Dienstag, 07. Mai 2024

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Neue Wege nach Ithaka. Neue griechische Literatur zur Buchmesse

Folgende Bücher werden besprochen:

Jochen Rack | 08.10.2001
    Ioanna Karystiani: Die Frauen von Andros (Suhrkamp)

    Pavios Matessis: Die Tochter der Hündin (Hanser)

    Aris Alexandrou: Die Kiste (Antje Kunstmann)

    Petros Markaris: Der Nachtfalter (Diogenes)

    Soti Triantafillou: Der unterirdische Himmel (Zsolnay)

    Antonis Sourounis: Der Rosenball (Piper)

    Andreas Staikos: Kulinarische Liebschaften (Eichbom)

    Griechische Lyrik des 20. Jahrhunderts (Suhrkamp)

    Kiki Dimoula: Gedichte (Axel Dielmann)

    Mit Nikos Kazantzakis' Roman "Alexis Sorbas", der seit seinem Erscheinen 1955 in Deutschland 700 000 mal verkauft wurde, ist das Klischee eines dionysischen Vitalismus in Umlauf gebracht worden, das die Wahrnehmung Griechenlands noch immer verzerrt. Wer aber dieses Jahr die griechische Literatur auf der Frankfurter Buchmesse in Augenschein nimmt, wird bald feststellen, dass sie sich längst nicht mehr auf die Wunschprojektionen des Auslandes reduzieren läßt. Tatsächlich gibt es viele interessante Schriftsteller und ungewöhnlich gute Bücher zu entdecken.

    Vielleicht die bedeutendste Neuerscheinung ist Ioanna Karystianis Roman "Die Frauen von Andros". Die 1952 geborene Autorin erzählt eine tragische Familien- und Seefahrersaga, die sich in den Jahren 1927 bis 1948 auf der Kykladen-Insel Andros abspielt: Es ist die unglückliche Liebesgeschichte zweier Schwestern (Orsa und Moska), die, gefangen im mythischen Bannkreis von Familie und Tradition, denselben Mann, (Spiros Maltabes), einen Seefahrer, lieben.

    Das dritte Rendezvous, es war fast Nacht, der Mond leuchtete schon.... Spiros Maltabes stieg als erster hinunter zum Strand und wartete in der kleinen Höhle auf sie, wo die Kapernsträucher von den Felsen hingen wie Fransen und ihre Stirn verbargen. Sie zogen die Schuhe aus, netzten sich bis zum Knöchel im lauen Wasser, er wollte sie am Knie berühren, ihr entfloh ein erstickter Satz, nicht, Spiros. In seinen Augen war eine überirdische Kraft, die sie lahmte, und in seinen Händen eine andere, die sie versengte, glühende Kohle im Weihrauchfaß. Sie strengte sich an, wieder ruhig zu atmen, und legte ihr Ohr auf seine Brust, eine Schiffssirene mit den Tönen weit entfernter Ozeane, obwohl er noch nie so weit gefahren war, er zog es vor, auf schrottreifen Kähnen anzuheuern, und seine große Liebe waren gottverlassene Häfen ohne Namen.

    Kunstvoll verwebt Karystiani die wechselnden Perspektiven und Stimmen in einen kollektiven Erzählstrom und findet eine sinnliche bilderreiche Sprache, erfüllt von einem Ton von Zärtlichkeit, Mitleid und Schicksal, dem Wissen um Einsamkeit und Vergänglichkeit. Karystiani lässt ihr Eifersuchts-Drama nach dem Modell einer sophokleischen Tragödie ablaufen - eine Geschichte unerfüllter Sehnsucht, die tödlich endet, und zugleich eine Odyssee aus dem Blickwinkel der daheimgebliebenen Frauen:

    Es war nicht meine Absicht, antike Schemata zu kopieren und in ihre Fußstapfen zu treten, allerdings konnte ich nicht umhin, festzustellen, dass die Gesellschaft ähnlich strukturiert ist, eben eine kleine Gesellschaft wie auf Andros./ Und manche Beziehungen blieben so unversehrt über die Jahrhunderte hinweg, und manche Verhaltensweisen, die für uns unerträglich sind oder auch barbarisch fast erscheinen, sind für eine kleine Gesellschaft wie auf Andros einfach notwendig. Wir haben den Prototyp des Mannes, der über die Meere fährt und natürlich mit den Wellen zu kämpfen hat, aber auch das Salz des Lebens erlebt und auch diesen pikanten Aspekt der Feme und des Genusses von Frauen woanders. Während die Ehefrau auf der anderen Seite zurückbleibt und eine treue Penelope sein muss, das war sicherlich das Material für eine ganze Reihe von Romanen.

    In Griechenland lag das Buch nach dem Erschemen 1997 monatelang auf den Bestsellerlisten und wurde mit dem Staatspreis für Literatur ausgezeichnet. - Die Tragik der Liebe, von der Karystianis Roman erzählt, profiliert auch "Die Tochter der Hündin" von Pavios Matessis. Sein Roman spielt zur Zeit der deutschen Besatzung Griechenlands, aber anders als Karystiani, die aus der epischen Übersicht der mitfühlenden Chronistin erzählt, vertieft sich Matessis ganz in die Subjektivität seiner Erzählerin Rarau, die als junges Mädchen miterleben muss, wie ihre Mutter, die sich während des Krieges mit einem Italiener eingelassen hat, nach der Befreiung von den Partisanen als Kollaborateurin an den Pranger gestellt wird. Die Demütigung schlägt die Mutter mit Stummheit und verfolgt Rarau als unüberwindliches Trauma, das sie zwingt, ihr tristes Leben auf eine naive Weise schönzureden und zurechtzulügen, dass die erfahrenen Schrecken hinter der Komik der Verdrängung umso ergreifender wirken.

    Tatsächlich verweist der Titel auf den Moment, auf den die Handlung zuläuft, auf den Moment, wo die Mutter an den Pranger gestellt wird. Nach der Befreiung von der Besatzung wurden in der Provinz weniger als in der Stadt Menschen, die hauptsächlich mit den Italienern kollaboriert hatten, öffentlich an den Pranger gestellt. Allerdings die, die wirklich Kollaborateure waren, betraf diese Maßnahme nicht. Diese Maßnahme hat sich auf Frauen, Huren beschränkt, die mit Italienern oder Deutschen gegangen sind. Die Initiatoren dieser Prozeduren haben sich als besondere Patrioten dargestellt, aber es war eine Art Pseudobefreiung.

    Die "Tochter der Hündin" erinnert an Becketts Endspiel ebenso wie an Roberto Benignis Tragikkomödie "Das Leben ist schön" - ein großes und ungewöhnlich erfolgreiches Buch (in zehn Sprachen übersetzt, in Griechenland inzwischen in der 46. Auflage), dessen Konstruktion zeigt, dass Matessis sich als einer der Dramatiker des zeitgenössischen griechischen Theaters bewährte, bevor er zur Prosa kam. Die theatralische Anlage des Romans bezieht sich auf Sophokles' "Ödipus in Kolonos", Rarau erscheint als eine Wiedergängerin Antigones. -Matessis' Roman ist auch ein Beispiel dafür, wie prägend der Kampf zwischen bürgerlicher und kommunistischer Ideologie, während und nach dem Bürgerkrieg für die griechische Literatur gewesen ist Aris Alexandrou, dessen wichtiger Roman "Die Kiste" jetzt viel zu spät in Deutschland erscheint - in Frankreich liegt er seit 1974 vor -, wurde wegen seiner politischen Überzeugungen verbannt und verbrachte die Jahre von 1953-57 im Gefängnis. "Die Kiste", während der Obristendiktatur (1967-1974) im Pariser Exil geschrieben, erzählt die absurde Geschichte eines sinnlos geopferten Partisanenkommandos, und führt über die Abrechnung mit der linken Orthodoxie hinaus zu einer Kritik des Totalitarismus überhaupt:

    Freitag, 27. September 1949

    Genosse Untersuchungsrichter, zuallererst möchte ich Ihnen meinen Dank aussprechen, dass Sie mir Papier, Tinte und den Federhalter haben zukommen lassen. Mit ihrer Verfahrensweise bin ich absolut einverstanden, weil ich so in Ruhe die Ereignisse niederschreiben kann. Da brauche ich keine Angst zu haben. Sie könnten mich unterbrechen, mir Fragen stellen, da habe ich also eigentlich auch nicht das Gefühl, ich befände mich in Haft und müsste mich rechtfertigen, denn es ist natürlich augenscheinlich, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Als Sie mich so unerwartet in Untersuchungshaft nahmen - ich darf sagen, dass ich allen Grund hatte zu glauben, meine dritte Auszeichnung zu bekommen -, als ich mich also in dieser Zelle wiederfand, war meine einzige Hoffnung, die Gelegenheit zu erhalten, mein Verhalten zu erklären oder wenigstens zu verteidigen, vorausgesetzt, es würde eine förmliche Anklage gegen mich erhoben.


    Gerhard Blümlein, Lehrer am Goethe-Institut in Athen, hat Aris Aleandrous Roman ins Deutsche übersetzt. Blümlein.

    Es geht darum, dass eine kommunistische Sondereinheit aus Freiwilligen den Auftrag erhält, eine Kiste von einer Stadt in die andere zu bringen, und der Erfolg dieser Mission sei, wie man ihnen sagte, entscheidend für den Ausgang des Krieges. Als der einzige Überlebende der am Anfang aus vierzig Personen bestehenden Mission die Stadt erreicht, wird die Kiste geöffnet und sie ist leer. Und jetzt folgt die sogenannte Verteidigung dieses Mannes, der diese Kiste als letztes in die Stadt überbracht hat, obwohl man gar nicht weiß, wer ihn angeklagt hat, das weiß er offenbar selbst auch nicht. Davon handelt das Buch.

    "Die Kiste", diese an Kafkas "Prozeß"-Roman erinnernde, vieldeutige Parabel gilt als Meilenstein der zeitgenössischen Prosa.

    Dass die politische Freiheit nicht zu einer unpolitischen Literatur führen muss, beweist Petros Markaris, der sich als Dramatiker, Brecht- und Goethe-Übersetzer und Drehbuchautor für Theo Angelopulos einen Namen gemacht hat, mit seinen Kriminalromanen "Hellas Channel" und "Der Nachtfalter". Markaris' Krimis handeln von Kindesmissbrauch, Albaner-Immigration, Organhandel und der Korruption von Politik und Medien. Sein hinreißend bärbeißiger Kommissar Kostas Charitos ist ein Kleinbürger mit philosophischen Einsichten in den Lauf der Welt und das menschliche Schicksal.

    Wenn jemand behauptet, dass man aus seinen Fehlern lernt, kann ich nur lachen. Immer wieder tappe ich in dieselbe Falle. Anfangs sage ich mir noch, dass ich mich in die Sache nicht reinhängen werde. Doch dann beginnt der Holzwurm im Gebälk zu arbeiten. Vielleicht weil mich das Büro anödet oder weil noch ein kleiner Überrest kriminalistischer Neugier in mir steckt, der noch nicht von der ganzen Routine aufgefressen wurde. Dann ergreift mich manchmal die Lust, tätig zu werden.

    Dazu Markaris:

    Einerseits machte ich die Entdeckung mit diesem Roman, dass die Polizisten auch Kleinbürger sind. Was man wegen der Uniform nicht so gut sehen kann. Die Uniform verbirgt bis zu einem gewissen Maß die ideologische Einstellung dieser Leute. Sie sind Kleinbürger, haben eine kleine Familie, sie haben Kinder, die sie erziehen möchten und studieren lassen möchten. Das hat dazu beigetragen, dass ich die Polizisten unter einem anderen Aspekt gesehen habe. Andererseits konnte ich nicht verneinen, dass diese Leute politisch auch als Handlanger eine Rolle gespielt haben. Die Rolle möchte ich nicht verschweigen.

    Markaris gibt in seinen Krimis ein Bild des modernen Griechenland und er erzählt seine komplex konstruierten Geschichten mit psychologischer Rarfinesse und einem sarkastischen Stil - ein Hennig Mankell des Südens, der seine plots - und damit sind wir wieder bei dem auffälligen Merkmal der griechischen Gegenwartsliteratur -hintergründig tragisch konturiert.

    Millionen Griechen haben im 20. Jahrhundert ihr Land verlassen, kein Wunder, dass ihre Erfahrungen auch die Schriftsteller beschäftigen. Vom Schicksal einer griechischen Familie in Amerika erzählt Soti Triantafillous Roman "Der "Unterirdische Himmel". Es ist ein spannender literarischer Road Movie, der vom Ausbruch eines Jungen -Billy Moropoulos - aus den engen Verhältnissen von South Bend/ Indiana erzählt, von erster Liebe und unerfüllten Träumen. Locker montiert Trinatafillou Exkurse über Mythen der amerikanischen Massenkultur, die Geographie des Landes und die Sozialgeschichte von South Bend in die Handlung ein.

    Als Harry und Eleni nach Amerika kamen, war die Zeit von Ellis Island - der "Insel der Tränen" - schon vorüber. Ellis Island in New York und Angel Island in Kalifornien waren geschlossen - und später wurde das erste zu einem Museum für Emigranten und das zweite zu einem Nationalpark. Die Familie Moropoulos gehörte zu den relativ neueren Immigranten; sie waren unter denen, die in Schüben aus dem noch vom Bürgerkrieg gezeichneten Griechenland flohen, und zwar aufgrund eines Gesetzes, das den Flüchtlingen aus Italien, Griechenland und Holland in Amerika Schutz gewährte.... Die meisten Einwanderer stammten aus ländlichen Gebieten und fanden sich plötzlich in einem industriellen Umfeld wieder, in Großstädten, wo ihnen die Technisierung und Anonymität bedrohlich erschienen.

    Zu der Zeit, als Harry und Eleni ihren Fuß zum ersten Mal auf amerikanischen Boden setzten, belief sich die Zahl der griechischen Immigranten auf etwa fünfhunderttausend.... Die meisten leben in geschlossenen Gemeinschaften - den Greektowns der großen Städte -, wo sie auch als herumziehende Blumen-, Hot-dogs- und Zigarrenverkäufer ihr Brot verdienen.

    Wenn sich auch während der fünfziger Jahre etwa vierzig Prozent der griechischen Immigranten in die amerikanische Gesellschaft integriert hatten, blieben die Griechen (im Gegensatz zu dem, was man zu der Zeit in Griechenland glauben wollte) Bürger zweiter Klasse; sie waren besser dran als die Schwarzen und schlechter als die Westeuropäer.


    Prominentester Vertreter der sog. "Gastarbeiter"-Literatur ist Antonis Sourounis. In seinem packenden Kasino-Roman "Der Rosenball" erzählt er von einem professionellen Spieler, der jeden Tag von Frankfurt nach Wiesbaden fährt, um in der Spielbank auf die Kugel des Glücks zu setzen. Sourounis:

    Das Spiel ist die große Droge, eine sehr harte Droge... das Casino für mich... ist auch wie eine Schule, es ist die größte Schule, du lernst Sachen dort, für die du zehn Jahre draußen brauchst, und das kannst du da in einer Nacht lernen./ Nehmen wir die Roulette... jede Nacht macht sie 350 Umdrehungen, so wie die Erde in einem Jahr...Z.B wenn du im Casino reinkommt so mit Egoismus, du wirst in 2 Stunden kaputt, egal wieviel Geld du hast. Draußen hier in der Stadt, vielleicht brauchst du 20 Jahre, um zu diesem Punkt zu kommen.

    Sourounis' Held ist leidenschaftlicher Spieler, aber auch auch ein leidenschaftlicher Liebhaber - und Sourounis ein Autor, der nicht nur die Kasino-Welt, das Rotlichtmilieu und die Kultur der griechischen Emigranten mit Witz und physignomischer Beobachtungskunst zu beschreiben vermag, sondern genauso hinreißend über die Liebe zu schreiben versteht. "Der Rosenball" ist ein großartiger, spannender Spielerroman und gleichzeitig ein hinreißend sinnlicher Liebesroman -und ein Frankfurt-Roman auf der Frankfurter Buchmesse - der aber in einem Münchener Verlag erscheint...

    Romane sind der Stoff, aus dem die Verleger-Träume vom Erfolg der griechischen Literatur in Frankfurt sind. Darum hat Eichbom wohl auch das hübsche Buch "Kulinarische Liebschaften" von Andreas Staikos als Roman betitelt, obwohl es sich eigentlich um eine Novelle handelt. Staikos' Buch, als Auftragsarbeit für einen französischen Verlag entstanden, erzählt höchst amüsant und ironisch von zwei verliebten Männern, die um die Gunst einer raffinierten Schönheit um die Wette kochen; ein modernes Liebesdrama, das seine nationale Herkunft nur durch die zwischen die Kapitel eingestreuten Rezepte verrät, die im übrigen zeigen, dass die griechische Küche nicht nur aus Souflaki und Moussaka besteht:

    Mehr als eine Fußnote hätte die griechische Lyrik verdient, die es naturgemäß auf dem deutschen Buchmarkt schwer hat, obwohl sie -wie gesagt - das große Kapital der griechischen Literatur darstellt. Das beweist schon die unwahrscheinliche Tatsache, dass ein Drittel aller Veröffentlichungen in Griechenland lyrische Bände sind. Im Gesang, in der oralen Überlieferung lebte das griechische Volksbewusstsein während der osmanischen Fremdherrschaft fort, mit dem Rebetiko wanderte die proletarische Tradition in die Liedkunst ein und durch seine Vertonungen machte Mikis Theodorakis, dessen Erinnerungen jetzt erscheinen, die Gedichte von Odysseas Elytis, Giorgos Seferis und Jannis Ritsos populär.

    Auf der Frankfurter Buchmesse ist die neuere Lyrik aber nur durch die Anthologie "Griechische Lyrik des 20. Jahrhunderts" und eine Gedichtsammlung von Kiki Dimoula vertreten. Beim Romiosini Verlag erscheint ein Sammlung mit Volksliedern. Das Übrige sind Neu- und Wiederauflagenauflagen der Nobelpreislyriker. Dennoch, das gesamte Angebot griechischer Gegenwartsliteratur in Deutschland kann sich sehen lassen. Griechenland präsentiert sich in seiner Literatur als ein mediterranes, vielgesichtiges Land, das aus seinem speziellen Blickwinkel an der Peripherie Europas zwischen Orient und Okzident und seiner historischen Erfahrung vom Aufstieg und Niedergang der Reiche, ein Bewusstsein vom Tragischen des Lebens bewahrt.