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Kästners "Fabian" unzensiert

Erich Kästners "Fabian" gilt als politischster deutscher Roman vor 1945. Bis heute ist der "Fabian" nur in der zensierten Form bekannt. Sven Hanuschek hat den Roman nun erstmals so herausgegeben, wie Kästner ihn geplant hatte. "Der Gang vor die Hunde", wie der "Fabian" eigentlich heißen sollte, ist eine lohnenswerte und überraschend aktuell wirkende Wiederentdeckung.

Von Oliver Pohlmann | 26.03.2014
    Undatiertes Bild des Schriftstellers Erich Kästner.
    Undatiertes Bild des Schriftstellers Erich Kästner. (dpa / picture-alliance)
    10. Mai 1933: Auf dem Berliner Opernplatz werfen die Nazis Bücher unliebsamer Autoren ins Feuer, darunter Werke von Sigmund Freud, Alfred Kerr oder Kurt Tucholsky. Und von Erich Kästner. Neben einigen pazifistischen Gedichten war es vor allem der Roman "Fabian", der Kästner für die Nazis zum Vertreter einer "dekadenten Asphaltliteratur" machte. Dennoch konnte der Erfolgsautor im Dritten Reich weiterarbeiten: Zwar hatte er offiziell Publikationsverbot und wurde von der Gestapo schikaniert. Doch durfte er die NS-Unterhaltungsindustrie mit harmlosen Filmdrehbüchern füttern und in ausländischen Verlagen publizieren.
    Die ursprüngliche Fassung war um einiges radikaler und anspruchsvoller
    Anders hätte es für ihn wohl ausgesehen, wäre der Fabian in seiner ursprünglichen Form veröffentlicht worden. Denn das, was unter diesem Titel 1931 in der "Deutschen Verlags-Anstalt" erschien, war nur die entschärfte Fassung. Der Roman, den Kästner dem Publikum eigentlich zumuten wollte, war um einiges radikaler und anspruchsvoller. Hätte sein besorgter Lektor Curt Weller von ihm nicht Kürzungen und Änderungen verlangt, hätte es Kästner in der NS-Zeit wohl schwerer gehabt, vermutet Sven Hanuschek. Dem Münchner Literaturwissenschaftler ist es zu verdanken, dass Kästners großer Zeit- und Sittenroman nun erstmals so gelesen werden kann, wie er vom Autor geplant war. Der Gang vor die Hunde – so der eigentlich vorgesehene Titel - werde das Bild Kästners in mancher Hinsicht verändern, prophezeit der Herausgeber. Rekonstruiert hat Hanuschek die "imaginäre Erstausgabe" des Romans auf der Grundlage eines im Marbacher Literaturarchiv befindlichen Typoskripts mit handschriftlichen Korrekturen Kästners:
    "Also zum einen ist es natürlich sehr viel expliziter, was jetzt Obszönitäten angeht sozusagen, was die Darstellung des sexuellen Bereichs angeht, die politische Kritik, die es auch gibt in einem gestrichenen Kapitel, ist ziemlich spannend, weil das jetzt keine parteipolitische Kritik ist, also die Richtung, der Kästner angehört oder vage angehört, konnte man dem nicht unbedingt entnehmen, sondern es ist einfach ‘ne unglaublich übermütige politische Kritik, die auch Spaß macht zu lesen. Also, ich denk‘, das sind so die wesentlichen Elemente inhaltlicher Art, und dann gibt‘s eben die stilistischen Aspekte, die ja auch bei Kästner nie so hoch gehängt wurden, das halte ich ja eben für falsch, also ich halte ihn eigentlich für einen großen Stilisten, der ganz anders an seinen Texten gefeilt hat, als man ihm das eigentlich zugebilligt hat, wenn man also andere Autoren der frühen Moderne ansieht, die ja nun viel stärker beforscht sind in der Germanistik als Kästner."
    Charakter manifestiert sich in seinen sexuellen Neigungen
    Die von Sven Hanuschek besorgte Edition ermöglicht es, die Unterschiede zwischen der Ausgabe von 1931 und der Urfassung im Detail nachzuvollziehen. Zwar ist der Weg, den Kästners zunehmend desillusionierter Protagonist Fabian durch das Berliner Nacht- und Sittenleben geht, weitgehend derselbe. Doch ist die Urfassung in der Tat um einiges konkreter und plastischer: Von Fabians "Sexualapparat", den eine vorsichtige Verkäuferin bei einem One-Night-Stand "wie ein alter Kassenarzt" im Lichte einer Taschenlampe begutachtet, bis zu einem "Gummiglied", dessen Verwendung der Held bei einer Lesbenshow beobachten kann. Gerade die stark gekürzte Bordellszene im vorletzten Kapitel zeigt, wie sehr die vermeintlichen Obszönitäten im Dienst der umfassenden Sitten- und Gesellschaftskritik Kästners stehen und wie wenig sie von der politischen Botschaft des Romans zu trennen sind: Ist doch der alte Schulfreund Wenzkat, der Fabian in jenes Etablissement schleppt, beim paramilitärischen Stahlhelmbund. Und sein autoritärer Charakter manifestiert sich gerade in seinen sexuellen Neigungen.
    "Tippfräuleins über den Schreibtisch zu legen" wurde gestrichen
    Kästners Lektor fand die ersten Kapitel so pessimistisch, dass er sie als "geradezu erkältend" bezeichnete. Das dritte Kapitel, in dem Fabian seinem Chef vorwirft, seine "Tippfräuleins über den Schreibtisch" zu legen, musste der Autor komplett streichen. Das hatte allerdings inhaltliche Folgen: Warum Fabian kurz darauf seinen Job als Werbetexter verliert und sich in das Heer der Arbeitslosen einreihen muss, wurde in der Ausgabe von 1931 nicht so recht klar. Der Vergleich zwischen der Erstausgabe und der Urfassung ermöglicht nun einen Blick in Kästners Werkstatt:
    "Es ist ja so, dass er eineinhalb komplette Kapitel streichen sollte und dafür ein neues Kapitel geschrieben hat und das hat natürlich relativ viele Konsequenzänderungen erzeugt, die ich jetzt nachvollzogen habe in dem Apparat hinten, und das heißt, der Fabian ist ein Episodenroman, das heißt, es geht so Stück für Stück, und man hat ihm auch zeitweise vorgeworfen, ja, die könnte man doch auch ganz anders anordnen, das hat ‘ne Beliebigkeit, der lässt sich im Grunde treiben von einer Episode zur anderen, und dieser Werkstattblick sozusagen, der zeigt, dass das schon noch dichter verknüpft ist, dass das keineswegs willkürlich ist, die sind nicht ohne Weiteres verschiebbar, diese Kapitel, und das kann man eben an seinen Konsequenzänderungen ganz gut verfolgen, was ihm da wichtig war, wo er was weglassen musste dann, was anderes eingefügt hat, damit das sozusagen in sich gestimmt hat wieder."
    Zwar hat Kästner das gestrichene Kapitel später selbst noch separat veröffentlicht, doch in der rekonstruierten Urfassung steht es nun endlich wieder an seinem dramaturgischen Platz. Dafür fehlt jetzt im Roman das berühmt gewordene Kapitel, in dem gewissenlose Zeitungsredakteure ihre leeren Seiten mit erfundenen Schlagzeilen füllen. Kästner hatte es als Ersatz für das gestrichene nachträglich eingefügt - es ist die einzige Stelle, wo die Rekonstruktion der Urfassung zu einem ästhetischen Verlust führt. Eindeutig auf der Habenseite der Urfassung steht dagegen die für die Ausgabe von 1931 ebenfalls zensierte Fahrt im "empörten Autobus" durch Berlin. Fabian und sein Freund Labude unternehmen sie in dem nun wiederhergestellten vierten Kapitel: Vor einem fassungslosen Publikum verspotten die beiden nationale Heiligtümer wie das Brandenburger Tor, wobei Labude den schwerhörigen Touristen mimt und Fabian einen höchst eigenwilligen Reiseführer:
    Kästner: Der Gang vor die Hunde] "Die Fahrgäste hockten versteinert. Man hatte den Eindruck, sie versäumten vor Empörung ihre Haltestellen. Der Autobus fuhr durchs Brandenburger Tor."
    "Wer wohnt denn hier?" fragte Labude und zeigte auf die verwitterten Säulen.
    "Das ist ein Verkehrsturm!"
    "Und die Pferdchen obendrauf?"
    "Ein Denkmal für die letzten Droschken"
    "Interessant, der Kutscher hat fast nichts an."
    "Das ist symbolisch zu verstehen", brüllte Fabian. "Wegen der Steuern."
    Ein ernster würdiger Herr mit Kneifer hustete und wurde blau. Eine dicke Dame rutschte auf ihrem Sitz hin und her, als werde sie geröstet, und sagte aufklärend zu Labude: "Das Brandenburger Tor."
    Er lächelte ihr zu und rief: "Verzeihung, gnädige Frau. Hat es sehr weh getan?"
    "Das Brandenburger Tor!" schrie die dicke Dame, und Tränen füllten ihre Augen.
    Überraschende Aktualität des Romans
    Der Vergleich zwischen der Ausgabe von 1931 und der Urfassung zeigt: Die vom Verlag geforderten Kürzungen und Änderungen haben die satirischen Intentionen von Kästners Roman eher verunklart. Mehr als 80 Jahre nach der Erstausgabe ist das Werk nun von seinen Entstellungen und Entschärfungen befreit. Und beeindruckt bei seiner Wiederentdeckung durch die Souveränität seiner ästhetischen Mittel wie die feinen Differenzierungen Kästners in den wörtlichen Reden der Figuren. Verblüffend ist aber auch die überraschende Aktualität des Romans: So erinnern Labudes Hoffnungen auf eine anti-kapitalistisch gesonnene Jugend Europas an die heutige Occupy-Bewegung. Die von Fabian formulierten Ängste seiner Generation vor einer Familiengründung angesichts unsicherer Arbeitsverhältnisse könnten von einem Mittdreißiger unserer Tage stammen. Nicht zuletzt hat Erich Kästner mit seinem Gang vor die Hunde die viel diskutierten Thesen über den "Warencharakter" der Liebe im Kapitalismus der Soziologin Eva Illouz vorweggenommen: In der Welt seines Romans muss sich jeder, der vorwärtskommen will, prostituieren – und stets damit rechnen, von seinem Partner für einen verheißungsvolleren Ersatz stehengelassen zu werden "wie ein Schirm".
    Erich Kästner: "Der Gang vor die Hunde". Herausgegeben von Sven Hanuschek.
    Atrium Verlag, 320 Seiten, 22,95 Euro.