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Lüften-Festival führt unterschiedliche Szenen zusammen

Das neue Team um Niels Ewerbeck des Mousonturms in Frankfurt lud zu einem Festival unter dem programmatischen Titel Lüften. Das 60-stündige Konzertprogramm bot alles, was zurzeit die Independent-Szene prägt. Die Besucher konnten außerdem Kunst und Performance erleben.

Von Ruth Fühner | 25.06.2012
    In der Abenddämmerung beginnt der Ort zu leuchten. Wie ein Ufo strahlt die riesige Kuppel der Jahrhunderthalle im Ödland vor den Toren Frankfurts; wo eben noch Parkplatz war, lockt ein zauberhaft illuminierter Lunapark. Obwohl - ein Parkplatz ist es genau gesehen immer noch. Als "Artcargobay" zieht sich eine Budengasse umgerüsteter Automobile über das Gelände – eine mobile Kunstgalerie in Kofferräumen und Containern, streetwise, aufgekratzt und widerborstig.

    Über dem Löschwasserteich taumelt eine Wolke aus Luftballonfischen im frankfurttypischen Bembel-Design, eine Tacobude entpuppt sich als schriller mexikanischer Totenschrein. Viel Pop ist dabei, viel Handgestricktes, aber auch Strenges wie von der Albert-Oehlen-Schülerin Helga Schmidthuber, die ihre im Wortsinn bestechenden Tierzeichnungen mit 90 Prozent Rabatt hergibt, aber nur denen, die sie sich auch in die Haut tätowieren lassen.

    Aber im Grund war die Kunst beim Lüften-Festival vor allem listige Dreingabe, Konterbande, denen untergejubelt, die eigentlich der Musik wegen angereist waren. Tatsächlich kamen vor allem sie bei dem happigen Tagesticketpreis von 46 Euro auf ihre Kosten – das 60-stündige Konzertprogramm fuhr unter freiem Himmel und im Saal gefühlt so gut wie alles auf, was zurzeit die Independent-Szene prägt. Neues aus Soul, Blues, Folk und Rock neben Bands, die ihren Stil eben erst selbst erfunden haben – von Jan Delay und Joachim Distelmeyer bis zum Retrofolk von "The Low Anthem" und der elektronischen Eleganz von "The Whitest Boy alive".

    Ausdrücklich verstand sich das Frankfurter Lüften–Festival auch als Versuch, unterschiedliche Szenen zusammenzuführen. Der Seiltanz über die Genregrenzen weg war schon unter Niels Ewerbecks Vorgänger Dieter Buroch am Künstlerhaus Mousontum selbstverständliche Kür. Trotzdem schied sich das Publikum in den letzten Jahren unübersehbar in musikbegeisterte Indie-Fans und Kunst-/Tanz- und Performanceliebhaber. Mal einen Blick über Gräben und Berührungsängste hinwegzuwerfen – dazu bot die Wundertüten-Dramaturgie des Festivals den rund 2000 Unentwegten, die weder das Wetter noch der Fußball noch der Eintrittspreis abhalten konnten, tatsächlich jede Menge Gelegenheit – auch mit einem schön ehrgeizigen Performance-Programm. Über die große Innenbühne ließ die Compagnie Alias einen scheinbar unaufhörlichen Menschenstrom fließen, eine Tanzevolution vom Kriechen bis zum aufrechten Gang und zurück, ein wuselndes Gespinst aus endlos sich wiederholendem Muster und feinster, aber folgenschwerer Abweichung.

    In einem Rosenboskett machte sich das Grazer "Theater im Bahnhof" Gedanken über das gute Leben und den täglichen Unterhosenwechsel, die ironisch-folkloristische Gruppe "Far A Day Cage" hatte sich ein flüchtiges Chaletzitat zusammengezimmert und siedelte ihre hübsche Science-Fiction-Travestie in einem Urwald in den Schweizer Bergen an. Hinreißend und jetzt schon unvergesslich das amerikanische Cowboy-Trio von Andros Zins-Browne, das mit steinerner Miene auf riesigen Hüpfburgkissen einen absolut sinnfreien Rodeo-Flamenco-Slapstick hinsteppte.

    Aber das zweifellos größte Geschenk des Festivals an die Frankfurter war der Spielort selbst. Das bedrückende 60er-Jahre-Foyer der Jahrhunderthalle, luftig geöffnet auf nie gesehene Innenhöfe und noble Suiten, die weitläufige Terrasse erlöst aus ihrem Albtraum vom Niemandsland hin, die Parkplatzbeschattung als haltbare Parkillusion – mit Lüften gelang dem neuen Team am Frankfurter Mousonturm die Reanimation eines scheintoten Ortes, der, wie wir jetzt wissen, nur in einen Dornröschenschlaf versunken war.