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"Little Revolution"
Alecky Blythe's neues Stück über die Londoner Riots 2011

31.08.2014
    Alecky Blythe ist eine Meisterin des "Verbatim"-Theaters, Wortlaut Theater, das sich auf Prozessakten, Vernehmungsprotokolle und Ähnliches stützt. Sie geht mit dem Mikrofon an die Orte des Geschehens, spricht mit Akteuren und Augenzeugen. Dann schneidet sie aus den Aufnahmen nicht nur einen Theatertext zusammen, sondern spielt den Schauspielern auf der Bühne die Originalaufnahmen per Funk ins Ohr, damit diese sie in Tonfall und Akzent, mit allen Pausen und Versprechern genau nachsprechen. In einer Zeit, wo fast alle unsere Erfahrung medial vermittelt, vorverdaut, redigiert und geschönt ist, hält Blythe die authentische Sprache für einen Garant der Wahrheit.
    Ihr größter Erfolg war das Stück "London Road", über die Prostituierten Morde von Ipswich, produziert 2011 vom National Theatre. Hier wurden die auf der Bühne nachgestellten Dialoge mit einer Musicalpartitur verfremdet und die Akteure zum Chor vereint – Blythe schrieb kein Stück über Sitte und Moral, sondern interessierte sich für die Menschen vor den Polizeiabsperrungen, die Schaulustigen und Nachbarn, die von der Tragödie einander näher gebracht werden.
    Die Gräben der Gesellschaft werden sichtbar
    Jetzt, in "Little Revolution" über die Londoner Krawalle, die "Riots" führt die Methode zu Ergebnissen, die weniger lebensfroh und gemeinschaftsbegeistert sind: Es werden die Gräben in der Gesellschaft sichtbar, die normalerweise verdeckt sind. Die Stimmung ist von Misstrauen, Vorurteilen, Neid geprägt und immer sind die anderen schuld.
    Im Zentrum steht die Clarence Road in Hackney. Der kleine Zeitungsladen von Siva Kandia wird geplündert. Das Chaos ist ins Foyer verbannt, dort wird mit Getöse gebrandschatzt – man sieht die Funken, hört den Lärm und würde sich, ein bisschen wie damals. Am liebsten selbst ins Getümmel stürzen, getrieben von Kitzel, Neugier, wenn nicht anarchischer Lust.
    Blythe verfolgt zwei Handlungsstränge: Auf der einen Seite der Clarence Road versammelt sich die Middle Class im gentrifizierten Teil Hackneys, wo kleine Arbeiterhäuser eine Million Pfund kosten und starten, unterstützt von Gemeinderat und Pfarrer, einen Hilfsfonds für Siva – alles authentisch; man kann in der Zeitung nachlesen, dass der Fonds tatsächlich 50.000 Pfund für den Tamilen zusammenbrachte. Bei einer Street Party wird Community gefeiert. Sivas Laden sei eine "Brücke" geworden, behauptet der Pfarrer.
    Aber dies wird durch einen anderen Handlungsstrang negiert: Mütter aus dem Pembury Estate, der Sozialsiedlung auf der anderen Seite der Clarence Road, starten eine Initiative gegen die Kriminalisierung ihrer Kinder, die drakonischen Strafen nach den Riots, die ständigen Kontrollen, das Dauermisstrauen der Polizei. Eine der Mütter sagt: "Jugendliche in Islington" – (wo das Theater liegt) – "können sich in den Straßen herumtreiben, im Park Haschisch rauchen, niemand sagt was. Wenn sie das in unserer Siedlung tun, werden sie von der Polizei vertrieben".
    So wird die Unterscheidung in Täter und Opfer schwieriger. "Mich interessiert, wie man den Raum zwischen den Menschen aus so unterschiedlichen Milieus und Kulturen überbrücken kann", sagt eine Frau in der Sovart Hilfsgruppe. Aber hier wird nichts überbrückt. Die Riots bringen die Community nicht näher zusammen, sondern machen den Menschen die prekäre Grundlage ihrer ethnisch, sozial, ökonomisch, kulturell so fragmentierten Gesellschaft bewusst.
    Blick ins dunkle Herz der Gesellschaft
    Blythe ist eine leidenschaftliche, aber kühle Beobachterin. Sie hat keine Ideologie, sie will Menschen nur in ihrer sozialen Interaktion beobachten – ohne daraus Argumente und Rezepte abzuleiten.
    Das gipfelt darin, dass die Autorin sich selber spielt. Sie huscht auf der Bühne mit ihrem kleinen Aufnahmegerät hin und her, eine fast komische Gestalt im hoffnungslosen Bestreben, Sinn in diesem Geschehen zu finden. Einen Sinn den es nicht gibt – außer dass wir an einem kurzen Theaterabend einen erschreckenden, aber auch komischen Blick ins dunkle Herz der Gesellschaft werfen dürfen.