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Matthias Grünewald

Welches unschätzbare Privileg es ist, sich während der Lehr- und Studienjahre in die Breite eines Fachs orientieren zu können, das erkennt man oft erst im Rückblick. Und manchmal fasziniert eine Entdeckung derart, dass das Interesse an ihr nie erlischt. Doch die wenigsten, die dem Schraubstock eines langen Berufslebens entronnen sind, bringen noch die Energie auf, endlich die Erkenntnisse zu Papier zu bringen, die sie über Jahrzehnte hin gesammelt haben. Horst Ziermann hat das mit seiner Monographie über Matthias Grünewald in bewundernswerter Weise geschafft, und der Prestel-Verlag hat ihm hierfür mit seiner großformatigen, farbig illustrierten Ausgabe ein attraktives Forum geboten.

Martina Wehlte-Höschele | 12.11.2001
    Matthias Grünewald ist ein spätmittelalterlicher Maler, dessen Werk sich dem leichten Kunstgenuss schnellebiger Rezeptionsmoden versperrt. Wäre nicht sein weltberühmter Isenheimer Altar von 1514/15, so ließe sich heute schwerlich ein breiteres Publikum für diesen Künstler gewinnen, zumal seine Identität weitgehend im Dunkel liegt und sein Genie in ausschließlich religiösen Darstellungen auf uns gekommen ist. 26 Tafelbilder und 37 Zeichnungen aus der Zeit von 1504 bis 1526 werden jenem Meister Mathis zugeschrieben, der seinen Namen Grünewald, unter dem er in aller Munde ist, erst im 17. Jahrhundert von dem Künstler-Biographen Joachim von Sandrart erhielt. Eine prangende Signatur, die ihn dazu berechtigt hätte, gibt es nicht, wie ja eine selbstbewusste Autorschaft im Mittelalter bis an die Schwelle zur Neuzeit überhaupt die Ausnahme war. So kam es zu falschen Zuschreibungen und mehrfachen Verwechslungen - sei es mit Mathis Gerung oder Hans Baldung-Grien, sei es mit dem Frankfurter Mathis Grün oder mit dem Bildschnitzer Mathis von Seligenstadt.

    Nach heutigem Forschungsstand war Mathis von Aschaffenburg, zeitweilig Hofmaler des Erzbischofs von Mainz, der wahrhaftige 'Grünewald'. Die Beweisführung gleicht allerdings derjenigen in einem Indizienprozess mit denkbar schlechter Aktenlage: Sieht man einmal von den fünf Buchstaben eines Signatur-Rests ("athis") ab, so gibt es keinerlei Selbstzeugnisse von Grünewald, den Ziermann konsequenter Weise nur Meister Mathis nennt. Auch Zeitgenossen haben nichts von ihm überliefert, obwohl doch die Aufträge, soweit wir von ihnen wissen, sein Ansehen dokumentieren. So wenig wie dem schmalen erhaltenen Oeuvre scheint also auch der Person das Renaissancehafte eines Albrecht Dürer geeignet zu haben: Das Bedürfnis nach intellektuellem Austausch, der sich in Korrespondenzen erhalten hätte, das wissenschaftlich ausgreifende Erforschen der Welt und ihre Aneignung in der Kunst, sei es in der Perspektive oder in profanen Motiven - das war seine Sache nicht; auch nicht deren Vermarktung durch eine professionell geführte Werkstatt und die Verbreitung von Drucken.

    Mathis arbeitete mit rein malerischen Mitteln sowohl was die Modellierung seiner Figuren betrifft als auch den Bildaufbau, der sich anfangs kaum in die Tiefe erstreckte. Durchaus treffend spricht Ziermann von der Raumgestaltung in Meister Mathis' Verspottung Christi als von einem der gotischen Malerei eignenden "Geschiebe der dargestellten Personen". Das Tafelbild, das heute in der Alten Pinakothek München zu sehen ist, dürfte 1504 als Auftragsarbeit für Johannes von Cronberg in Aschaffenburg entstanden sein. Es ist das früheste erhaltene Gemälde des um 1480 wohl in Würzburg geborenen Künstlers und zeigt eine auffallende Nähe zu Hans Holbein d.Ä., woraus auf ein Lehrer-Schüler-Verhältnis geschlossen wurde. Stilkritisch spricht einiges für diese Hypothese, und der Autor lässt sie unwidersprochen. Er ist bedacht im Urteil über die unterschiedlichen Forschungsmeinungen, die er - gelegentlich zur Verwirrung des Lesers - äußerst penibel, aber erfreulich kritisch referiert, um sodann seine eigene Position zu beziehen. Angesichts der dürren Fakten und wilden Spekulationen über Leben und Werk des Mathis empfiehlt sich eine umsichtige Bestandsaufnahme grundsätzlich, doch ist der ehemalige Feuilletonist Ziermann - er leitete die Kulturredaktion der Nürnberger Zeitung, arbeitete für die Welt und die Kölnische Rundschau - in besonderem Maße um Absicherung gegenüber der akademischen Zunft bemüht.

    Sein Handwerkszeug ist solide im besten Sinne: lateinische oder mittelhochdeutsche Zitate werden soweit nötig übersetzt, wenig geläufige Fachbegriffe gleichfalls. Die Eigenart des Meisters Mathis führt er in detaillierten Beschreibungen seiner Hauptwerke vor, von denen diejenige des Isenheimer Altars in der Sache und im Stil besonders beeindruckend ist. An diesem für den Antoniter-Orden geschaffenen Werk offenbart sich ein Visionär der Farbe, ein Bild-Erfinder, dessen Dramatik auf Generationen von Künstlern gewirkt und dessen Gläubigkeit sich in der Phantastik und Kraft des Ausdrucks grandios manifestiert hat. Hieran lässt sich sowohl die Kenntnis niederländischer Malerei, etwa eines Hieronymus Bosch, ablesen wie auch auf eine Italien-Reise schließen. Großzügige Detailaufnahmen begleiten den Text, der jenen Meister Mathis aus dem Dunkel der Geschichte hervorzuholen sucht und in Beziehung setzt zu Dürer, dessen aufgeklärter Rationalismus ihm abgeht, zum sensualistischen Lucas Cranach oder zu Altdorfer, dem Maler grandioser Weltlandschaften. Als Mathis 1528 in Halle starb, hatte er sich offenbar von der Malerei abgewandt. War er nicht mehr zeitgemäß? Es war, wie so oft in der Kunstgeschichte, eine neue 'Richtung' aufgekommen, und er galt eher als Vollender des Alten. Dass sein Werk tatsächlich Tradition und Zukünftiges, einen auf den Impressionismus vorausweisenden Umgang mit der Farbe und eine Seelenverwandtschaft mit dem Expressionismus des 20. Jahrhunderts in sich trägt, dies deutlich gemacht zu haben, ist nicht das einzige Verdienst von Horst Ziermanns Buch.