Freitag, 10. Mai 2024


Medizin 2000 plus X

Teil I

Von Martin Winkelheide | 07.01.2000
    Es war ein sonniger Montagmorgen als Herr K. die Augen aufschlug. Herr K. fühlt sich wie neugeboren. Er spürt, dass er auftaut. Sein erster Blick gilt den Sonnenstrahlen, die in dem Eiswasser funkeln, in dem er liegt. Sein zweiter den Schläuchen, die in seinem Kopf, den Armen und seinem Bauch enden. "Sie haben gut daran getan, sich vor Ihrem ersten Ableben in Flüssigstickstoff lagern zu lassen." Erst jetzt bemerkt Herr K. das bärtige Gesicht neben sich. "Ihren kleinen Krebs von damals, den kriegen wir schon in den Griff." Herr K. lernt das Leben neu lieben. Vier Wochen später verlässt er das Gesundheitshaus. Beim Überqueren der Straße passiert ihm ein Missgeschick. Niemand hat ihn vorgewarnt, dass man Autos nicht mehr kommen hört.

    Teil II


    "Drei Wünsche darf ich Dir gewähren", sprach die Fee.
    Sie hat einen frisch gestärkten blütenweißen Kittel an.
    "Nun, meine Leber wird es nicht mehr lange machen, meine Knie schmerzen, und ich werde immer vergesslicher."
    "Kein Problem". Wieder dieses himmelsgleiche Lächeln. Sie zaubert einen Block aus der Kitteltasche: "Einmal neue Leber, einmal Gelenkhaut aus der Retorte und einmal unsere neue Alzheimer- Vorbeugungs-Kur mit Hirnzell-Transplantation. Hm, ....Hotelkosten,... Verpflegung, zwei Wochen REHA. Das macht 75.000. American Express oder VISA?...... Ach", seufzt sie und nur der Duft von Flüssigseife bleibt im Raum.

    Teil III


    Sehr geehrte Frau D.,
    Bei der Überprüfung Ihrer Akte wurde festgestellt, dass Sie der präventivmedizinischen Untersuchung, der "U 35" noch nicht nachgekommen sind. Wir möchten Sie in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, dass die U 35 bis spätestens einen Monat vor Vollendung des 35. Lebensjahres wahrzunehmen ist. Wie Sie wissen, ist die U 35 eine beiastungsarme Untersuchung, mit dem Ziel, genetische Schäden in Ihren Körperzellen zu diagnostizieren und wenn nötig zu korrigieren. Begeben Sie sich unverzüglich in das für Sie zuständige Gesundheitshaus.
    Bei fortgesetzter Unterlassung Ihrerseits verfallen zehn Bonus-Punkte auf Ihrem Gesundheits-Chip. Sollten sich - nach etwaiger Zwangseinweisung - medizinische Behandlungen als notwendig erweisen, werden entstehende Kosten nicht von der Gesundheits-Solidargemeinschaft getragen.
    Gesetzliche Grundlage ist § 18 KSMV i.V.m. § 24 Medizin-Gesetzbuch 4. Buch. Dieses Schreiben ist eine Mahnung im Sinne § 3 Verwaltungsvollstreckungsgesetz (VWVG) und § 66 Abs. 4 Sozialgesetzbuch.
    Dieses Schreiben ist maschinell erstellt und ohne Unterschrift gültig.

    Teil IV


    Marseille - Vor der französischen Mittelmeerküste sind zwei Männer bei einem illegalen Einreise-Versuch aufgegriffen worden. Die Männer, deren Herkunft noch ungeklärt ist, waren nach Behördenangaben nicht im Besitz der erforderlichen medizinischen Unbedenklichkeits-Bescheinigungen. Die Männer wurden in Abschiebe-Gewahrsam genommen. Nach Auskunft des europäischen Innenministeriums handelte es sich um den vierten illegalen Einreiseversuch in diesem Monat.

    Teil V


    Herr 0. war bereits siebzig Jahren alt, als die molekulare Präventivmedizin eingeführt wurde. Herr 0. galt von daher als etwas Besonderes. Als er im Alter von 154 Jahren starb, kamen seine sterblichen Überreste in die Pathologie - um für die Nachwelt konserviert zu werden. Die Sektion ergab: 5 Zähne, eine Niere, das Herz und die Leber hatten die volle Lebensspanne hindurch gut gearbeitet und waren nicht präventiv-medizinisch aufgefrischt worden. Als vermutliche Todesursache stellte der Pathologe ein Versagen des Hirnschrittmachers fest. Herr 0. hatte wohl vergessen, den Akku des Gerätes aufzuladen. Der Hirnschrittmacher hätte ihm zwanzig weitere Lebens-Jahre in voller Spannkraft schenken können.

    Teil VI


    "Lieber Onkel Manfred,
    Toll. Die Safari. Wir essen in unserem Glas-Shuttle und wir schlafen auch hier drinnen. Wegen der Mücken. Gestern haben wir Elefanten gesehen. Eine ganze Herde. Das Essen ist prima. Meist esse ich Lasagne. Die hat unser Safari-Leiter, der Max, von zu hause mitgebracht. Er sagt, das Essen hier ist zu gefährlich. Deshalb gibt's nur Mitgebrachtes. Heute haben vor unserm Glas-Shuttle schwarze Menschen getanzt. Klang klasse - wir haben gute Lautsprecher. Ich wäre gerne mal ausgestiegen, um die Menschen zu streicheln. Max, sagt, das geht nicht - dann gibt es Schwierigkeiten bei der Heimreise. Die schwarzen Menschen haben schlimme Krankheiten, sagt Max. Gleich sehen wir noch Löwen. Mama und Papa geht es auch gut,
    Liebe Grüße
    Deine Yvonne

    Teil VII


    München - Der Anschlag auf das Münchner Kaufhaus "Brahms and Liszt" hat ein elftes Todesopfer gefordert. Eine dem radikalen fundamentalistischen Spektrum zuzuordnende Sekte hat sich inzwischen zu dem Attentat bekannte In einem Schreiben der "Aktion gegen den unheiligen Kaufrausch" heißt es, die Aktionsgruppe habe ein Virus in die Klimaanlage des Kaufhauses eingeschleust. Zu der Beschaffenheit des Virus wurden keine Angaben gemacht. Ein Sprecher der städtischen Gesundheitshäuser teilte mit, es befänden sich derzeit noch etwa 200 Menschen in ärztlicher Behandlung. Sie waren mit Übelkeit und Atemnot eingeliefert worden.

    Teil VIII


    Ich war heute beim Gesundheits-Koordinator. Er sagt, wir sollen es nicht versuchen - so altmodisch, mein ich. Er sagt, unsere Gene passen nicht 100-prozentig zusammen. Es sei denn, wir lassen einen künstliche Befruchtung machen. Da kann man besser auswählen und noch ein paar gute Gene dazutun. Also, er empfiehlt so ein Komplett-Paket. Da können wir vorher auswählen. Je nachdem, was wir wollen, was das Kind mal werden soll. Den Katalog hat er mir direkt mitgegeben. Ich war bei der Bank. Die würden auch einen Kredit geben. Zehn Jahre zahlen wir da schon ab. Ich mein, sicher ist sicher. So ein Kind ist ja auch was Bleibendes.

    Teil IX


    Festhalten. Gerade. Wie soll der Arm denn sonst wieder zusammenwachsen? Haben Sie schon gehört? Vom Sommer? Hammer, bitte. Nein, den kleinen. Mit 50 schon auf dem alten Eisen. Und ganze Abteilung weg. Tupfer. mehr Tupfer, schnell. War ja abzusehen, sagt der Dekan. Onkologie brauchen wir nicht mehr. Krebs, gibt's nicht mehr. Bis Ende des Jahres sind 1 0 Tausend - arbeitslos. Alles gute Leute. Klemme, die 3er. Macht ab März alles die Molekulare Präventivmedizin mit, hat der Schmieder gehört. Glück gehabt. Bis jetzt. Uns Orthopäden braucht man noch. Na ja, Hals- und Beinbruch - die kriegt man so schnell nicht abgeschafft.