an der kunstgerechten Erinnerung entspricht der Glaube an eine Tiefenschicht des Bewußtseins, wo nichts verloren geht, weil Wille und Verstand in diese Region nicht hinabreichen. An Mallarmé und Valéry zeigt Weinrich, daß eine Quelle des Wahrheitsanspruchs der modernen Dichtung ein solcher emphatischer Begriff des Vergessens ist. Mallarmé spricht von der Blume, die von anderer Art als die bekannten Kelche und aus allen Sträußen abwesend ist: Musikalisch erhebt sie sich aus dem Vergessen. Poesie wird zur Wiedererinnerung eines Ungedachten, ja Undenkbaren.

    Der selbstvergessene Karneades war in der Antike auch als warnendes Beispiel für die gefährliche Selbstbeherrschung der Philosophen berühmt. Er hatte in Rom an zwei aufeinander folgenden Tagen zwei Vorträge über die Gerechtigkeit gehalten, einen für und einen gegen diese Tugend, zu deren Voraussetzungen ein gutes Gedächtnis gehört, das Gleichbehandlung ermöglicht. Daß der Redner über Nacht seine Worte vergessen hatte, darf man wohl ausschließen. Folgt man Weinrich von Kapitel zu Kapitel, mag man meinen, er spreche sich manchmal für und dann wieder gegen das Vergessen aus. Wo aber der Sophist seinen Zuhörern jeweils die Illusion vermittelte, eine Entscheidung für oder gegen die Gerechtigkeit könne man schlüssig begründen, da erweckt Weinrich nie den Eindruck, die Zwiespältigkeit des Vergessens lasse sich durch begriffliche Anstrengung entschärfen. An älteren Bearbeitungen des Problems interessiert ihn gerade das Gespür für diese Zwiespältigkeit. Sogar Nietzsche war nicht nur der Rhapsode einer von der Last der Geschichte erlösten Vitalität, als der der Kritiker des Historismus verstanden worden ist; die "Genealogie der Moral" liest Weinrich als Versuch, die Gegenseitigkeit rechtlicher Verhältnisse in der Kommunikation über schmerzhafte Erinnerungen zu begründen.

    Nutzen und Nachteil der Amnesie für das Leben lassen sich nur am Beispiel abwägen. Der Ton, in dem Weinrich über unerhörte Begebenheiten berichtet, frappiert durch seine Schlichtheit. Dieser gelehrte Novellist, ein moderner Valerius Maximus, folgt den Mustern eines exemplarischen Erzählens, das schon Nietzsche gegen die faden Sinnversprechen der Berufshistoriker erneuern wollte. Den Zusammenhang des Buches stiftet nicht die Entfaltung eines Arguments und auch nicht der rote Faden einer Geschichte über den Geschichten. Die Ordnung der Chronologie hält der Autor nicht streng ein; immer wieder erinnert er an ältere Varianten des Problems, als hätte er sie im bisherigen Verlauf der Untersuchung vergessen. Verknüpft werden die Schicksale von Schülern und Liebhabern, Seefahrern und Soldaten, Ehebrecherinnen und Selbstmördern durch wiederkehrende Bilder. Diese Topoi, wiedererkennbare Situationen oder charakteristische Figuren, geben Deutungsmuster an die Hand, lassen der Interpretation aber einen Spielraum, den ein begriffliches Schema nicht zuließe. Die allegorische Phantasie erweist sich als Instrument eines moralischen Realismus, der für ein schwieriges Problem ein Bild findet, das die Schwierigkeit nicht auflöst.

    Der Fluß des Vergessens ist vielleicht das mächtigste dieser Bilder. Wer von Lethes Wassern trinkt, wird von den Sorgen seiner abgelegten Existenz befreit. Bei Dante fließt die Lethe nicht in der Unterwelt, sondern an der Grenze zwischen Läuterungsberg und Paradies. Ihr Wasser nimmt den Geretteten das Gedächtnis der Sünde. Eine starke Seele mag es schon zu Lebzeiten kosten; Goethe nennt es eine "erhabene Gottesgabe". Über dem kalten, glatten Wasser, das nicht aufzustören ist, liegt aber auch ein Moment der Bedrohung; der Trost des Vergessens wäre erkauft mit dem Verlust der Individualität.

    Weinrich erläutert selbst, welchen Modellen seine Bilderrede folgt. Die antike Mnemotechnik war eine Kunstlehre der Veranschaulichung. Es galt, zu jeder abstrakten Vorstellung das konkrete Bild zu finden, das sich dem Gedächtnis unauslöschlich einprägen sollte. Sah man dann das Bild wieder, kehrte die Vorstellung zurück. Weinrich führt vor, daß Dante den Kosmos seiner Göttlichen Komödie nach den Regeln der Gedächtniskunst ausgestattet hat. Als Beispiel für ein sogenanntes "wirkmächtiges Bild" (imago agens), die unvergeßliche Versinnlichung eines Abstraktums, hebt Weinrich die Gestalt des Troubadours Bertrand de Born heraus, der wegen Anstiftung zur Rebellion zu ewiger Höllenstrafe verurteilt ist. Als Dante ihn zu Gesicht bekommt, sieht er einen Kopflosen, der sein abgeschlagenes Haupt in der Hand trägt. Die Rebellion war nach mittelalterlicher Vorstellung eine gewaltsame Trennung des Körpers vom Kopf: Der bestrafte Verbrecher ging in die Ewigkeit und in das Gedächtnis des Betrachters Dante als Bild seines Verbrechens ein.

    Der grausige Mahner wandert auch durch Weinrichs Buch. Eine Ode Friedrichs des Großen an das Vergessen liest Weinrich auf dem Hintergrund des Konflikts des Kronprinzen mit seinem Vater. Der Prozeß, den Friedrich Wilhelm I. seinem Sohn wegen Desertion machen ließ, war ein exemplarisches Drama des Erinnerns und Vergessens. Die Pflichtvergessenheit des Thronfolgers wurde durch eine Tortur bestraft, die Friedrich nie vergessen sollte: Er mußte der Hinrichtung seines Freundes Katte zusehen. Der enthauptete Leutnant erinnert Weinrich an den kopflosen Rebellen in Dantes Hölle. Der Soldatenkönig hatte dieses Bild natürlich nicht im Sinn, als er das grausame Schauspiel anordnete, und dennoch ist die gebildete Reminiszenz geeignet, das Verhalten des ungelehrten Alleinherrschers zu beleuchten. Blind vertraute Friedrich Wilhelm auf jene Schockwirkung der Sichtbarkeit, von der auch die Mnemotechnik pädagogische Erfolge erwartete. Zugleich enthüllt das furchtbare Experiment aber, daß die traditionellen Bilder ihre Überzeugungskraft zu verlieren begannen. Den Kronprinzen hatten sie nicht von der Widersetzlichkeit abgehalten; der Vater bildete sich ein, ihm eine echte Leiche zeigen zu müssen, um ihn zur Raison zu bringen. Die Pflichtethik, die Friedrich später für sich formulierte, kam ohne sinnliche Reize aus.

    In Weinrichs subtiler Regie illustriert nicht nur Dante die preußische Geschichte, sondern auch umgekehrt der historische Vorfall das dichterische Verfahren. Die Enthauptung Kattes ist nun das wirkmächtige Bild, und sie verdeutlicht die abstrakte Vorstellung des wirkmächtigen Bildes. Der Leser hatte Bertrand de Born vielleicht schon wieder vergessen, nun führt ihm Weinrich vor Augen, worauf die Wirkung von Dantes Bild beruht: Der Enthauptete ist nicht nur das Abbild eines staatstheoretischen Satzes, sondern eine Vision von unüberbietbar makabrer Anschaulichkeit; der Leser wird zum Zeugen einer Szene, die ihn nicht kaltlassen kann; das Bild ist so stark, weil Verräter wirklich hingerichtet wurden.

    Einen dritten Auftritt erhält der ruhelose Rebell im Kapitel über Thomas Bernhard. Der Erzähler der "Auslöschung" wagt es nicht, den Sarg seiner Mutter zu öffnen. Bei dem Unfall, der ihr den Tod gebracht hat, ist ihr der Kopf abgerissen worden. Die Vorstellung des vom Rumpf getrennten Kopfes bedarf der Bestätigung durch die Autopsie nicht mehr. Sie verselbständigt sich, gewinnt Macht über den Erzähler, wird zum wirkmächtigen Bild. Die einzige Handlung, die das Bild bewirkt, ist freilich das Schreiben. Der Erzähler schreibt seine Geschichte auf, um sie auszulöschen. An diesem Schlußpunkt der modernen Literatur sind Erinnerung und Vergessen tatsächlich identisch geworden. Der platonische Vorwurf gegen die Schrift beschreibt das Programm des Schriftstellers.

    Weinrich stellt an den Anfang seines Buches die Anekdote über den Dichter Simonides, der Themistokles anbot, ihn in der Kunst der Erinnerung zu unterweisen. Der Staatsmann erwiderte, er würde viel lieber die Kunst des Vergessens lernen. Am Ende des Buches zeigt sich, daß die Schüler des Simonides vergebens nach dem Geheimnis des Vergessens suchten. Sie besaßen es längst. Die Mnemotechnik, die Kunst, die Erinnerung ins Bild zu bannen, fällt mit der Kunst des Vergessens zusammen. Sie verspricht ein Tauschgeschäft, dem Teufelspakt verblüffend ähnlich, den Weinrich an Chamissos Schlemihl erörtert, ohne Faust zu vergessen. Wer sich auf die Gedächtniskunst einläßt, wird seine Vergangenheit los und erhält ein Bild dafür. Und doch hat er seine Seele nicht verkauft. Denn solange er das Bild festhält, kann er sich an das Vergessene wieder erinnern.