Montag, 13. Mai 2024

Archiv


Musikalischer Brückenbau

So wie in Istanbul eine Brücke Europa und Asien verbindet, schlägt auch die Istanbul-Sinfonie des Pianisten und Komponisten Fazil Say viele Brücken: von spätromantischer Klassik zur Neuen Musik, von Jazzanklängen zu alten religiösen Gesängen, vom über hundert Mann starken Sinfonieorchester zu den traditionellen Instrumenten Ney.

Von Ludwig Rink | 21.10.2012
    Ohne Scheu tragen wir Oberhemden aus Vietnam, fotografieren mit japanischen Kameras, fahren in Indien gebaute Autos einer koreanischen Marke, haben Pizza und Döner längst in die Liste unserer Lieblingsspeisen aufgenommen, probieren Weine aus Kalifornien, Südafrika und Neuseeland, lesen Bücher von chinesischen Autoren. Spätestens seit den Beatles kennen wir indische Ragas, Giora Feidman hat uns die Klezmer-Musik nahegebracht, Samba-Rhythmen haben Einzug in unsere Volksfeste gehalten, in Jazz und Popmusik begegnen wir Musikstilen aus allen fünf Kontinenten. Kurz: Kultur und Kommerz, Fernsehen und Internet haben uns die Welt nach Hause gebracht, konfrontieren uns mit Neuem, zeigen uns Fremdartiges, haben Brücken gebaut zu anderen Völkern und Nationen.

    Von Brückenbauern soll auch heute morgen die Rede sein, wenn sich die "Neue Platte" auf den Weg zum Bosporus macht, in jene Stadt, die von Griechen gegründet wurde, unter römischer Herrschaft Konstantinopel hieß und seit der Eroberung durch die Osmanen 1453 Istanbul genannt wird. In Gedanken und klanglich dort am Strand des Marmara-Meeres begrüßt Sie heute am Mikrofon Ludwig Rink.

    " Fazil Say
    Aus: Istanbul Sinfonie (beginnt mit "Meeresrauschen")
    Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra
    Leitung:Gürer Aykal
    Naive V5315 "

    So klingt der mit "Nostalgia" überschriebene Beginn der Istanbul-Sinfonie von Fazil Say, jenem heute 42-jährigen, überaus temperamentvollen Pianisten und Komponisten, dessen Talent schon zuhause in Ankara auffiel und der mit 17 Jahren zum Studium nach Deutschland kam. Mit dem Gewinn eines Wettbewerbs in New York begann 1994 seine internationale Karriere als Pianist, sodass er in der Folge solistisch, in Kammermusikformationen und mit den besten Sinfonieorchestern in den großen Konzertsälen und bei den renommierten Musikfestivals auftrat. Fünf Jahre lang war Fazil Say Artist in Residence beim Konzerthaus Dortmund; dort erhielt er den Kompositionsauftrag zu dieser Istanbul-Sinfonie. Sie schlägt eine Brücke von spätromantischer Klassik zur Neuen Musik, von Jazzanklängen zu alten religiösen Gesängen, vom Meditativ-Nachdenklichen zum Rhythmisch-Pulsierenden, vom über hundert Mann starken Sinfonieorchester zu den traditionellen Instrumenten Ney (einer Rohrflöte) und Kanun (einer orientalischen Zither). Es wurde eine Art Liebeserklärung an die Stadt am Bosporus, deren sieben Hügel als Vorbild für die siebenteilige Gliederung der Sinfonie dienten. Und noch weitere Brücken schlug Fazil Say mit dieser 2010 uraufgeführten Sinfonie: eine Brücke zwischen den damaligen beiden europäischen Kulturhauptstädten Istanbul und dem Ruhrgebiet. Und eine Brücke zurück zu vergangenen Zeiten, in ein Istanbul von einst, jene Stadt, "deren Schönheiten uns Dichter wie Orhan Veli und Nazim Hikmet vor Augen geführt haben."

    " Fazil Say
    Aus: Istanbul Sinfonie
    Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra
    Leitung:Gürer Aykal
    Naive V5315 "

    Müßig die Frage, ob es sich hier um Neue Musik im strengen Sinne oder um eine Sinfonie nach altbekanntem Sonatenhauptsatz-Schema handelt. Nein, es ist eine beschreibende, wenn man so will: Programm-Musik, die Versatzstücke, ja manchmal auch Klischees unterschiedlichster Musikrichtungen geschickt kombiniert, eine ausgesprochen wirkungsvolle, mitreißende, lebendige, eingängige Klangwelt, die bei der Dortmunder Uraufführung Deutschen mit oder ohne Migrationshintergrund gleichermaßen in Beine und Hände ging und sich in Beifallsäußerungen zwischen den einzelnen Sätzen Luft machte.

    " Fazil Say
    Aus: Istanbul Sinfonie
    Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra
    Leitung:Gürer Aykal
    Naive V5315 "

    Die jetzt auf CD veröffentlichte Aufnahme von Fazil Says "Istanbul-Sinfonie" ist allerdings nicht der Mitschnitt der Uraufführung, die das Sinfonieorchester des WDR besorgte, sondern sie entstand in der Türkei mit dem Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra. Und mit diesem Ensemble hat es eine besondere Bewandtnis. Denn es gehört sozusagen einem schwerreichen Unternehmer namens Ahmed Kocabiyik, dessen Borusan-Holding jährlich an die drei Milliarden Dollar Umsatz macht und damit einer der größten Mischkonzerne der Türkei ist, aktiv unter anderem in den Bereichen Stahl, Logistik, Telekommunikation, Energie und Autohandel. Dieser Mäzen, heute Ende 50, hat eine westliche Erziehung genossen, zuerst auf der deutschen Schule in Istanbul, dann an Universitäten in Großbritannien und den USA. Hier begann er, Orchesterkonzerte zu besuchen und entdeckte seine Liebe zur Klassik. Nachdem er in die väterliche Firma eingetreten war, engagierte er sich bald für die Musik. 1993 hatte ein von ihm unterstütztes Istanbuler Kammerorchester den ersten Auftritt, und das wurde sechs Jahre später bereits zur vollen Sinfonieorchesterstärke aufgestockt. Gürer Aykal, der auch die vorliegende Einspielung der "Istanbul-Sinfonie" leitet, wurde zum Generalmusikdirektor berufen. Gut vier Millionen Euro lässt sich der spendable Unternehmer pro Saison "sein" Sinfonieorchester kosten. Ziel ist, es in den nächsten Jahren zu einem der 15 weltbesten Sinfonieorchester zu entwickeln, und wenn die Stadt ein geeignetes Grundstück zur Verfügung stellen würde, wären die Borusan-Holding und ihr Chef wohl auch bereit, die Kosten für eine eigene Konzerthalle zu übernehmen. Hier haben wir also einen weiteren Brückenbauer, einen, der von seinem erworbenen Reichtum der Gesellschaft etwas zurückgibt, der wirtschaftliches Wachstum und Wohltätigkeit verbinden will und die EU und die Türkei, den Westen und den Osten.

    " Fazil Say
    Aus: Istanbul Sinfonie
    Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra
    Leitung:Gürer Aykal
    Naive V5315 "

    Die Aufnahme von Fazil Says "Istanbul-Sinfonie" entstand Ende Dezember 2010 in einem Istanbuler Kongreßzentrum; inzwischen wurde im Juni dieses Jahres dort auch bereits seine zweite "Mesopotamia"-Sinfonie uraufgeführt. Es wurde ein gigantischer Publikumserfolg. Wobei die Ovationen möglicherweise nicht nur dem Künstler und seinem neuen Werk galten, sondern vielleicht auch als ein politisches Statement zu verstehen sind. Denn seitdem Fazil Say sich vor einiger Zeit per Twitter über muslimisches Glaubensgut lustig gemacht hat, steht er unter heftigem Beschuss. Die Oberstaatsanwaltschaft der Türkei hat ein Verfahren gegen ihn eröffnet, diese Woche fand die erste Verhandlung statt, dann wurde das ganze auf kommenden Februar vertagt.

    Das liberale Miteinander ist in der Türkei von Ministerpräsident Erdogan und seiner Regierungspartei AKP schwieriger geworden, die Trennung von religiösen und staatlichen Angelegenheiten scheint nicht immer zu gelingen. Das macht die Sache für engagierte musikbegeisterte Brückenbauer zwischen West und Ost nicht leichter. Eine Vision für ein liberales Miteinander findet man im 4. Satz von Fazil Says "Istanbul-Sinfonie". Es ist eine Art leichtfüßiges Scherzo und es zeigt, so die Überschrift, "Junge, fröhlich gekleidete Frauen auf der Fähre zu den Prinzen-Inseln". Diese traumhaft schönen Inseln im Marmara-Meer sind ein Sommer-Refugium für die Einwohner von Istanbul, wo sie sich am Wochenende vom Stress und Lärm der Millionenstadt erholen können. Es sind Inseln, auf denen Jahrhunderte lang Griechen und Juden, Aleviten und sunnitische Türken einträchtig miteinander lebten - machen wir uns also heiter gestimmt auf den Weg und fahren mit der Fähre zu diesem alten kosmopolitischen Inselparadies...

    " Fazil Say
    Aus: Istanbul Sinfonie:
    4. Satz "Junge, fröhlich gekleidete Frauen...auf dem Weg zu den Prinzen-Inseln
    Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra
    Leitung:Gürer Aykal
    Naive V5315 "

    Die "Neue Platte" - heute stand im Mittelpunkt die Istanbul-Sinfonie von Fazil Say, eingespielt vom Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Gürer Aykal, vorgestern veröffentlicht vom französischen Plattenlabel Naive. Mit Wünschen für einen schönen Sonntag verabschiedet sich im Studio Ludwig Rink.