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Moderne Streichmusik
Kontroverse Entwürfe von Welt

Mit Streichinstrumenten Unhörbares hörbar zu machen, das haben sich Komponisten neuer Musik immer wieder vorgenommen. Dabei versuchen sie ihr Ziel auf höchst unterschiedlichen Wegen zu erreichen, wie drei neue Veröffentlichungen mit Kompositionen von Heidi Baader-Nobs, Lisa Streich und Violeta Dinescu zeigen.

Von Frank Kämpfer | 28.12.2014
    Naomi (l) und Joyce probieren am Dienstag (26.08.2008) ihre neuen Geigen aus, die der Bundespräsident zuvor an Grundschüler der Martin-Luther-Grundschule im Rahmen der Initiative «Jedem Kind ein Instrument» in Gelsenkirchen übergab.
    Mit Streichinstrumenten, so sagt man, lassen sich Gefühlszustände hörbar machen. (Rolf Vennenbernd)
    Streichinstrumenten spricht man gelegentlich zu, die menschliche Seele zu spiegeln. Ausdrucksvermögen und klangliches Spektrum entsprächen der breiten Skala psychischer Regungen; Instrumente wie Spieler seien – passende Musikwerke voraus gesetzt – in der Lage, Gefühlszustände hörbar zu machen. Im Folgenden steht solches musikalisch zur Diskussion. Das heißt, es geht durchaus um Anderes. Violine und/oder Violoncello erklingen – solistisch, als Duopartner, multipliziert mit sich selbst, oder als Teil einer klassischen Formation – und dahinter stehen mehr als Gefühle! Vielmehr, künstlerische Visionen, Konstruktionen, kontroverse Entwürfe von Welt. – Am Mikrofon Frank Kämpfer, ich habe drei neue Alben hier, die ich Ihnen in den nächsten zwanzig Minuten anspielen will – mit Kompositionen von Violeta Dinescu, Lisa Streich und Heidi Baader-Nobs.
    Heidi Baader Nobs, "Escapade", Egidius Streiff, Violine, CD MGB CTS-M, LC03508
    Der Ton ist ernst, genauer, er wird es im Laufe des Stücks: Unaufhaltsam läuft die anfangs unverfängliche, mühelos exaltiert Raum greifende musikalische Rede einem bitteren Ende entgehen; was leichtherzig anfing, stoppt ganz abrupt. Solist Egidius Streiff schätzt diese Geigenminiatur, die seine Landsmännin vor einigen Jahren verfasste, und die jetzt ihre Porträt-CD eröffnet: Heidi Baader-Nobs, Jahrgang 1940, hat eine Vorliebe für Streichinstrumente. Die Schweizerin, die spät zur Musik kam, hatte zunächst Violine studiert. Jacques Wildberger förderte ihr Komponieren, das Baader-Nobs selbst höchst kompromisslos betreibt. Ihre Werkliste ist nicht eben lang, und Kompositionen für Streicher dominieren darin. Eine neue CD der Edition Musique Suisses / Grammont Portrait bündelt sechs Produktionen und Mitschnitte aus verschiedenen Jahren und gibt Einblick in ein musikalisches Schaffen, das auf fester Ordnung und klaren Proportionen basiert. Bader-Nobs präferiert den musikalischen Fluss, doch dessen Koordinaten – Tonhöhen, Rhythmen, Dynamik und Zeit – sind streng kontrolliert. Nichtsdestotrotz eröffnet sich eine vitale, farbreiche, ja expressive, gleichwohl höchst ausdifferenzierte Klangwelt, die Interpreten Handwerk wie Ambition abverlangt. Keineswegs ist leeres Virtuosentum angefragt, wie die Titel der drei Solowerke vielleicht suggerieren. Jede Miniatur birgt viel-mehr eine Thematik, ein inneres Widerspruchsgefüge, eine existenzielle Konstellation. Spires etwa, von Kolja Lessing hier auf der Violine gespielt, entfaltet divergierende Abläufe, die der Interpret klug zusammenhält. Eine starr aus Dreiklängen gebaute Welt, die es aggressiv vorzutragen gilt, verwandelt sich in Mouvement capricieux für Violoncello in ein Meer von Flageoletts. Käthi Gohl bewältigt dies mit Leichtigkeit und Eleganz. Das erste Streichquartett versinnbildlicht vier Individualisten, die jeder für sich nach Unmöglichem streben. Während sie, so die Komponistin im Booklet, hartnäckig aufwärts kriechen, bemerken sie kaum, dass sie in Wirklichkeit unweigerlich immer tiefer versinken. Als sie ihre Kräfte vereinen, ist es zu spät. Eine quasi historische Aufnahme mit dem jungen Streiff-Quartett aus dem Jahre 1996:
    Heidi Baader Nobs, "Streichquartett 1", Streiff Quartett, CD MGB CTS-M, LC03508
    Streichermusik von Heidi Bader-Nobs aus der Schweiz; gebündelt auf einer Porträt-CD bei Musiques Suisses – in Zusammenarbeit mit Radio SRF 2 und MDR Leipzig. Man darf diese Aufnahmen als authentisch, ja gültig bezeichnen.
    In Welten des Leisen und der Stille ist die nächste CD angesiedelt; sie bietet vier Kompositionen für die Kombination Violoncello und Orgel, die ungeachtet ihres je individuellen Charakters in ähnliche Richtungen weisen. Was sie technisch verbindet, ist die Vorliebe der vier UrheberInnen – wie Bookletautor Walter-Wolfgang Sparrer treffend beschreibt – für "meditativ tastende Gangarten", so-wie für "geräuschhafte Klänge, oft an der Grenze zur Hörbarkeit". Gemeinsam ist ihnen auch die Vision, so verschiedene Instrumente wie Violoncello und Orgel könnten im sakralen Raum dialogisieren wie zwei verschiedene Formen von Existenz. In ihrem Stück "Augenblicke – Gebet" favorisiert die Koreanerin Younghi Pagh-Paan das Streichinstrument; die Orgel liefert für dessen Aktionen den Klang-Raum. Angeregt durch eine Kierkegaard-Lektüre überträgt die Komponistin das philosophische Denkbild vom "Glauben im Augenblick der Hingabe" in Verläufe unterschiedlicher Dichte und Fließgeschwindigkeit. Die Amerikanerin Chaya Czernowin ließ sich für Gradual Edge von einem bildnerischen Objekt inspirieren; zwei hohlen Halbkugeln, die in ihrem Innern das Nichts, die Unendlichkeit suggerieren. Ihre Musik folgt dem Blick, Liegeklänge der Orgel und Cello-Glissandi suggerieren ein kaum vernehmbares, doch überdimensionales Rotieren. René Menses "Fantasie und Variationen" hingegen wirken nach innen gewandt, introvertiert; für Lisa Streich wiederum ist das Fragile, kaum Merkliche Realität. Die junge Schwedin hat ihr Stück "Seraph" ihrer damals noch ungeborenen Tochter gewidmet; beider Kommunizieren beim Wachsen des Lebens erfährt musikalisch Entsprechung: Durch einzelne Gesten zunächst des Violoncellos – Streich nennt sie "akustische Flügel" – die eingebettet sind in eine Art Schwebezustand, den ein leiser, in der Zeit gestreckter Orgelchoral suggeriert. Christina Meißner (Violoncello) und Paul Skølstrup Larsen (Orgel) haben das Stück im Sommer 2014 in der Peterskirche in Görlitz uraufgeführt.
    Lisa Streich, "Seraph", Christina Meißner (Violoncello), Paul Skølstrup Larsen (Orgel), CD Querstand VKJK 1429, LC03722
    Christina Meißner (Violoncello) und die Organisten Paul Skølstrup Larsen und Reinhard Seeliger haben ihnen gewidmete Werke von Lisa Streich, Chaya Czernowin, René Mense und Younghi Pagh-Paan eingespielt – und beim Label Querstand veröffentlicht. Im Mittelpunkt steht die Ausnahme-Cellistin, der Komponisten von Rang besondere Kompetenz, Vielseitigkeit, Intelligenz und Plastizität des Spiels attestieren. Vorliegende Platte ist dafür ein exzellenter Beleg!
    Auch die dritte CD, die ich Ihnen heute anspielen will, hat einen Interpreten im Zentrum. Violoncellist Marcel Spinei hat nicht nur sämtliche Stimmen und Titel eingespielt, sein Ersuchen um eine spezielle Komposition hat das ganze Projekt erst initiiert. Denn Komponistin Violeta Dinescu schrieb Spinei nicht nur das gewünschte Solo für fünfseitiges Violoncello, sie generierte aus der Ausgangsidee ein einstündiges Opus, das in immenser klanglicher Vielschichtigkeit über die großen Fragen des Daseins reflektiert.
    Violeta Dinescu, "Lytaniae", Marcel Spinei (Violoncello), CD gutingi 251, LC 06601
    Zu Grunde liegt musikalisches Material aus dem rumänischen Codex Caioni aus dem 17. Jahrhundert. Der weltlich-geistlichen Sammlung entsprang gleichfalls die Intention, eine Litanei zu komponieren. Wobei die Komponistin das christliche Klage- und Bittgebet als Element ebenso der römisch-katholischen wie der byzantinischen Liturgie versteht und sich auf beider musikalische Traditionen bezieht. Weitere Assoziationen lieferten Zeichnungen Gerhard Richters sowie Beobachtungen beim biologischen Wachstum von Pflanzen. Zwei Momente sind in Dinescu's Lytaniae von großer Bedeutung: das Verhältnis von Kontur und Unschärfe sowie der Aspekt der Vervielfältigung. Neben dem solistischen Mittelstück sind die insgesamt neun Teile der Komposition für unterschiedlich viele Instrumente gedacht: für 13, 17, 31 oder 53 Violoncelli. Die so vorgenommene Vervielfältigung des einen Materials und des einzigen Spielers arbeitet mit kleinsten Abweichungen, Differenzen – sodass ein mikrokosmischer, mikrotonal angereicherter Ton-Fluss, Ton-Raum wechselnder Farbwirkung und Dichte entsteht. Die Sogwirkung ist ganz immens. Innerlichkeit und Expression, Klangsinnlichkeit und strukturelles Konzept bilden – so Autor Egbert Hiller im Booklet – ein Spannungsgefüge, das auf das, was erklingt, eindrückliche Überlegungen zu Mensch und Natur, Kosmos und Gott projiziert. Von den ersten Takten an scheint das Violoncello zu sprechen, zu singen, zu weinen, partiell auch zu schreien – mit kreatürlicher Tiefe und hoher Intensität. Das zu Hörende hat tiefenpsychologische Konnotationen – Werk und Aufnahme sind ein großer, womöglich selbst aus individuell existenziell Erfahrenem resultierender Wurf.
    Violeta Dinescu, "Lytaniae", Marcel Spinei (Violoncello), CD gutingi 251, LC 06601
    Soweit Violeta Dinescu, Lytaniae. Eingespielt von Marcel Spinei, Violoncello. Diese Arbeit ist beim deutschen Label gutingi erschienen und setzt hier eine nunmehr schon beachtliche Dinescu-Werke-Reihe fort. Zuvor habe ich Ihnen eine bei Querstand verlegte CD mit Werken für Orgel und Violoncello angespielt, mit Christina Meißner am Streichinstrument, sowie eine bei Musiques Suisses verlegte Porträt-CD mit Streichermusik von Heidi Baader-Nobs.